Hinter Raptures Kulissen: Was BioShock beabsichtigt

Von Pascal Wagner am
Kommentiert von: Fimoe, Pascal Wagner, Pascal, Jominathor, Lenny
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Über BioShock müsste eigentlich schon alles geschrieben worden sein. In den zehn Jahren seit Erscheinen wurden diverse Artikel darüber verfasst, warum es wahlweise ein sehr gutes oder ein ziemlich schlechtes Videospiel zu sein habe.

Clint Hocking erfand mit dem Begriff der Ludonarrativen Dissonanz ein ganzes Konzept anhand von BioShocks durchwühlbaren Mülleimern und halboffenen Abschnitten. Einiges vom hier Geschriebenen wird so auch schon irgendwo anders stehen, ist mir jedoch zumindest in der deutschen Bloglandschaft noch nicht untergekommen. Daher lohnt es sich, diese Punkte erneut zusammenzutragen und zu erläutern, warum BioShock mehr ist als als der eine Moment, an den sich alle erinnern.

Dennoch: über BioShock zu reden ohne den Moment des Twists zu thematisieren wäre entweder unmöglich oder sinnlos. Wenig überraschend enthält dieser Text eine Menge Spoiler. Ihr hiermit seid gewarnt.

Werbetafeln und freier Markt: Raptures objektivistische, fehlgeschlagene Gesellschaft ist die ultimative Perversion von Ayn Rands Utopia.
Werbetafeln und freier Markt: Raptures objektivistische, fehlgeschlagene Gesellschaft ist die ultimative Perversion von Ayn Rands Utopia.

BioShock spielt mit dem Spieler. In ihrer simpelsten Form könnte man diese Aussage so stehen lassen. Dabei gibt es sich Mühe, die nicht immer auf den ersten oder zweiten Blick ersichtlich wird; Mühe, die es sich lohnt, aufzudecken.

Der große Twist in der Mitte des Spiels funktioniert gut, weil er sorgfältig aufgebaut wird. Ein Großteil nicht nur des Spiels selbst, sondern auch des Aufbaus zum Spiel hin ist darauf ausgelegt, ganz bestimmte Verhaltensmuster in Spielern zu wecken und entsprechende Reaktionen zu erwarten. Der Spieler wird in eine Gedankenfalle gelockt, aus der ihn der Moment der Offenbarung plötzlich herausreißt. Besagter Lockvorgang funktioniert im Wesentlichen über zwei Arme, die hier beide im Detail erkundet werdet sollen: Charakterbindung und Genrekonventionen. Beginnen wir damit, ersteres aufzurollen.

Involvierung durch Charakterbindung

Der Avatar in BioShock ist ganz bewusst auf eine bestimmte Gruppe an Menschen innerhalb der Spielerschaft zugeschneidert. Er ist weiß, männlich und Amerikaner, dazu Rechtshänder. Sein Name lautet Jack, eine innerhalb der englischsprachigen Welt sehr weit verbreitete Kurzform, die sowohl männlich als auch weiblich sein kann. Kurzum: Er ist Teil einer sozialen Gruppe, die nach gängiger Auffassung einen großen Teil der Spieler ausmacht, die sich von ‘Spielen wie BioShock’ angesprochen fühlen. Spieler – eben im Sinne von ‘die meisten’ – sollen sich in den Protagonisten hinein versetzen können.

Dazu kommt, dass Jack bis auf einen einzigen Satz im Intro des Spiels kein Wort verliert – der berühmte Silent Protagonist-Tropus ist bis heute ein beliebtes, wenn auch umstrittenes Mittel, um Spielern die Identifikation mit dem Avatar einfacher zu machen. Ob Geschlecht, Ethnie und andere Merkmale des Avatars vom Entwickler so festgelegt, oder von der Marketingabteilung des Publishers eingebracht wurden, wissen wir nicht. Hinweis darauf, dass letzteres zumindest der Fall sein könnte, gibt eine simple Beobachtung im Spiel: Keines der Merkmale Jacks hat irgendeinen Einfluss auf die Geschichte. Sie – genau wie der Twist – würde exakt so weiter funktionieren, würde man Jack gegen eine Frau, einen Mann japanischer Abstammung oder einen dunkelhäutigen Linkshänder austauschen. Kontrastiert wird das vor allem durch den dritten Teil der Serie, BioShock Infinite, in dem der Avatar Booker DeWitt sich als white male protagonist innerhalb einer Welt voller Rassismus bewegt. Hier würde eine weibliche, dunkelhäutige Mrs. DeWitt andere Reaktionen von ihrer Umwelt bekommen müssen – in Rapture dagegen würde ein*e Jack jeglicher Ausrichtung gleich empfangen.

Als möglichst leere Leinwand, die dem Großteil der Spielerschaft möglichst nahe steht, soll Jack den Spieler also so direkt wie möglich zum eigentlichen Protagonisten machen, die Trennung durch die undurchdringliche Wand des Bildschirms so unspürbar wie möglich machen. Psychologen sprechen von Embodiment, Verkörperung, wenn außerkörperliche Wahrnehmungen wie Teile unserer selbst wahrgenommen werden und wir entsprechend darauf reagieren, etwa durch Zurückzucken, wenn der Protagonist einen Schlag erleidet, dem wir physisch logischerweise gar nicht ausweichen können. BioShock geht so weit, dieses Embodiment erzwingen zu wollen, indem es bereits zu Anfang simuliert, verkörpert zu sein: Steigt Jack aus dem Wasser, so bilden sich auf dem Bildschirm Wassertropfen, die langsam abperlen und verdunsten. Dieses Mittel wird oft eingesetzt, um zu simulieren, dass sich die Kamera, durch die der Spieler ins Geschehen blickt, im Auge des Protagonisten befindet – er im nächsten logischen Schritt also der Protagonist ist.

Denkt man einmal darüber nach, versteht man schnell, wie seltsam das anmutet – wird das echte eigene Auge nass, sieht das ganz sicher nicht so aus wie Tropfen auf der Linse. Es mutet viel mehr noch eher nach Kamera oder gar Glasauge an. Trotzdem; vielleicht durch Konditionierung über Filme und andere Videospiele fühlen wir uns von diesen Effekten oft stärker involviert als ohne sie. Die Botschaft „Du steckst jetzt im Körper dieses Avatars“ ist eine emotionale, keine rationale, und emotionale Nachrichten werden von unserem Gehirn deutlich schneller verarbeitet und weniger kritisch durchleuchtet. Bis zum zweiten Nachdenken, bis zum Glasaugen-Gedanke kommen wir gar nicht, bevor die Involvierung einsetzt.

Abperlende Tropfen auf der Kameralinse sollen der Involvierung des Spielers dienen.Tatsächlich sollten sie aber eher mit der Identifikation des Spielers mit dem Avatar brechen.
Abperlende Tropfen auf der Kameralinse sollen der Involvierung des Spielers dienen.Tatsächlich sollten sie aber eher mit der Identifikation des Spielers mit dem Avatar brechen.

Auch beim wichtigsten Charakter im Spiel, den der Spieler nicht selbst steuert, legt BioShock viel wert auf Bindung an den Spieler. Atlas, der Jack über die gesamte erste Hälfte des Spiels per Radio begleitet und der schlussendlich den Endgegner darstellt, wird für den Spieler in ein besonderes Vertrauensverhältnis gerückt. Anthony Burch erläutert in seinem Rev Rant zu Character Empathy, wie sich besondere Beziehungen zu Nichtspielercharakteren ebenso wie zu Avataren nur dann aufbauen, wenn ein gewisser Common Ground besteht.

In den meisten Fällen sollte diese gemeinsame Ebene zwischen Spieler und relevanter Figur leer sein, sprich: Der Spieler sollte die Figur zum gleichen Zeitpunkt und auf die gleiche Weise kennenlernen wie der Avatar die Figur oder die Welt den Avatar. Selten lässt sich eine bestehende Beziehung einem Spieler vermitteln, der in medias res einsteigt und dann auf Basis von besagter Beziehung Aufgaben erledigen soll, die ihm überhaupt nichts bedeuten. Das von Burch als Beispiel geführte InFamous ist auch in meinen Augen ein Paradebeispiel für ein solches misslungene Avatar-Sidekick-Verhältnis.

Als Jack Rapture zum (scheinbar) ersten Mal betritt, wird er von dem ihm unbekannten Atlas über Funk kontaktiert. Der erste Kontakt des Spielers mit Atlas ist also derselbe wie von Jack. Alles vertrauenswürdige, was Atlas für Jack tut, tut er damit auch für den Spieler. Und da die erste Handlung Atlas‘ Jack gegenüber eine Rettungsaktion darstellt, ist das Grundvertrauen gegeben. Es erscheint also logisch – sowohl aus der Motivation des Avatars als auch aus der Analyse des Spielers heraus – der Stimme aus dem Radio, die uns offenbar wohlgesonnen ist und sich in Rapture auskennt, zu folgen. Seine Ratschläge ergeben ja auch Sinn; schließlich wollen wir ja aus der beklemmenden Tauchkapsel aussteigen und uns eine Waffe suchen, sowohl aus emotionaler Beklemmung heraus, unbewaffnet in der Dunkelheit zu stehen, als auch um das Spiel voran zu bringen. Und schon an diesem Punkt beginnt BioShock, fließend überzugehen vom cleveren Umgang mit den Charakteren hin zur zweiten Art der Manipulation am Spieler: Zum Ausnutzen von Genrekonventionen. Denn warum eigentlich können wir uns nicht umdrehen und die Tauchkugel zurück an die Oberfläche nehmen?

Genrekonventionen: Erwartungen nehmen den Spieler auf den Arm

Im vorherigen Abschnitt habe ich von ‘Spielen wie BioShock’ gesprochen. Was für Spiele? First Person Shooter selbstverständlich.

Wer BioShock kennt, der mag nun eine Augenbraue heben. BioShock besteht zwar zu einem gehören Teil aus Kampf, der nicht unwesentlich mit Schusswaffen ausgetragen wird, und es wird auch aus der First Person-Perspektive gespielt. Ein FPS ist es dennoch wohl eher im weitesten Sinne aufgrund seiner weiteren Systeme, seiner Schleichmechaniken und einiger Dinge, auf die ich später noch zurückkomme.

Das Spiel selbst sagt es dennoch ganz klar so, schon nach dem Tastendruck auf den Neues Spiel-Button: Die einzelnen Schwierigkeitsgrade werden bemessen nach dem Geschick in First Person Shootern, das sich der Spieler selbst zutraut.

Das Menü definiert Spielerfahrung mit Shootererfahrung. So führt BioShock den Spieler von Anfang an auf eine bestimmte Fährte.
Das Menü definiert Spielerfahrung mit Shootererfahrung. So führt BioShock den Spieler von Anfang an auf eine bestimmte Fährte.

Das mag subtil sein, beinahe nichtig klingen, aber schon hier verorten wir das Spiel beim ersten Durchgang in einer Schublade und passen uns deren uns bekannten Gegebenheiten an. Shooter, also: Schießen, töten, der (meist linearen) Geschichte folgen, die eigentlich nur aus Ausrede dient, mehr schießen zu dürfen. Das ist natürlich eine übertriebene Darstellung, aber sie dient zur einfachen Darstellung des Kniffs, den BioShock mit der Psyche des von Entwickler oder Publisher erwarteten Durchschnittspublikums versucht. Eines Durchschnittsspielers, der wie oben erwähnt angeblich weiß, männlich und sehr shooteraffin ist.

Mit diesem Mindset ist es nicht schwer zu verstehen, warum wir BioShock spielen, wie es gespielt werden will. Warum schwimmt Jack nach seinem Flugzeugabsturz auf den Leuchtturm zu? Logisch, weil er nicht ertrinken will. Warum lassen wir Jack schwimmen? Wir merken schnell, dass er gar nicht ertrinken kann, und selbst wenn, würde es uns ja nicht weh tun. Aber wir wollen das Spiel spielen, also lassen wir uns darauf ein, was es von uns zu wollen scheint.

Ebenso verhält es sich mit Atlas‘ Vorschlägen. Natürlich folgen wir dem Ratschlag, uns eine Waffe zu besorgen; dafür spielen wir das Spiel schließlich. Natürlich ergibt es Sinn für uns, was Atlas sagt, wenn er uns die Welt von Rapture erklärt – wir wollen ja verstehen, wie wir das System ausnutzen können, um stärker zu werden. Auch, dass er Jack dazu rät, die Little Sisters zu ernten statt sie zu retten, stört uns nicht – Der Gedanke dahinter, nämlich den Vorteil für den Spieler zu maximieren, leuchtet uns vollkommen ein. Es wäre seltsam, all das zu hinterfragen, genauso seltsam, wie in Call of Duty darüber zu grübeln, warum man überhaupt auf die Gegner schießen sollte. Fortschritt, Aufwertung und der Genuss der Spielmechaniken sind der reine Sinn unserer Spieltätigkeit, also tun wir all das mit Freude.

Dabei entgehen vielen Spielern die subtilen Hinweise, die BioShock darauf bietet, kein Standard-FPS zu sein. Warum Jack nicht redet, ist den meisten Spielern sicher egal; fällt ihnen dabei aber auch auf, dass er gar nicht mit Atlas reden kann, weil die Funkverbindung über ein Radio funktioniert, er also gar nicht antworten könnte? Vermutlich nicht. Manch einen Spieler mag es stören, dass die erste Waffe (und die einzige, die man theoretisch im gesamten Spiel benutzen muss) keine Schusswaffe ist, sondern ein Knüppel, noch dazu ein improvisierter. Doch wie viele Spieler werden diesen Hinweis verstehen, zumal nur zwei Räume weiter die erste Pistole in ihrem Kinderwagen für den Spieler bereit liegt?

Auch einige Spielmechaniken könnten als Hinweis darauf dienen, dass von BioShock mehr zu erwarten ist als von einer linearen Shootergeschichte. Die Welt ist relativ offen, einzelne Bereiche können in beliebiger Reihenfolge erkundet und für Belohnungen durchsucht werden; das enthaltene Rollenspielsystem, das in ein rudimentäres Schleichsystem einfließt, zeugt ebenfalls von höheren Ambitionen. Am interessantesten sind wohl die Plasmide, die Jack in der linken Hand trägt und wie die Zaubersprüche eines Fantasierollenspiels benutzt. Die durch Genmanipulation erklärten Plasmide brechen die Shooter-Illusion wohl am meisten und untermauern sie gleichzeitig durch die durch sie möglichen taktischen Optionen im Kampf. Manch Kritiker hat die ineinander gewürfelten Systeme, die BioShock dem Spieler serviert, als unausgegoren und wenig sinnvoll abgetan. Aufgrund der Beobachtungen in diesem Text behaupte ich jedoch, dass sie einen hervorragenden Job dabei machen, die narrative Intention des Spiels im Gameplay zu verschleiern und den Spielern gleichzeitig die Chance zu geben, sie aufzudecken. Ob das von Anfang an so geplant war oder ob Entwickler Irrational Games lieber ein perfekt auf seine einzelnen Teile eingestimmtes Taktiksystem gebaut hätte, ist im Sinne der Wirkung des Endprodukts schon beinahe uninteressant.

Das große Ganze: Woher kommt BioShocks Geschichte und wo will sie hin?

Über den großen Storytwist in der Mitte von BioShocks Erzählung muss ich Lesern dieses Textes wohl keine große Zusammenfassung mehr liefern. Jack, der von Anfang an unter der Gedankenkontrolle des als Atlas getarnten Frank Fontaine stand, wurde entsprechend zu allen Aktionen gezwungen, ohne es zu merken – und damit auch der Spieler. Was wir als Genrekonvention achselzuckend abgetan haben, stellt sich als bewusster Schlag gegen unser eigenes Spielverhalten heraus. BioShock kritisiert also das blinde Folgen von Befehlen, indem es dem Spieler vor Augen führt, dass der Protagonist nur ein willenloser Sklave ist. “A man chooses, a slave obeys” skandiert Andrew Ryan in seinem letzten Atemzug. Über die Charakterbindung – sofern sie funktioniert – fühlt sich der Spieler darüber direkt angegriffen. Der große Twist ist ein Appell, mit offenen Augen an Spiele heranzugehen und solche zu identifizieren, die sich wirklich nur auf den Konventionen ihrer Vorgänger ausruhen.

Aber natürlich ist der Moment, in dem sich Jacks Geschichte auf links dreht nicht alles, was BioShock sich vornimmt und zu bieten hat. Denn das dystopische Unterwassersetting Raptures ist nicht nur Bühne für die Kritik an der Spielerkultur, sondern selbst Gesellschaftskritik.

Ayn Rands ideologischer Roman Atlas Shrugged ist die Basis für alle Verzerrungen, die BioShock seiner Welt abringt.
Ayn Rands ideologischer Roman Atlas Shrugged ist die Basis für alle Verzerrungen, die BioShock seiner Welt abringt.

Dafür ist es wichtig zu wissen, die literarische Vorlage für BioShock zu kennen. Denn das Spiel ist kein alleinstehendes Machwerk, sondern im Gegenteil eine sehr direkte Antwort auf ein anderes Werk: Atlas Shrugged von Ayn Rand. Der Roman aus den Fünfzigern dient als Rands Manifest zum Objektivismus, einer Ausstrahlung des Kapitalismus, in dem der Egoismus treibende Kraft und der Markt vollkommen ungeregelt sein soll. Laut Rand geht es allen gut, wenn jeder an sich selbst denkt. Der Markt profitiert angeblich vom Egoismus der Teilnehmer, indem der Profitwille von Unternehmern Stellen für Arbeitnehmer bildet und Aufsstiegschancen eröffnet.

Dieser Auswuchs des ökonomischen Idealismus mag uns wie eine überspitzte Perversion des Kapitalismus vorkommen, in den Vereinigten Staaten von Amerika jedoch wird auf diese Perspektive jedoch auch noch heute große Stücke gehalten. Atlas Shrugged ist beliebte Schullektüre innerhalb den U.S.A., und andere Bücher Rands sollen nach Aussage der Beteiligten die Regierung um Donald Trump auch noch heute ganz wesentlich beeinflussen. Der Individualismus wird von Rand zur höchsten und einzigen Religion erhoben – und damit der Altruismus aus dem Idealbild der Wirtschaft komplett verbannt. In ihren Büchern funktioniert dieses System; Protagonisten wie Howard Roark in Der Ewige Quell und Dagny Taggart aus Atlas Shrugged profitieren davon, und auch ihre Umwelt scheint nicht darunter zu leiden, sofern sie demselben Prinzip folgt. Eine Ansicht, die sich U.S.-Amerika seit der Begründung des amerikanischen Traums zu Herzen nimmt, lange bevor Ayn Rand sie in literarische Form goss. Kritik an diesem Grundpfeiler des amerikanischen Traum trifft also besonders Nordamerikaner hart. BioShocks Zielpublikum ist also nicht nur weiß und männlich, sondern im Idealfall auch noch U.S.-Bürger.

Die Parallelen zwischen Atlas Shrugged und BioShock sind schwer zu übersehen: Atlas, der im Titel und auf dem Cover von Ayn Rands Buch die Welt auf den Schultern trägt, führt in BioShock den gesamten Plot nach seiner eigenen Choreographie. Andrew Ryan, der idealistische Gründer Raptures und Anhänger eines absolut unkontrollierten Kapitalismus, besteht namentlich aus einem Anagram der Romanautorin – Andrew Ryan, Ayn Rand – und teilt sogar ihren Lebensweg als russische Auswanderin. Raptures Ökonomie ist eine exakte Kopie von Ayn Rands gepredigtem Objektivismus: Keine Regulationen, keine Sanktionen, ein wahrhaft freier Markt. Viel interessanter wird es jedoch da, wo die Parallelen aufhören und die Gegensätze beginnen. Denn anders als Atlas Shrugged ist BioShock eben keine Utopie, sondern eine vernichtend gescheiterte Dystopie.

In Rapture nahmen sich die Mächtigen Rands System zu Herzen: Sowohl Andrew Ryan als auch Frank Fontaine (neben einigen auf der Strecke gebliebenen, aber zuvor halbwegs erfolgreichen Kontrahenten wie Augustus Sinclair) orientierten sich in ihrem Handeln am Markt einzig und allein an ihrem eigenen Vorteil. Dabei brechen sie jedoch sämtliche Anforderungen des freien Marktes: Ryan verbietet jeden Kontakt zur Außenwelt, Fontaine schmuggelt, Ryan sanktioniert daraufhin. Allein das Vorgeplänkel von Raptures großem Zusammenbruch ist eine Perversion der Perversion, die jedoch von sich selbst zusammengehalten wird: Schließlich bleiben beide Kontrahenten immer in ihrem eigenen besten Interesse, und zwar zu jedem Preis. Protagonist Jack selbst ist eine Ausgeburt dieses Systems und dennoch ein Störkörper: als Werkzeug Fontaines erschaffen kann er unter Gedankenkontrolle niemals für sich selbst handeln, sondern immer nur unter ihm aufgezwungenem Altruismus.

Doch widerspricht das nicht den moralischen Entscheidungen hinsichtlich der Little Sisters? Ja! Und zwar in mehr als einer Hinsicht und mit völliger Absicht. Zur Erinnerung: Jack kann die Little Sisters entweder ernten (auf Empfehlung Atlas‘ hin, weil dies Jack angeblich deutlich stärkt) oder retten (auf Bitten Brigid Tenenbaums hin, mit dem Versprechen, es ihm irgendwie zu vergelten). Die offensichtliche egoistische Wahl in diesen Momenten ist also, die Sisters zu ernten und die zusätzlichen Ressourcen einzusammeln. Das Retten wird mit sinnlosen Altruismus gleichgestellt, der höchstens aus den Moralvorstellungen des Spielers, nicht jedoch aus der Rationalität der Spielwelt heraus begründet werden kann.

Verfolgt man beide Möglichkeiten bis zum Ende, wird jedoch schnell ersichtlich, dass es sich hierbei um eine bewusste Finte handelt. In reinen Ressourcen bringt das Retten nur unwesentlich weniger Ertrag als das Ernten. Zusätzlich zu den Ressourcen liefert Retten jedoch Geschenke Tenenbaums, in denen sich neben zusätzlichen Belohnungen das stärkste Plasmid des Spiels befindet, das anders nicht verfügbar ist – die Fähigkeit, Big Daddys zu Marionetten zu machen. Die Little Sisters aus Egoismus zu ernten schadet also Jack selbst – ein klarer Schlag gegen Rands System. Gleichzeitig dreht die Belohnung für das Retten Jacks Situation auf den Kopf – statt selbst an den Fäden zu hängen, macht der Altruismus ihn zum Puppenspieler. In Rapture versagt der Objektivismus durch und durch – und Andrew Ryan als Verkörperung der Autorin wird als so fanatisch dem System verfallen porträtiert, dass er selbst lieber stirbt, um eine Aussage zu treffen, als sich daraus zu befreien.

Rettet man die Little Sisters, anstatt sie zu ernten, erhält man Zugriff auf das mächtigste Plasmid des Spiels: Die Fähigkeit, einen Big Daddy zu kontrollieren.
Rettet man die Little Sisters, anstatt sie zu ernten, erhält man Zugriff auf das mächtigste Plasmid des Spiels: Die Fähigkeit, einen Big Daddy zu kontrollieren.

BioShock führt also mehrere Gesellschaftskritiken zusammen. Ob und wie gut sie für den Einzelnen funktionieren, hängt wohl ebenso mit der sozialen Umgebung zusammen, aus der er stammt, wie mit persönlichen Präferenzen. Doch allein der Versuch der Durchdringung und Zerschlagung dieses absurden Ökonomiesystems zeigt seine Relevanz über zehn Jahre später in einer Zeit, in der genau dieses System erneut an der Spitze der U.S.A. steht.

Über diesen Text

Dieser Text entstand aus einem Game Studies-Seminar im Sommersemester 2017 an der Ludwig-Maximilians-Universität München heraus. Den Teilnehmern, Dozenten und Gastrednern sei hiermit herzlich für die Zusammenarbeit gedankt. Der Text erscheint hier als Gastartikel in Zusammenarbeit mit dem Linguistik & Game Studies-Blog Language at Play.


Veröffentlicht in: Spielebesprechungen
Tobi

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Kommentare (8)

    1. Hallo Fimoe,

      als Anglist hatte ich tatsächlich das zweifelhafte Vergnügen, Atlas Shrugged in Gänze zu lesen und mich in einem interdisziplinären Kolloquium zu BioShock kritisch damit zu befassen, ja.

      1. Sehr geehrter Herr Wagner,
        da sich mir die Chance bot die gesamte Bioshock Collection günstig zubekommen, habe ich jetzt den ersten Teil nochmals durchgespielt – ist wohl der einzige EgoShooter den ich bisher wirklich gespielt habe.

        Mit Blick auf ihre Interpretation würde ich Ihnen zustimmen, was das reinen befolgen von Befehlen angeht und der im Spiel klug untergebrachten Kritik daran.
        Was den Bezug zu Ayn Rand angeht – denn kann man so herstellen, doch könnte man dies auch ganz anders interpretieren.
        Zuerst würde ich Ihnen nicht zustimmen wenn Sie Ayn Rands Objektivismus mit dem gleichsetzten was Arnacho-Libertäre, wie Murry Rothbard oder Hoppe, wollen. Eher ist Ayn Rands Philosophie im Bereich der Österreichischen Schule der Nationalökonomie (Menger, Mises, Hayak) zusehen. Es wird ein auf seine rudimentären Funktionen beschränkter Gewaltmonopolist angestrebt (Ja, das ist der von Lassalle verächtlich gemachte Nachtwächterstaat) und dies aus gutem Grund, denn es spielt keine Rolle ob der Gewaltmonopolinhaber Andrew Rayn oder Frank Fontaine heißt – sobald diese Gewaltmonopol vorhanden ist, wird es irgendwann missbraucht und Staaten sind da keine Ausnahme! (Fragen Sie sich einfach wer war für die größten Verbrechen in der Geschichte der letzten Jahrhunderte verantwortlich? Private Organisationen oder Staaten?) Die Probleme beginnen immer, wenn eine Institution oder Person der Letztentscheiter in allen Konfliktfällen ist, auch bei Konfliktfällen in die diese Person oder Institution selbst verwickelt ist.
        Ebenso deute ich Ayn Rands Aussagen über den Alturismus und ihre eindeutige Kritik daran eher so, dass Alturismus eben nichts aufgezwungenes sein kann, schon gar nicht von staatlicher Seite, sondern ausschließlich eine freie Entscheidung – genau das ist im Spiel, mit Bezug zu den Little Sisters, gegeben. Das ist wie erzwungene Solidarität, jemanden unter Androhung von Gewalt zu etwas zu zwingen, was dieser nicht möchte, um damit einem anderen zu helfen, ist schon einen sehr verquere Logik – aber sobald dies einen “neutrale” Insitution tut (nennen wir sie Staat) ist das plötzlich etwas ganz tolles…

        So kann man das ganze Spiel auch so Interpretieren – mögen die Wünsche und Vorstellungen welche zur Gründung Raptures geführt haben und die Regeln auf denen es aufgebaut wurde noch so Gut gewesen sein, sobald Irgendwer das Gewaltmonopol an sich reist, wird auch ein noch so Gut erdachtes System über kurz oder lang ausgehöhlt und scheitern.

        Beste Grüße

        André Eymann
  1. Sehr interessanter Text 🙂 Die Verbindung zu Ayn Rands Werk war mir zwar grob bewusst, dennoch hatte ich mich selbst nie wirklich im Detail mit ihrem Objektivismus beschäftigt. Mir fällt es aber zugegebenermaßen deutlich schwerer, Bioshock 1 in all seinen Facetten einen solchen Klassikerstatus zuzuschreiben, wie er hier im Text angedeutet wird. Das “auf eine Fährte locken” mit dem augenscheinlichen Beharren auf konventionellen Spielmechaniken um die wahren Absichten zu verschleiern mag stellenweise wahr sein, dennoch muss man vielleicht hinterfragen, was die tatsächlichen Gründe für den starken Shooter-Fokus sind. Sicherlich haben marktwirtschaftliche Entscheidungen da einen nicht zu vernachlässigenden Anteil daran gehabt.

    Ich muss auch sagen, dass ich mit dem eigentlichen Gameplay von Bioshock 1 nie wirklich warm geworden bin. Eine andere Lösung der Konflikte, was die Spielmechaniken angeht, oder eine deutlich reduzierte Spielzeit hätten dem Titel meiner Meinung alles andere als geschadet.

    1. Bei der Spielzeit hast du definitiv recht. Nach dem Moment des Twists nimmt das Spiel stark an Qualität ab, und da das nach ca. 60% des Spiels passiert, hätte man gut und gerne 5 Stunden weniger gebraucht, um mit einem prägnanten Punkt zu Enden und das eigene Konzept nicht überzustrapazieren.
      Klassiker, Kult, Kanon – halte ich grundsätzlich sowieso für Quatsch, egal ob bei Filmen, Spielen oder Büchern. Unbestreitbar ist aber, dass BioShock einen großen Einfluss auf gewisse Spielearten hatte, und dass es eines der früheren und vielleicht sogar das bekannteste Spiel ist, das als Forschungsobjekt eine größere Öffentlichkeit erreicht hat (Den Begriff der ludonarrativen Dissonanz kennt heutzutage ja fast jeder). Bei mir selbst hat die Story damals sehr gut funktioniert, und auch das Spielkonzept mag ich bis heute sehr gerne – auch weitergedacht in Dishonored und Prey, die ja in unterschiedlichen Zügen Anleihen von BioShock haben.
      Sicher hast du aber auch recht, dass nicht nur die generische Darstellung von Jack auch Marketingclou sein könnte, sondern auch das Shootergehabe. BioShock macht eine Menge Fehler in der (fehlenden) Verzahnung seiner viel zu vielen Systeme, da hätte eine feste künstlerische Vision ohne Einfluss des Publishers vielleicht mehr rausholen können. Ich gehöre dennoch zu den Leuten, die behaupten, das Endprodukt funktioniert im großen und ganzen sehr gut. Außerdem, wenn man Spiele untersucht muss man gezwungenermaßen an irgendeinem Punkt aufhören zu denken “Aber das wurde doch sicher nur fürs Geld gemacht”, sonst bleibt das Papier nämlich leer. 🙂

      1. Ich stimme dir vollkommen zu, Bioshock war auf jeden Fall absolut prägend für unsere heutige Spielekultur 🙂 Das herumspielen mit den Plasmiden war auch eine willkommene Abwechslung im Shootergenre, allerdings muss ich sagen, dass ich das Kämpfen in Bioshock 2 ein ganzes Stück positiver in Erinnerung habe, als das in Bioshock 1. Und ja, dass man solche am Markt orientierten Designentscheidungen bei der Analyse ausblenden sollte, ist natürlich auch wieder wahr^^ Nur hab ich bei den Bioshock-Titeln immer wieder das Gefühl gehabt, dass gewisse, durchschnittlich gute Spielmechaniken der überdurchschnittlich guten Atmosphäre und Geschichte im Weg stehen und diese damit ein wenig dämpfen. Bei Infinite hatte ich diesen Eindruck ganz extrem.

        Darum bin ich bin echt gespannt, wie Ken Levine’s nächstes Spiel, an dem ja scheinbar ein viel kleineres Team sitzt, aussehen wird. Ich glaube dieser gewisse Indieflair, der dadurch entstehen könnte, wird seinen Spielen gut tun.

        1. BioShock 2 hat das Gameplay noch einmal stark verbessert, absolut. Sowohl technisch – jetzt beständig sowohl Waffe als auch Plasmid verfügbar zu haben und nicht immer wechseln zu müssen war großartig – als auch erzählerisch. Es machte einfach viel mehr Sinn, als Big Daddy ein solches Ass im Kampf zu sein, als der generische Jack! Geschichte und Atmosphäre haben leider nicht mehr so viel Eindruck hinterlassen wie noch im ersten Teil, aber ich liebe beide Teile für unterschiedliche Dinge, weswegen ich sie auch beide sehr gut heute noch spielen kann.
          Bei Infinite kann ich dir nur absolut recht geben. Da hat mir als Time Travel-Nerd die Geschichte zwar unglaublich gut gefallen, spielen könnte ich das heute aber nicht mehr so recht…

          Auf das neue Spiel bin ich auch gespannt, vor allem habe ich aber Lust auf System Shock 3. Ich habe zwar die Vorgänger nie durchgespielt, mir die System Shock Enhanced Edition aber noch fest vorgenommen.

  2. Bioshock war und ist für mich in erster Linie ein Spiel was durch seine Welt zu überzeugen weiß und weniger durch die Story an sich. Die es, meiner Meinung nach, auch in einem anderen Setting geben kann. Und dieser Text liefert mir dafür eigentlich eine Bestätigung. Denn die Information auf welchen Hintergründen und Ideen dieses Spiel baut, füttern die Welt noch weiter.
    Wenn ich jedoch die Geschichte um Jack, Atlas, Little-Sisters, Big Daddys usw. an und für sich nehme, hat diese bei mir nicht unbedingt funktioniert. Ich kann dafür keine genauen Gründe nennen. Vielleicht liegt es daran, dass Jack, grob zusammengefasst, ein Klischee ist. Was ja offensichtlich ein beabsichtiges Mittel war. Und wie schon erwähnt im Text, liegt es auch an jedem Individuell ob die Absichten des Entwicklers für einen Greifen oder nicht.