“Das SEGA Mega Drive war mit Abstand der größte Erfolg” – Interview mit Winrich Derlien

Von André Eymann am
Kommentiert von: André Eymann, Roman Werner, David Lightman, Oliver
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Wir freuen uns, euch heute einen weiteren Namen der deutschen Videospielgeschichte präsentieren zu können. Winrich Derlien gründete 1985 die erste deutsche Niederlassung des legendären Spielepublishers Activision und hat die goldene Ära der Videospiele maßgeblich mitgeprägt.

Auch die große Zeit der SEGA-Konsolen geht auf sein Konto. Von den Anfängen des Sega Master System 1987 bis zur Sega Mega-CD 1994. Wir haben Winrich Derlien zu einem gemeinsamen Interview überredet, das euch faszinierende Einblicke in die Frühzeit der deutschen Videospielgeschichte gewährt.

Interview

Das Interview wurde am 2. August 2006 geführt

Herr Derlien, Sie waren von 1978 bis Ende 1984 Marketingleiter des Bereiches Bild- und Tonträger im Hamburger Verlagshaus Gruner & Jahr. Wie kamen Sie in dieser Position ausgerechnet mit dem Thema Computer- und Videospiele in Berührung?

Während dieser Zeit wurden Homecomputer populär, die mich sehr faszinierten. Und irgendwie fand ich es reizvoll, dem Bereich Bild- und Tonträger einen neuen Geschäftszweig hinzuzufügen. Diese Idee habe ich dem damaligen Vorstand präsentiert.

Die Herren schauten mich eher mitleidig bis gelangweilt an, gaben mir jedoch die Freigabe des entsprechenden Budgets. Wohl nach dem Motto: „Lasst den Spinner mal machen“. Da unsere Bertelsmann-Konzernschwester Ariola bereits im Spielebereich tätig war, haben wir das Feld Anwendungssoftware, Tools und Programmier-Lernsoftware in den Vordergrund gestellt.

Ziel war es nicht, eigene Software zu entwickeln. Dazu fehlte das Know-how. Deshalb haben wir Kooperationen mit den Zeitschriften CHIP und MC sowie der Software-Firma SM geschlossen und die ersten Produkte 1983 in den Handel gebracht.

Berühmte Spieletitel aus dem Ariola-Vertrieb: Lode Runner, Zaxxon und River Raid. (Bild: Markt & Technik Verlag)
Berühmte Spieletitel aus dem Ariola-Vertrieb: Lode Runner, Zaxxon und River Raid. (Bild: Markt & Technik Verlag)

Für welche Systeme wurden diese Produkte hauptsächlich angeboten? Können Sie sich noch an einige Produktnamen erinnern?

Die Konzentration lag auf dem Commodore 64, dem seinerzeit meist verbreiteten System.

Welchen Einfluss hatten Sie auf die Produktgestaltung, wenn die Programmierung durch Dritte vorgenommen wurde?

Wir haben gemeinsam mit den Kooperationspartnern die Inhalte festgelegt. Dies war insofern spannend, weil wir als Vermarkter einfache Produkte wollten, die Techniker der anderen Seite jedoch lieber auf „High-End“ setzten. Man hat sich jedoch sehr rasch gut verstanden und voneinander gelernt.

Hatten Sie auch in Ihrem privaten Umfeld Kontakt zu Homecomputern oder Videospielen?

Über den privaten Kontakt zum Homecomputer bin ich überhaupt erst auf die Idee gekommen, den Bereich Bild- und Tonträger um die Sparte Homecomputer-Software zu erweitern. Ein Freund des Hauses, der bekannte Fotokünstler Peter Maltz, experimentierte seinerzeit mit dem Colour-Genie, den er mir während seines Urlaubes ausgeliehen hat. Und da war es um mich geschehen. Kurze Zeit später standen in meinem Büro ca. 10 Homecomputer, vom Apple II bis zum Texas Instruments TI-99/4a.

Wie ging es danach beruflich für Sie weiter?

Der Bereich Bild- und Tonträger wurde 1984 auf die Konzernschwester Ariola (heute BMG) übertragen. Ungefähr zu der Zeit plante Activision eine Niederlassung in Deutschland zu eröffnen. Activision bot mir an, diese Firma aufzubauen, was ich natürlich sehr spannend fand. Bei der Suche nach einem geeigneten Büro fügte es sich gut, dass der Hamburger Verleger Wolfgang Schrader sich gerade von seiner Zeitschrift, ich glaube sie hieß Telematch, trennte.

Die frei gewordene Etage konnten wir sofort beziehen und mussten uns weder um Möbel, Fotokopierer oder Telefonanlage kümmern. Wir konnten von einem auf den anderen Tag loslegen. Innerhalb von zwei Jahren wurde Activision das drittgrößte Einzellabel in Deutschland. Mein damaliger Chef war übrigens Greg Fischbach, den späteren Gründer von Acclaim.

Wie viele MitarbeiterInnen hatte die deutsche Activision-Niederlassung zu Beginn 1985 und war die Firma strukturiert?

Activision Deutschland fungierte als reine Marketingeinheit. Für den Vertrieb sorgte Ariolasoft, Bertelsmann. Insofern war das Team mit 5 Personen zwischen 1984 und 1985 recht überschaubar.

Die Ariolasoft stellt sich vor. Die Geschichte des jungen Unternehmens beginnt 1982. (Bild: Markt & Technik Verlag)
Die Ariolasoft stellt sich vor. Die Geschichte des jungen Unternehmens beginnt 1982. (Bild: Markt & Technik Verlag)

Liegen Ihnen noch Umsatzzahlen aus dieser Zeit vor?

Das weiß ich beim besten Willen nicht mehr.

Können Sie sich noch an bestimmte Ereignisse, zum Beispiel an Treffen mit anderen bekannten Persönlichkeiten aus der Videospielbranche, erinnern?

In der damals noch recht kleinen Branche kannte eigentlich jeder jeden. Die Liste der Leute wäre ellenlang.

Haben Sie noch Kontakt zu Greg Fischbach?

Nein. Der ist im Laufe der Jahre eingeschlafen, wie auch der Kontakt zu den anderen damaligen Kollegen aus Amerika oder England.

Ariolasoft war ab 1984 der größte Software Distributor in Deutschland, der u. a. die Label Brøderbund, Cosmi, EA, Synapse, Hesware und natürlich Activision unter Vertrag. So hatte Activision seinerzeit Homecomputerspiele wie Toy Bizarre oder Zenji entwickelt. Können Sie sich noch an weitere Spiele oder Produkte erinnern?

Auch das würde eine extrem lange Liste werden. Pitfall!, Decathlon und Ghostbusters fallen mir ein. Alles Mega-Hits von David Crane. Oder Summer- und Winter-Games. Hits gab es viele. Leider aber auch jede Menge Flops.

Haben Sie die Spiele-Programmierer von Activision persönlich auch kennen gelernt?

Nicht nur die von Activision, wie David Crane, auch von vielen anderen Firmen. Zum Beispiel die von LucasArts, dem Spieleableger von George Lucas, die völlig relaxed auf der LucasFarm „in the middle of nowhere“ bei San Francisco ihre Ideen ausbrüteten. Wenn meine europäischen SEGA-Kollegen und ich in Tokio waren, hatten wir auch immer Kontakt zu den Entwicklern und Programmierern.

Programmierer in den Achtzigern bei Brøderbund in den USA. Ein kreativ-entspannter Arbeitsstil. (Bild: Markt & Technik Verlag)
Programmierer in den Achtzigern bei Brøderbund in den USA. Ein kreativ-entspannter Arbeitsstil. (Bild: Markt & Technik Verlag)

Activision hatte 1986 die amerikanische Adventure-Legende Infocom gekauft. Inwiefern waren sie daran beteiligt und hatten Sie eine direkte Berührung mit Infocom-Spielen oder Kontakt zu Infocom-Mitarbeitern?

Die Infocom-Übernahme war eine reine US-Angelegenheit. Ein hochinteressantes Label, das jedoch nur von einer sehr kleinen aber eingeschworenen Gemeinschaft bevorzugt wurde. Infocom brachte seinerzeit ausschließlich sogenannte Textadventures heraus, d. h. man musste schon ein enormes abstraktes Verständnis haben, ohne die optische Hilfe der grafischen Darstellung die Lösung zu finden. Das Spielgeschehen musste sich vor dem eigenen geistigen Auge abspielen. Das ist ungefähr so, als wenn man gegen sich selber im Kopf Schach spielt.

Warum haben Sie Activision-Deutschland verlassen?

Ich bekam ein Angebot von Bertelsmann, um die Marketingleitung der neu geschaffenen Ariolasoft zu übernehmen, die übrigens als Vertrieb für Activision tätig war. Insofern hatte ich auch weiterhin mit den Activision-Kollegen in England und USA zu tun.

Nach Ihrer Zeit bei Activision kamen Sie mit SEGA in Berührung. Wie kam es dazu?

Ariolasoft hatte 1986 die Vertriebsrechte für das SEGA Master System erworben und hierfür ein entsprechendes Profit-Center eingesetzt, das 1987 bei mir aufgehängt wurde. Der Versuch, den Konsolenmarkt neu zu beleben, war ein ziemlich schwieriges Unternehmen.

Nachdem Spielekonsolen spätestens 1984 aus den Regalen verschwanden und der Handel stinksauer über die riesigen finanziellen Abschriften war, kann man sich vorstellen, wie schwer der Wiedereinstieg war. Mit dem Resultat, dass Ariolasoft / Bertelsmann den SEGA-Vertrag Ende 1988 loswerden wollte und den Vertrieb an Virgin übergab. Ich bin mit dem Produkt SEGA mitgewandert und gründete für Virgin die Virgin Games Deutschland.

Die Aufgabe war zunächst, ein neues Vermarktungskonzept zu entwerfen und dies mit handfesten Marktdaten zu untermauern. Daran haben Rolf Duhnke – der heutige Geschäftsführer von EIDOS – und ich einige Monate gearbeitet. Die Folge war der Auftrag, Virgin Games zur Vollfirma auszubauen. 1989 packten wir also unsere Klamotten und zogen von Gütersloh nach Hamburg. Dies war insofern etwas abenteuerlich, da an einem bestimmten Stichtag eine komplette Crew in einem neuen Büro aufeinander traf, wo keiner den anderen kannte.

Mit welchen Handelshäusern und Vertriebskanälen haben Sie zusammengearbeitet?

Schlicht und einfach mit allen. Allerdings haben wir uns anfangs beinahe die Finger bei dem vielen Klinkenputzen gebrochen. Aber irgendwann hatten wir alle nötigen Einlistungen.

Was waren die größten Erfolge bei den Konsolen oder Spielen von SEGA unter Ihrer Führung?

Sonic, das SEGA-Maskottchen, wurde 1991 geboren. (Bild: SEGA)
Sonic, das SEGA-Maskottchen, wurde 1991 geboren. (Bild: SEGA)

Das Mega Drive war mit Abstand der größte Erfolg, weil es technisch völlig neue Maßstäbe setzte und glücklicherweise dem später veröffentlichen SNES von Nintendo überlegen war. Das meistverkaufte Spiel war eindeutig Sonic the Hedgehog. Anmerkung: Sonic the Hedgehog ist auch heute noch das offizielle Videospiel-Maskottchen von SEGA und das Symbol mit dem die meisten Menschen die Firma identifizieren.

Haben Sie noch Kontakt zu Rolf Duhnke oder anderen Persönlichkeiten aus dieser Zeit?

Ja, sicher. Mit Rolf Duhnke oder „Mr. Atari“, Klaus Ollmann treffe ich mich von Zeit zu Zeit. Mit Wojo Euler, dem ersten Geschäftsführer von Acclaim Deutschland, telefoniere ich hin und wieder. Mit einigen anderen gibt es alle paar Jahre mal Kontakte.

Hatten Sie in der SEGA Deutschland einen unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung der Konsolen oder Spiele?

Die Entwicklung der Hardware unterlag ausschließlich dem SEGA-Headquarter in Tokio. Die Europäer hatten hierauf keinerlei Einfluss. Anders war es bei den Spielen. Bei denen konnten, wenn es es gut begründet war, nationale Dinge berücksichtigt werden.

Außerdem gab es eigene Entwicklungsabteilung in London und Los Angeles. Hin und wieder haben wir auch in Deutschland eigene Titel entwickelt, u. a. die Ottifanten. Dieses Spiel entstand in unmittelbarer Zusammenarbeit mit dem Künstler Otto Waalkes selbst.

Warum haben Sie SEGA 1994 verlassen?

SEGA Tokio hatte Umsatzvorstellungen, die ich nicht mittragen und verantworten wollte. Da es keine Annäherung der Standpunkte gab, war die Konsequenz vorprogrammiert. Im Nachhinein stellte sich heraus, das auch meine eigene Prognose noch viel zu optimistisch war.

Wie kamen Sie danach zur Philips Media und was war dort Ihre Aufgabe?

Wenn man wieder auf dem Markt ist, spricht sich das schnell herum. Philips hatte weltweit ein ziemliches Problem in der Durchsetzung des CDi-Systems und suchte jemanden, der das deutsche Geschäft neu strukturiert. Hierzu sollte eine neue Firma gegründet werden, Philips Media. Ich bekam also einen Anruf und ein paar Tage später hatte ich einen neuen Job. Den war ich zwei Jahre später wieder los, weil Philips sich letztendlich von der CDi Plattform verabschiedete.

Was haben Sie beruflich nach Ihrer Zeit bei Philips gemacht?

Ich habe mich selbständig gemacht und wurde Teilhaber einer Marketing-Agentur, eines IT-Dienstleisters und einer Internet-Firma, die eigene Dienstleistungs-Portale betreibt. In der ersteren und der letzteren Firma bin ich auch operativ tätig.

Werden Sie auch heute noch auf Ihre Zeit bei Activision oder SEGA angesprochen?

Kaum. Activision verbindet man heute wohl eher mit dem Namen meines alten Ariolasoft-Kollegen Wolfram v. Eichborn oder Andreas Stock. Und SEGA ist als Hardwareanbieter vom Markt verschwunden.

Herr Derlien, wir bedanken uns für das freundliche Interview und wünschen Ihnen für Ihre Zukunft alles Gute.

Winrich Derlien 1994 mit dem Philips CDi System. (Bild: Winrich Derlien)
Winrich Derlien 1994 mit dem Philips CDi System. (Bild: Winrich Derlien)

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Veröffentlicht in: Videospielgeschichten
TobiStephan Ricken

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Kommentare (4)

  1. Schöner Artikel. Vielen Dank.

    Im letzten Bild mit der Werbung zum Sega Master System ist mir noch aufgefallen, dass die Steckmodule dort als “Cassette’s” bezeichnet wurden. Damals war eine Cassette wohl schlicht ein Synonym für Datenträger.

    Tobi
    1. Sehr gern geschehen Roman. Du hast recht, das ist mir noch gar nicht aufgefallen! Damals waren die Begriffe scheinbar noch nicht ganz sauber definiert bzw. übersetzt. Interessant!

      Tobi
  2. Eine schöne Zeitreise mit vielen interessanten Informationen. Mir war gar nicht klar, wie alles mit einander verbunden war. Wenn man bedenkt, dass eine Firma wie Activision mittlerweile eine weltweite Marke ist, dann sind doch diese Geschichten aus der Frühzeit viel zu wenig beachtet. DANKE!