Warnung: Es geht im ganzen Text um den Tod und im Abschnitt zu If On A Winter’s Night um Suizid. Außerdem: Spoiler zu allen im Text vorkommenden Spielen!
Im Film ist der Tod oft das Ende. Er markiert eine Zäsur, die uns um eine geliebte Haupt- oder Nebenfigur trauern lässt. Oft trifft es Nahestehende der Hauptfigur, um die emotionale Fallhöhe zu maximieren. Manche Filme drehen sich ausschließlich um den Umgang mit dem nahenden Tod. Superhelden dagegen scheinen unsterblich, ihr Tod erscheint oft völlig unwahrscheinlich. Und wenn er dann doch eintritt, nun, dann gibt es immer einen Weg, die Figur doch zurückzubringen. Danke, Marvel, für nichts.
Ein bestimmtes Genre der Videospiele dagegen nimmt den Tod als Teil der Spielerfahrung bis zur völligen Gleichgültigkeit hin. Extrembeispiel Shooter: Kaum gestorben, warten die Spieler_innen ungeduldig auf ihren Respawn, den hundertsten brutalen Tod schon aus dem Gedächtnis gestrichen. Dass es auch anders geht, zeigen einige meiner persönlichen Meilensteine der Indie-Szene. Um den sensiblen Umgang mit dem Thema Tod in diesen Spielen soll es im Folgenden gehen.
Der Tod als Tatsache: Return Of The Obra Dinn
Schon als ich das Schiff betrete, ist mir klar: Hier ist etwas Furchtbares passiert. Eine verwesende Leiche liegt vor der Tür zur Kapitänskajüte, pixelige Fliegen umschwirren die Knochenreste. Die Taschenuhr mit dem Totenkopf erscheint in meinem Blickfeld und als ich sie öffne, saugt mich ein Strudel in die Vergangenheit. Schnitt. Ich erlebe die letzten Momente eines Besatzungsmitglieds so brutal wie ehrlich. Die ganze Grausamkeit eines gewaltsamen Todes liegt wie in Bernstein gegossen vor mir.
Ich darf es mit einer Ruhe studieren, die den armen Seelen in ihren letzten Momenten nicht vergönnt war. Der Tod trifft mit unbarmherziger Kälte ein. Meine Aufgabe verbleibt es, ihn zu dokumentieren, jedem der Gesichter einen Namen zu geben und ihr Schicksal an die Verwandten weiterzureichen. Mir wird eine Zuschauerrolle zugeteilt, obwohl ich dank der Taschenuhr den letzten Momenten der Seeleute beiwohne. Und doch wahre ich als Ermittlerin meine Distanz zu dem Geschehen – oder etwa nicht?
Schon in den ersten Minuten werde ich auf Latein an meine eigene Sterblichkeit erinnert: Memento Mortem. Das erweist sich als unheilvolle Prophezeiung. Manche Gesichter verfolgen mich länger als andere. In einer der akustischen Rückblenden begleite ich das Ende eines Fähnrichs, Thomas Lanke, der sich in den letzten Momenten um die Mutter seines getöteten Freundes sorgt. „Ich wollte ihn retten“, versucht er dem Offizier vor sich verzweifelt klarzumachen, als wolle er seine Seele reinwaschen im Angesicht des Todes. Doch ist er nicht etwa einem Seemonster zum Opfer gefallen wie sein Kamerad. In früheren Rückblenden sehe ich ihn blutend in die Fähnrichskoje kriechen und verfolge die Spuren zurück.
Es dauert, bis ich das ganze Ausmaß erfasse. Lanke hat eine Meuterei belauscht und musste dafür sterben, dass er versucht hat, die anderen zu warnen. Zu diesem Zeitpunkt ist die Obra Dinn schon dem Verderben anheimgefallen, das Gemetzel scheint unausweichlich. Auf dem verfluchten Schiff wird jede einzelne Seele den Tod finden. Die wenigen, die entkommen, sind für den Rest ihres Lebens gezeichnet von einer Last, die tausend Tonnen wiegt. Der Tod hat die Leben genommen, doch er hat auch den Lebenden genommen.


Der Tod als Tor zur Hölle: Afterparty
Ganz anders präsentiert sich der Tod in Afterparty. Spielerisch wird hier mit dem Leben nach dem Tod geliebäugelt, die Hölle ist eine einzige große Kneipe, in der die aus dem Leben Getretenen versacken. Jede Person hier hat mehr oder weniger große Fehler begangen, die schließlich ins Fegefeuer geführt haben. Keine allzu reizvolle Aussicht, möchte man meinen. Auffällig wenig alte, weise Menschen finden sich in den neun Kreisen der Hölle, stattdessen begegne ich einigen jung Verstorbenen.
Warum hat der Tod sie ereilt, frage ich mich. Wie viel Sünde mag ein junges Leben schon angesammelt haben? Genug, stellt sich heraus, denn die Dauergäste sind mehr als bereit, ihre Geschichten mit mir zu teilen. Darunter ist so mancher, dessen Sünden ich unter jugendlichem Leichtsinn einordnen würde. Satan scheint es nicht zu scheren, denn er ist mit seinen eigenen Problemen beschäftigt.
Afterparty wählt einen eher lockeren Ansatz, um mir seine Nahtoderfahrung nahezubringen. Doch der erste Eindruck täuscht. Tatsächlich müssen Lola und Milo ihre ganz persönlichen Dämonen überwinden, ehe sie sich Satan stellen. Und damit ist nicht Begleiterin Wormhorn gemeint, die eine geradezu biblische Plage vor dem Herrn darstellt, sondern ihre Vergangenheit, die nach und nach freigelegt wird. Daran ist Wormhorn nicht ganz unschuldig, zugegeben.
Die Hölle wird zur schonungslosen Therapie längst verdrängter Traumata, bis es schließlich zum finalen Frieden kommt. Milo und Lola akzeptieren ihre Situation und finden eine Heimat in der Hölle, ob sie nun dorthin gehören oder nicht. Ihre Freundschaft, die in der ewigen Party auf die Probe gestellt wurde, hat das reinigende Fegefeuer überstanden. Das Happy End nach Schema F bleibt aus, doch auch darauf lässt sich anstoßen. Prösterchen!


Der letzte Antrieb: Bills Tod in Lamplight City
Es ist kaum ein Spoiler, denn es passiert bereits in den ersten Spielminuten: Der Partner des Protagonisten stirbt bei einem Routineeinsatz in einem Blumenladen. Miles Fordham, seines Zeichens Polizist, bleibt zutiefst erschüttert und traumatisiert zurück, denn er hat seinen Freund Bill selbst erschossen – statt des Schurken, der ungeschoren davonkommt.
Das könnte auch der Grund sein, warum sich Bill aus dem Jenseits meldet und von diesem Zeitpunkt an Miles‘ ständiger Begleiter ist. Seine Stimme kommentiert höchst zynisch das Geschehen und begleitet die Ermittlungen als körperloser Sidekick. Während Miles einer Alkohol- und Schlafmittelsucht verfällt, um sein Trauma in der Bewusstlosigkeit zu ersticken, stellt Bill die Stimme der Vernunft dar, die vergeblich gegen die Schuldgefühle anredet. Sein Tod treibt Miles beinahe in den Wahnsinn, doch treibt er ihn auch an – entgegen aller Vernunft.
Lamplight Citys Umgang mit der Verarbeitung des Tods ist ein Paradebeispiel für gescheiterte Trauerarbeit. Miles stürzt sich in die Verfolgung des Schurken, doch sein Blick ist getrübt. Oft weist Bill scharfsinnig auf eine Tatsache hin, die Miles übersehen hätte und die damit auch mir als Spieler_in klargemacht wird. Außerdem verwahrlost unser Protagonist mit dem Fortgang der Geschichte zunehmend, sodass sein Umfeld immer weniger verständnisvoll darauf reagiert. Wieder ist es Bill, der mir den Spiegel vorhält. Es ist nur logisch, dass er in seiner Rolle als Stimme der Vernunft durch exzessiven Alkoholkonsum ruhiggestellt wird.
Das wird von Miles‘ Frau Adelaide kritisch zur Kenntnis genommen, bis sie Miles‘ selbstzerstörerisches Verhalten nicht mehr erträgt und ihn vor die Wahl stellt: Die Wahrheit oder der Wattebausch, aber dann ohne, dass sie zusehen muss. Es bleibt meine Entscheidung, ob ich mich ihr öffne und meine Verletzlichkeit offenbare. Mit dem Lösen des Blumenladen-Falls verstummt Bill schließlich, die Heilung ist komplett. Doch ist Miles so oder so ein anderer Mann, der schwer gezeichnet wurde. Wie in kaum einem anderen Spiel arbeitet Lamplight City das Thema Schuld und Verantwortung ab.


Schonungslos ehrlich kommt der Tod in If On A Winter’s Night, Four Travelers
Wenn der Tod zum zentralen Leitmotiv wird, ohne durch schwarzweiß-Filter und dramatische Musik beschönigt zu werden, kommt dabei ein aufrüttelndes Spiel heraus. Jede der drei Hauptfiguren ist einen abrupten Tod gestorben, und ich spiele die Hinführung, die sich einem crescendo gleich zum unaufhaltsamen Finale steigert. Der Streit zweier Liebhaber, das langsame Dahinsiechen einer depressiven, drogenabhängigen Witwe und der Rachefeldzug eines Arztes, der schließlich zur Läuterung wird: Sie alle enden unaufhaltsam im selbstverschuldeten Tod. Der ist brutal ehrlich, blutig und schockierend, ihm fehlt der spielerische Filter, der das abrupte Lebensende erträglich macht. Die berührende Erzählweise der drei unterschiedlichen Geschichten rührt aus den menschlichen Motiven, die jene drei Unglücklichen antreiben.
Ich erfahre nie, wie das Anwesen der einsamen adeligen Witwe tatsächlich aussieht. Ist es näher am grauen Schleier, der sich wie ein Tuch auf ihre Umgebung legt und sie in taube Unwissenheit hüllt? Oder ist es näher an der bunten Blüte einer heilen Welt, deren sonnendurchflutete Räume zum Hindurchschlendern einladen? Birgt die Droge den Zugang zur Wirklichkeit oder gaukelt sie eine längst vergangene Herrlichkeit vor? Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.
Lady Winterbournes Verstand vermag nicht mehr zu unterscheiden, er schwindet buchstäblich dahin, während die Geister ihrer Vergangenheit sie einzuholen drohen. Und schneidet doch einmal eine Erkenntnis durch die Schatten der Trauer oder die drogeninduzierten Illusionen, wünsche ich mir beinahe, die arme Frau wäre unbehelligt geblieben. Nur folgerichtig, dass eine Überdosis jener psychoaktiven Substanz ihr zum Verhängnis wird. Selten war Sterben so echt, so eindrücklich und so beängstigend.


Der Tod ist nur ein weiteres Tor: Spiritfarer
In Spiritfarer ist der Tod schon geschehen. Er ist allgegenwärtig, aber doch unsichtbar in Stellas kleinem Reich, das den schmalen Grat zwischen Leben und Vergehen darstellt. Der Abschied vom Leben steht im Vordergrund, dabei nehmen die Lebenden Abschied ebenso wie die Toten. Ein letztes Mal das liebste Gericht essen, ein letztes Mal eine menschliche Umarmung bekommen, ein letztes Mal den Sonnenuntergang über dem ruhig dahinziehenden Meer sehen… In der Schönheit von Spiritfarers gesättigten Farben liegt eine ruhige Melancholie.
Stella ist die Fährfrau, doch ihre Rolle umfasst mehr als nur den Transport von verlorenen Seelen, die sich aus der Welt lösen müssen. Sie bietet Beistand und leistet Übermenschliches, ohne ihre eigene Menschlichkeit zu verlieren. Der Kühle von Charon, ihrem Vorgänger, stellt sie ihre unerschütterliche Positivität entgegen.
Die Zeit ist kurz und kostbar. Ich verbringe sie mit meinen Seelen-Schützlingen, schließe sie und ihre Schrullen ins Herz, bis sie plötzlich ihren letzten Wunsch äußern: Sie sind bereit. Ich bin es nicht, wird mir klar, während ich meine Freunde (denn das sind sie geworden) Richtung Ewigtor schiffe. Ich beginne vor meinem Bildschirm sehr zuverlässig zu weinen, noch bevor sie mit ihrem Abschied begonnen haben. Er schließt die eine Wunde, die sie bisher vom Weitergehen abgehalten hatte.
Während sie die Überfahrt vollenden, klafft eine weitere Wunde in meinem Herz, weil mir nur leere Erinnerungen bleiben. Auf dem Schiff sammeln sich immer mehr Särge an, an ihre Bewohner_innen angepasste Häuschen, die sie nie wieder betreten werden. Doch keine Zeit für Gram, mehr Seelen brauchen ihr letztes Geleit. Ich mache weiter, mit jeder Träne fließt auch etwas Bitterkeit aus mir heraus, bis nur Frieden übrigbleibt. Der Abschied in Spiritfarer hat beinahe therapeutische Züge für mich.


Abschied
Darum ist Spiritfarer auch das perfekte Spiel, um diese Betrachtung zu beenden. Ich habe mehr Beispiele, ich würde jedem das verstörende Abenteuer Strangeland empfehlen, allerdings taugt das in seiner albtraumhaften Verschlungenheit nicht für eine Betrachtung in zwei Absätzen. Gestorben wird auch in Cats and the Other Lives, aber da möchte ich nicht schon alles vorwegnehmen.
Stattdessen möchte ich dich dazu animieren, einmal darauf zu achten und deine Erfahrungen mit mir zu teilen. In welchem Spiel war das Thema Tod präsent und hat dich besonders berührt?
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