Über Retrografie

Von Andreas Wanda am
Kommentiert von: André Eymann, Selmar, Andreas Wanda
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Meine Gedanken zermahlen angestrengt grobe Bildklötze zu schmackhaften Bildern während mein Joystick einen Haufen Pixel in Richtung neuer High Score steuert. Die simple Optik täuscht: in meinem Kopf spielt sich ein Drama epischen Ausmaßes ab.

Die Zeit vor den Shares, Tweets und Posts: Wer 1982 die brandaktuelle erste Vorschau zu „Revenge of the Jedi“ sehen wollte, zahlte nicht nur freiwillig gutes Geld, sondern brachte auch seine Freunde und die Familie mit. (Bild: De Luxe)
Wer 1982 die brandaktuelle erste Vorschau zu „Revenge of the Jedi“ sehen wollte, zahlte nicht nur freiwillig gutes Geld… (Bild: De Luxe)

Es gab früher einfach kein „casual“ Computer- oder Videospiel, das man nebenbei spielte.

Jede einzelne Neuerscheinung verlangte ihr eigenes Maß an hingebungsvoller Aufmerksamkeit und Wertschätzung, ganz gleich ob sich der Spieler in interstellaren Schießereien oder textbasierte Rätsel verstrickte, die geduldig eine menschliche Tastatureingabe mit der hoffentlich korrekten Lösung erwarteten: die menschliche Vorstellungskraft verwandelte schlecht umrissene Pixelanhäufungen in großes Theater.

„Ins Kino gehen“ war auf der anderen Seite gleichzusetzen mit luxuriösen Reisen in weit entfernte Gegenden, über die man bei der Rückkehr aufgeregt berichten würde.

Selbst der Kartenkauf um die neuste Spielfilmsensation zu sehen war als solches aufregend, doch die zusätzliche Überraschung, erste Eindrücke eines noch nicht angekündigten, gerüchteweise in Entstehung begriffenen Spielfilms vor dem Hauptfilm zu sehen, suchte seinesgleichen.

So war es nicht unüblich, dass derartige Filmvorschauen die Gespräche nach dem Kinobesuch beherrschten. Solch organische generierte Weiterempfehlung rührte her vom Mangel an Information im einem Zeitalter unterentwickelter Kommunikationstechnologie.

David Cranes außergewöhnlich gut gelungene Filmadaptation von Ghostbusters – Die Geisterjäger aus dem Jahr 1984 illustriert sehr schön, wie effektiver gestalterischer Kompromiss angesichts technischer Unzulänglichkeiten ein Produkt hervorbrachte, das der wilden Stimmung des Originals vollkommen gerecht wurde. Vom Spielverlauf derart vereinnahmt, waren sich die Spieler gewiß nicht in dem Maße der einzelnen Pixel bewusst, wie wir es heute sind, sondern fühlten sich ganz im Gegenteil Auge in Auge mit dem auf lächerliche Weise gefährlichen Erzfeind des Films, dem liebenswerten Marshmallow Mann. (Bild: Activision/Sony Pictures)
David Cranes außergewöhnlich gut gelungene Filmadaptation von Ghostbusters – Die Geisterjäger aus dem Jahr 1984 illustriert sehr schön, wie effektiver gestalterischer Kompromiss angesichts technischer Unzulänglichkeiten ein Produkt hervorbrachte, das der wilden Stimmung des Originals vollkommen gerecht wurde. Vom Spielverlauf derart vereinnahmt, waren sich die Spieler gewiß nicht in dem Maße der einzelnen Pixel bewusst, wie wir es heute sind, sondern fühlten sich ganz im Gegenteil Auge in Auge mit dem auf lächerliche Weise gefährlichen Erzfeind des Films, dem liebenswerten Marshmallow Mann. (Bild: Activision/Sony Pictures)
Hilf’ dem Frosch Frogger, sicher zu seiner Familie zurückzukehren: Während das Spielgeschehen bunt aber abstrakt und undefinierbar wirkt, bietet die Frogger-Schachtel dem Spieler die erforderliche Identifikationsbasis. Fortan assoziert man intuitiv die schönen Frogger-Zeichnungen mit den einfarbigen Punkten auf dem Fernseher, möchte dem drolligen Amphibium helfen in seiner sichtlich argen Not. Diese komplexen kognitiven Prozesse aktivierten Spieler unterbewusst und machten frühe Video- und Computerspiele besonders Reizvoll. (Bild: Parker Brothers)
Hilf’ dem Frosch Frogger, sicher zu seiner Familie zurückzukehren: Während das Spielgeschehen bunt aber abstrakt und undefinierbar wirkt, bietet die Frogger-Schachtel dem Spieler die erforderliche Identifikationsbasis. Fortan assoziert man intuitiv die schönen Frogger-Zeichnungen mit den einfarbigen Punkten auf dem Fernseher, möchte dem drolligen Amphibium helfen in seiner sichtlich argen Not. Diese komplexen kognitiven Prozesse aktivierten Spieler unterbewusst und machten frühe Video- und Computerspiele besonders Reizvoll. (Bild: Parker Brothers)

Legt die Technologie zu, baut die Vorstellungskraft ab

Wo heute Grafikkarten ihr Bestes geben, werkelte früher die menschliche Vorstellungskraft am Rendering virtueller Welten: Zork I war eines der ersten Textadventures, die Spielern eine aktive Rolle innerhalb einer digitalen Welt bescherte, die man mit eigener Fantasie ausmalte. Und was steht den nun auf dem Flugzettel? (Bild: Andreas Wanda)
Zork I war eines der ersten Textadventures, die Spielern eine aktive Rolle innerhalb einer digitalen Welt bescherte, die man mit eigener Fantasie ausmalte. (Bild: Andreas Wanda)

Nachdem jene Kommunikationsmitteln, die für uns heute gewöhnlich sind, noch nicht verfügbar oder sogar vorstellbar waren, aktivierte das Medium Film den Geist auf beachtliche Weise, ließ ihn die nur kurz aufgeflackerten und kaum im Gedächnis verspeicherten Sensationen verarbeiten.

Abermals musste die menschliche Vorstellungskraft eingreifen, um die bruchstückhaft wahrgenommenen bildlichen Codes verbal umzuformulieren. So entstand eine aufregende Erzählung, eine individuelle Interpretation aus nur einem Quentchen quasi unzusammenhängender Information.

Mehrere Jahrzehnte später hat der technologische Fortschritt merkbar am einstigen Glanz der Videospiele und Kinofilme gekratzt.

Erstere stolpern derart rasant in Richtung Photorealismus, sodass beim Spielen scheinbar nurmehr die Reflexe beansprucht werden. Letztere haben sich zu jederzeit verfügbaren Konsumgütern entwickelt und können „dank“ Internet per Knopfdruck einfach abgerufen werden.

Eigentlich gibt es somit keinen Bedarf mehr an Kommunikation, die einfach überwältigt wurde vom Drang nach gefälligen Ein-Weg Handlungen: ein lockeres „Share“ spart Zeit und dem Intellekt interpretative Arbeiten. Man kann also doch „nicht kommunizieren“.

Retro markiert einen Wendepunkt für eine Ära als die Unterhaltungsindustrie durch persönliche Fantasie und Kommunikation bereichert wurde.

Weder die Spieleindustrie noch die Filmemacher konnten es sich leisten, nicht auf organische Weise weiterempfohlen zu werden von Menschen, die sich danach sehnten, ihren Erfahrungen Ausdruck zu verleihen und Interpretationen untereinander auszutauschen.

Retrografie hebt aus dem Nebel der Vergangenheit Inhalte, die menschliche Genialität nicht nur umfassen sondern diese herausfordern und wieder vorantreiben.

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Veröffentlicht in: Medien & Literatur, Podcasts
André Eymann

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Kommentare (4)

  1. Schöner Artikel, ich finde es auch sehr schade, dass aktuelle Medien (Filme, Spiele und Bücher) oft nur von einem Höhepunkt zu nächsten hetzten. Gerade bei Spielen habe ich selten die Zeit das Spiel zu hinterfragen (zugeben oft wäre das sicher auch schlecht für das Spiel) und festzustellen, welche Intention hinter dem ganzen liegt. Ich werde von Lob, Bling Bling und Erfolgen durch das Spiel geschoben. Versagen gibt es so gut wie nie. Immer wird mir gesagt wie gut ich bin. Aber ich drift ab 😉 und wollte eigentlich sagen. Danke. Schade das er mir damals durch die “Latten” gegangen ist.

    André Eymann
    1. Ich musste natürlich bei deinem letzten Beitrag “Fantasie – Zwischen Pixeln und Polygonen” hier im Blog auch an den Text von Andreas hier denken. Da gibt es eine gewisse thematische Überscheidung.

      Danke für deinen Kommentar!

  2. Gerne habe ich diesen Beitrag verfasst. Es ist reizvoll, sich Gedanken zu machen über eine Zeit, die mit beigepackten Stoffkarten, Hörspielen, Romanen und reich illustrierten Anleitungen einem scheinbar einfachen Spiel etwas fast erzählerisches schuf; wie faszinierend, wenn man weiß, dass beispielsweise der Spieler in “Super Breakout” einen kernigen Astronauten verkörpert, der sich aus einer irren Dimension voller bunter Klötze freispielen muss – so zumindest die Spieleschachtel. Dass dann z.B. in “Borrowed Time” vollkommen unerwartet dieser animierte Kurzfilm als Ladebild erscheint, in dem ein grimmiger Mann in ein Büro einbricht und dem Spieler in die Augen sieht, das war sensationell – wenn auch ein sehr früher Vorbote in Spiele gepackter Erzählsequenzen.

    Auf Deine “Erzählsequenzen” aus Mittelerde jedenfalls freue ich mich! Dankeschön, André, für Deinen netten Kommentar.

  3. Das Thema das Du hier anfasst, passt ideal zu meiner Herbst- / Winterplanung 2015. Denn ich habe mir vorgenommen mehrere Text- / Grafikadventures auf meinem brandneuen ZX Spectrum +2 zu spielen. Dabei steht natürlich die Vorstellungskraft und die Fantasie an erster Stelle. Den Anfang wird “The Hobbit” machen. Ich hatte von jeher mehr Freude an der geistigen – und nicht grafischen – Auskleidung von Videospielen. Das ist viel besser als sich über Spiele zu ärgern, die Realismus vorgaukeln und dann aber mit grundlegenden Prinzipien brechen. Vielen Dank für Deinen Text Andreas!