River Raid: 99 Düsenflieger, jeder war ein großer Krieger

Lesedauer: 9 Minuten

Warum sich die 40 Jahre alte BPjS-Akte zu River Raid, dem ersten indizierten Spiel der Geschichte, heute wie ein verdammt gutes Comedy-Manuskript liest.

Es war einmal ein Kriegsspiel, das von einer jungen Frau entwickelt wurde und die ganze Welt im Sturm eroberte …

Die ganze Welt? Nein, eine von unbeugsamen Germanen bevölkerte Behörde leistete erheblichen Widerstand: die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften.

Ich will euch heute die Legende von River Raid erzählen, das die Fans innig geliebt haben, während es von den deutschen Jugendschützern mit teils herrlich grotesken Begründungen abgeschossen wurde. Geschehen ist das vor vier Jahrzehnten – besagtes historisch wichtiges Ereignis feiert damit also ein Jubiläum.

Doch stopp, an diese Stelle passt ein retardierendes Moment, wie es sich für eine spannende Geschichte gehört. Ehe ich also darüber refereriere, was damals in Absurdistan nahe Bürokratien geschah, richte ich den Fokus auf den Star der Saga, das Shoot ‘em up selbst.

Früher war Gaming selbst unter Jungs eine Randerscheinung. Dennoch sicherte sich River Raid einen Ehrenplatz in meinem Herzen – oder zumindest eine kleine Ferienwohnung, weil in meiner pubertären Phase allerlei schlüpfrige Gedanken den meisten Raum einnahmen.

Es machte deng, deng, deng, ding!

Bei River Raid steuerte man einen Kampfjet durch einen vertikal scrollenden Canyon, über den titelgebenden Fluss. Dabei galt es, alles ins Visier zu nehmen, was sich bewegte und was nicht: Schiffe, Hubschrauber, Jets und Brücken.

Ab 60.000 Punkten sinkt bei River Raid die Tankstellendichte in Bereiche, wie man sie aus Mecklenburg-Vorpommern kennt.
Ab 60.000 Punkten sinkt bei River Raid die Tankstellendichte in Bereiche, wie man sie aus Mecklenburg-Vorpommern kennt.

Zwischenzeitlich überflog der Spieler pink-weiß geringelte Treibstoffdepots. Die Dinger sahen aus wie der netzhautablösende, selbst gestrickte Rollkragenpullover, den mir meine Oma Weihnachten 1982 geschenkt hatte. Sie waren aber, anders als besagte Modesünde, lebenswichtig: Es galt, langsam zu fliegen, damit der Kampfjet möglichst viel Sprit aufnimmt.

Das schrille „Deng-deng-deng-deng-ding-ding-ding!“ gehört zu den Gamesounds, die sich so tief in meinen Großhirnrinde gefräst haben, dass ich es bis heute höre, sobald ich nur einen Screenshot von River Raid sehe. Idealerweise ließ man nach dem Tanken die Depots gleich mit in die Luft gehen, schließlich gab es dafür mehr Punkte als für Schiffe und Helikopter.

Wer wird Millionär?

Einige Nerds – damals noch Freaks genannt – lernten tatsächlich den gesamten Flussverlauf des Shoot ’em ups auswendig. Ihr ultimatives Ziel: Nach mehr als drei Stunden Spielzeit die magische Grenze von einer Million Punkten zu durchbrechen.

So verrückt gespielt habe ich nie. Stattdessen merkte ich mir wirklich wichtige Dinge – zum Beispiel, dass Heather Thomas im Intro von Ein Colt für alle Fälle genau nach 57 Sekunden durch die Saloon-Tür schreitet. Solches Wissen bringt einen im Leben weiter. Es könnte sich ja irgendwann bei Günther Jauch deutlich mehr lohnen, gerade, wenn es um die Zahl 1.000.000 geht.

River Raid hob in den USA pünktlich zu Weihnachten 1982 ab, landete jedoch erst im März des folgenden Jahres in Deutschland. Genau zu der Zeit, als die Stunt-Truppe um Colt Seavers dort aufkreuzte. In der Schule war die TV-Serie das deutlich größere Thema. Ballerspiele galten zwar als cool, aber Heather Thomas war das eigentliche Geschoss. Die Wirkung ihres blauen Bikinis brachte unseren Hormonhaushalt stärker an den Rand der völligen Zerstörung, als es ein Kampfjet je gekonnt hätte.

Profis merkten sich jede Feinheit des Spiels, um auf dem Weg zum Highscore enge, treibstoffarme Passagen in der verzweigten Schlucht zu umfliegen. Was diese Typen sonst taten, wenn ihnen langweilig war? Vermutlich traten sie bei Die Montagsmaler mit Sigi Harreis für das Team „Inselbegabung“ an und zeichneten Weltkarten im Maßstab 1:1.

River Raid erregte den Unmut der Jugendschützer. Unter Kids galt Heather Thomas als die weitaus gefährlichere Waffe.
River Raid erregte den Unmut der Jugendschützer. Unter Kids galt Heather Thomas als die weitaus gefährlichere Waffe.

Wenn ein Plan funktioniert …

Wer die magische Grenze von 999.999 Punkten knacken wollte, musste sich durch bis zu 700 Levelabschnitte kämpfen. Das beschrieb schon Guido Frank in seinem Beitrag „Der perfekte Einsatzplan“. Er verlinkt sogar ein PDF, das den optimalen Weg durch den Canyon aufzeigt. Theoretisch könntet ihr also einen Co-Piloten engagieren, der neben euch auf der Couch sitzt und euch wie bei einer Rallye die perfekte Route ins Ohr brüllt – links, rechts, Feuer frei!

Am Ende einer Etappe wartete in River Raid je eine Brücke auf ihre Zerpixelung. Das gab die meisten Punkte. Doch wer die 999.999 Zähler übertraf, wurde nicht etwa mit der ersehnten Million belohnt. Stattdessen sprang die Anzeige auf sechs Ausrufezeichen um, und das eigene Flugzeug beging Suizid. Game over! Was für ein traumhaftes Finale nach all dem Nervenkitzel – danke für nichts, Activision …

Nichts ist ein gutes Stichwort. Jüngere Leser müssen wissen, dass wir Opas damals tatsächlich nichts hatten, nicht mal richtige Grafik oder Sound, geschweige denn Achievements, mit denen die heutige Generation gerne „flext“, wenn sie „prahlen“ meint. Daher hat sich niemand über den River Raid-Coitus Interruptus aufgeregt. Der Triumph überwog.

Verflickt und aufgenäht

Achievement der 80er: Diesen Aufnäher konnten Spieler bei Activision bestellen, wenn sie 15.000 Punkte schafften. (Quelle: Guido Frank)
Achievement der 80er: Diesen Aufnäher konnten Spieler bei Activision bestellen, wenn sie 15.000 Punkte schafften. (Quelle: Guido Frank)

Wobei: Achievements gab es bei Activision gewissermaßen doch. Als Kind dachte ich, dass meine etwas mehr als 90.000 Punkte absolute Spitzenklasse waren. Zumal 15.000 reichten, um einen „River Raiders“-Stoffaufnäher zu bekommen, wenn man ein Beweisfoto mit dem Fernsehbild einschickte. Natürlich hätte ich mehr als 90.0000+ schaffen können, aber es gab keinen Grund, mich weiter anzustrengen. Stellt euch hier ein markantes Hüsteln vor.

Ich habe River Raid für diesen Artikel noch einmal angespielt, um Screenshots zu machen. Mein Ergebnis: dödelige 72.430 Punkte. Ich habe trotzdem ein bisschen Konfetti geworfen.

Natürlich könnte ich River Raid mit ein wenig Übung heute problemlos durchspielen. Wenn ich nicht alle fünf Minuten pieseln müsste. Und wenn ich nach all den Jahren nicht die Reflexe einer Katze hätte, die seit zwölf Stunden auf einer Bundesstraße liegt. Am Ende ist vielleicht sogar die Voltax-Flasche leer? Dann würde ich nach fünf Sekunden vergessen, wo meine Brille mit den Minus-10-Dioptrien-Verbundsicherheitsgläsern abgeblieben ist.

Verdammt, jetzt weiß ich nicht mehr, was ich schreiben wollte.

99 Düsenjäger

Carol Shaw zeigt am 25. Januar 1983 ihr goldenes River-Raid-Modul für 500.000 Verkäufe. (Quelle: Wikipedia, CC BY-SA 4.0)
Carol Shaw zeigt am 25. Januar 1983 ihr goldenes River-Raid-Modul für 500.000 Verkäufe. (Quelle: Wikipedia, CC BY-SA 4.0)

Activision produzierte laut Wikipedia zwei Millionen River Raid-Module, von denen im Juni 1983 mehr als die Hälfte verkauft waren. Programmiererin Carol Shaw setzte sich mit diesem Erfolg ein Denkmal. Die damals 27-jährige Kalifornierin erhielt eine Bonuszahlung und konnte sich damit finanziell absichern.

Ein Segen als naives Kind war, null Angst vor Krieg zu haben. So was gab’s nur in Filmen, Comics oder eben Spielen. Während die Erwachsenen Bammel wegen des Kalten Kriegs hatten, saß ich in einem aus Phantasie bestehenden Jet, tötete Pixel und summte dabei Ein bisschen Unfrieden, das Lied des Komponisten Ralph Siegel, mit dem Sängerin Nicole am 24. April 1982 den Eurovision Song Contest gewonnen hatte.

Ende März 1983 erreichte indes Nena mit 99 Luftballons Platz 1 der deutschen Charts und warnte vor einem neuen Weltkrieg samt Apokalypse. Piepegal, ich blies mit River Raid sicher weit mehr als 99 Düsenjäger, jeder war ein großer Krieger, vom Himmel.

Im ödesten Musikvideo ever tappt Nena über einen rauchenden Rübenacker. Eine Neuauflage mit Szenen aus River Raid muss her! (Quelle: Youtube/Nena)
Im ödesten Musikvideo ever tappt Nena über einen rauchenden Rübenacker. Eine Neuauflage mit Szenen aus River Raid muss her! (Quelle: Youtube/Nena)

Premiere bei der BPjS

Die Jugendschützer zeigten sich eher semibegeistert von dem Spiel. Es dauerte zwar bis zum 13. Dezember 1984, bis River Raid einem BPjS-Gremium zur Prüfung vorgelegt und letztlich indiziert wurde. Dann aber regierte Gründlichkeit! Typisch teutonisch mit allem bürokratischen Pipapo, inklusive eines extra in Auftrag gegebenen Gutachtens, sodass die Akte am Ende immerhin 20 Seiten umfasste.

Letztlich entstand eine Doktorarbeit im Fachbereich angewandte Spaßbremserei, teils so unfreiwillig komisch formuliert, dass ein Comedian heute dafür ein Vermögen zahlen würde. Es war das erste Mal, dass die BPjS – zuvor nur zuständig für verbrennungswürdige Literatur, satanische Rockmusik und Schmutzfilme – sich des Themas Games annahm.

Neben River Raid erwischte es an besagtem Donnerstag die Atari-2600-Panzersimulation Battlezone und den Commodore-64-Titel Speed Racer, bei dem man Passanten überfahren musste. Wir hatten hier also Präzedenzfälle.

Das führte zu einem grotesken Phänomen: Die Formulierungen der River Raid-Akte tauchten in den nächsten rund zehn Jahren immer wieder nahezu wortwörtlich in Verfahren zu anderen Kriegsspielen auf. Da haben fleißige Beamtenhände wohl ständig voneinander abgeschrieben. So wie ich früher meine Mathe-Hausaufgaben – nur dass ich Ärger bekommen hätte, wäre ich erwischt worden.

Die BPjS erklärte 1984 auf 20 Seiten, warum Battlezone für Kinder gefährlich ist. Angeblich fördert es Aggressivität.
Die BPjS erklärte 1984 auf 20 Seiten, warum Battlezone für Kinder gefährlich ist. Angeblich fördert es Aggressivität.

Todesstrafe garantiert

Die Vorgehensweise der BPjS erinnert mich an eine Software, die Arbeitszeugnisse erstellt, indem sie die Reihenfolge der Floskeln ändert und die Namen tauscht. Wobei Arbeitszeugnisse sich wenigstens wohlwollend lesen müssen, während die Bundesprüfstelle bei ausnahmslos jedem getesteten Kriegsspiel die Todesstrafe verhängte.

Nun bedeutet eine Indizierung ja keineswegs, dass ein Spiel verboten ist. Es darf aber beispielsweise nicht mehr frei in Läden ausliegen oder beworben werden. Die BPjS tilgte River Raid damit gewissermaßen vom Markt.

Was mich an die Playboy-Sammlung erinnert, die der Vater eines meiner Zockerkumpels im Wandschrank des Hobbykellers versteckte, und zwar unauffindbar im dritten Fach auf der linken Seite, hinter den Spirituosen, zwischen den Steuerunterlagen und dem Mietvertrag.

Doch ich schweife ab.

Der Gutachter fand’s geil

Die Erstklassigkeit von River Raid entging selbst dem Gutachter nicht. Er teilte der BPjS unter anderem pflichtschuldig mit:

„’RR‘ ist ein attraktives Spiel. Es kommt dem Bedürfnis von Kindern und Jugendlichen nach motorischer Aktivität entgegen und knüpft an ihrer hohen Leistungsbereitschaft in diesem Verhaltensbereich an.“

Von Beamtensprech transkribiert bedeutet das wohl: River Raid präsentiert eine schöne Grafik, macht Laune und spornt an. „Drei Dinge auf einmal? Das geht nun wirklich nicht!“, stöhnte das BPjS-Gremium vermutlich im Chor.

Wer sich übrigens schon seit 1983 fragt, was River Raid überhaupt auf Deutsch heißt, findet in der Akte ebenfalls Erleuchtung:

„Das Spiel ‚RR‘ wird mit dem Untertitel ‚Jagdflieger am Fluss ohne Wiederkehr‘ angepriesen. Dies ist die nichtssagende Übersetzung des englischen Titels, der in wörtlicher Übersetzung etwa Fluss-Raubzug, Fluss-Beutezug, Fluss-Überfall, Fluss-Angriff u.ä. bedeutet.“

Fechtsport ist auch Mord

Telematch berichtete in Heft 1/1984 über eine Meisterschaft mit River Raid. Das bekam auch die BPjS mit.
Telematch berichtete in Heft 1/1984 über eine Meisterschaft mit River Raid. Das bekam auch die BPjS mit.

Lustigerweise erwähnt die Akte im direkten Zusammenhang mit einer potenziellen Jugendgefährdung auch, dass die Zeitschrift Telematch am 26. November 1983 einen Wettbewerb mit River Raid veranstaltet hatte. Diese Kriegstreiber!

„Kinder und Jugendliche können ein außergewöhnlich hohes Leistungsniveau beim ‚RR‘-Spielen erreichen, das auch eine hohe soziale Anerkennung finden kann – beispielsweise [bei der] Telematch-Meisterschaft 1983. So erfährt das kriegerische Handeln und mithin das Töten eine qualifizierte soziale Anerkennung, die den Spieler zu Höchstleistungen in diesem kriegerischen Sinnzusammenhang motivieren kann.“

Wäre ich Sarkasmusanhänger, würde ich nun „droppen“, dass die Ausführung des Gutachters auch auf die Sportart Fechten zutrifft. Die sogar olympisch anerkannt ist. Und Fechten lehrt die kleinen Blagen in Vereinen den Kampf mit Florett, Degen und Säbel – was das Niedermetzeln von Menschen in den Kriegen des 17. und 18. Jahrhunderts simuliert.

Zum Glück für diesen Text bin ich dafür bekannt, immer ernsthaft und sachlich zu bleiben.

Vormilitärisches Training

Bisweilen regt sich in mir das Gefühl, als Kind an einer schweren modalitätsspezifischen Wahrnehmungsstörung gelitten zu haben, weil ich sogar die Grafik einiger Atari-2600-Spiele als realitätsnah empfand. Dass es dem Gutachter bei River Raid ähnlich ging, überrascht und beruhigt mich retrospektiv. Immerhin war der sogar erwachsen (vermute ich) und hatte mindestens Pädagogik studiert (liegt nahe):

„Im Videospiel ‚RR‘ werden keine verfremdenden, abstrakten Symbole für die Darstellung der Ereignisse verwendet, sondern bildhaft-konkrete, vorstellungs- und wirklichkeitsnahe Objekte. Eine Landschaft wird aus einer bestimmten Höhe ebenfalls eher schematisch wahrgenommen, d.h. Wiesen werden als Grünflächen gesehen u.ä.“

Daraus resultierte folgende Diagnose:

„Es handelt sich bei ‚RR‘ nicht um eine phantastische, irreale Spielsituation, die dem kindlichen Phantasieverhalten gerecht wird, sondern um eine Situation, die einem vormilitärischen Training sehr ähnlich ist.“

So sah Gefahrgut in den 80er-Jahren aus, zumindest nach Ansicht der BPjS.
So sah Gefahrgut in den 80er-Jahren aus, zumindest nach Ansicht der BPjS.

Unheil Hitler

Spannend finde ich die Argumentation des Gutachters, in der er das Fernsehen und indirekt sogar *sarcasm on* Adolf Hitler einfach mal mitverantwortlich machte, dass River Raid die Kindheit und Jugend in ihrer sittlichen und sozialethischen Entwicklung gefährdet:

„Das Szenarium ‚RR‘, seine Bilder und die Ereignissequenzen rufen unmittelbar Vorstellungen realer Kriegsberichte aus Film und Fernsehen hervor. Beispielsweise Szenen aus der Deutschen Wochenschau vom August 1944, gezeigt im dritten Programm des Hessischen Rundfunks am 1. September 1984, in denen von Schlachtflugzeugen aus Tankfahrzeuge mit Bordwaffen zerstört werden und das Flugzeug im anschließenden Tiefflug durch die Explosionsrauchwolken fliegt. Derartige Kriegsberichte sind heutzutage auch Kindern und Jugendlichen zugänglich.“

Logo, weil ja jedes Atari-Kind angesichts der plumpen Brikettoptik blitzkriegartig schnell dachte: „Mensch, das sieht ja besser aus als im Film Im Westen nichts Neues, weil bunt!“

Im heutigen Jugendsprech würde man nun attestieren, das der Gutachter River Raid letztlich komplett „zerstörte, Bro“, und zwar folgendermaßen:

„Das Spiel hat emotionssteuernde und aggressionssteigernde Eigenschaften. Bei älteren Jugendlichen führt das Bespielen zu physischer Verkrampfung, Ärger, Aggressivität, Fahrigkeit im Denken, Konzentrationsschwierigkeiten, Kopfschmerzen.“

Diese körperlichen Stresssymptome traten bei mir als Teenie übrigens auch auf, wenn ich im Lateinunterricht saß oder die VHS-Kassette Liebesgrüße aus der Lederhose zurückspulen musste, bevor die Eltern nach Hause kamen, aber gut, geschenkt.

Böse Carol, aus pfui!

Für die Bundesprüfstelle war indes völlig klar, dass bei River Raid „Scharfschützenqualitäten“ gefordert seien und sich der Spieler „in die Rolle eines kompromisslosen Kämpfers hineindenken“ soll. Das Jugendamt, das die Indizierung beantragte, hatte das Shoot ‘em up sogar mit einer „paramilitärischen Ausbildung“ gleichgesetzt. Ob Kinder dabei nur tanken und schießen lernten oder auch fliegen, blieb offen.

Ich möchte zum Realismus noch anmerken, dass der Jet in River Raid aus Gründen des Spieldesigns kein zusätzliches Kerosin verbraucht, wenn er mit Höchstgeschwindigkeit fliegt. Er legt dann also mit der gleichen Menge an Treibstoff größere Distanzen zurück. BÄM, direkt mit Anlauf in dein Gesicht, BPjS!

Übrigens geriet auch Carol Shaw ins Kreuzfeuer der Bonner Behörde:

„Die Designerin gibt [in der Anleitung] sogar noch taktische Ratschläge, welche die Realitätsbezogenheit des Spielers verstärken sollen.“

Der Mensch des 21. Jahrhunderts nennt so was Tutorial, aber was weiß ich schon?

Ich hatte mal die Gelegenheit, Carol Shaw zu fragen, welche Bedeutung die Indizierung für sie damals gehabt hat. Die Antwort fiel gewissermaßen entwaffnend aus: „Ich erfuhr erst Jahre später zufällig davon. Durch einen Wikipedia-Artikel.“ Und wenn wir ehrlich sind, von uns hat 1984 auch keine Sau was von der Indizierung gewusst.

Die Moral von der Geschicht‘

Tja, so ändern sich die Zeiten. Während wir laut BPjS fürchten mussten, dass River Raid uns zu Manfred von Richthofen mutieren lässt wie Gammastrahlung den armen Bruce Banner zum unglaublichen Hulk, kämpfen sich heutige Kinder durch ab zwölf freigegebene Ballergames wie Fortnite, bei denen man den Gegner mit kruden Tanzbewegungen „disst“.

Eigentlich meinte ich „hänselt“. Ich chille in jüngster Zeit wohl zu häufig mit meinem Teenager-Sohn.

Bei besagtem modernen Ego-Shooter nimmt der Hersteller die Taschengeldempfänger richtig aus, weil die stabilsten … äh besten Dancemoves extra kosten. Fortschritt nennt man das wohl, ich nenne es völlig ballerballer.

Die Bundesprüfstelle begnadigte River Raid am 20. Januar 2003. Vorausgegangen war ein Antrag von Activision. Inzwischen hat die Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) das Spiel geprüft und ab „ab 0“ freigegeben. Deshalb könnten es jetzt sogar Säuglinge kaufen. Also falls sie es schaffen, über die Ladentheke zu schauen, statt beim Versuch umzufallen.

Bildrechte Beitragsbild: Foto: Nena/99 Luftballons, Activision

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StephDirk BockstegersTobiAndré Eymann

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Avatar von Harald Fränkel

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8 Antworten zu „River Raid: 99 Düsenflieger, jeder war ein großer Krieger“

  1. Avatar von Alexander Strellen

    River Raid hatte auch ich damals in meiner Diskettensammlung für den C-64. Das war aber schon deutlich nach 1983. Zum aufwärmen der Erinnerungen habe ich mir jetzt noch mal ein Longplay angeschaut. Tatsächlich fand ich das Spiel damals nicht so spannend. Ich wusste auch nicht, das es auf dem Index gelistet ist. Ich behaupte aber, das hätte es damals auch nicht spannender für mich gemacht. In der Spätphase vom C-64 gab es deutlich bessere Spiele. Darum hat River Raid bei mir wahrscheinlich nie gezündet. Schaue ich heute auf die Bilder im Longplay denke ich auch: „Mein Gott, wo ist denn das Problem mit diesem Spiel. Ich schieße bunte Pixel ab, die wie Hubschrauber oder Panzer aussehen und suche mir meinen Weg über den Fluss. Keiner schreit Aua und Blut spritzt auch keines. Jeder Tatort bietet heute mehr Gewalt. Damals wahrscheinlich auch so.“

    André Eymann
  2. Avatar von Pascal Parvex

    Viel spiessiger hätte der Bericht der BPjM nicht ausfallen können…

    André Eymann
  3. Avatar von subetha

    @vsg Die Sounds, das farbenfrohe Design und die Herausforderung machten River Raid auch zu einen meiner Favoriten auf dem C64.
    Ich überlege gerade, ob Activision damals nicht einfach einen Mod mit Fantasywesen hätte veröffentlichen können? 🤔
    Egal, jedenfalls hat das Atari-Cartridge mit dem Hinweis auf die Indizierungsgeschichte sogar seinen Platz im Berliner Museum für Kommunikation gefunden. Das ist doch etwas für die nächste Exkursion in der Schule. 😉

    Harald FränkelAndré Eymann
    1. Avatar von André Eymann

      Zum Thema Design von Activision muss ich natürlich noch einmal einhaken. Das „Streifen“-Design ist absolut großartig. Vor allen Dingen als grundlegendes Art Concept. Denn Activision hat das ja ziemlich durchgezogen damals. Auch dass sie die Entwickler der Spiele gewürdigt haben (mit Fotos und Text!) ist noch heute absolut vorbildlich. Gerade im Indie-Bereich könnte man sich da schnell und kostengünstig anlehnen und diesem Beispiel folgen.

      Die „Streifen“ sind ja auch ein Teil der DNA von VSG. Zeitlos. Schön. Bunt!

      PS: im Beitrag Games Convention 2005 – Die Magie von Leipzig gleich zu Beginn, findet man auch noch ein Foto von der River Raid Indizierungs-Situation.

  4. Avatar von André Eymann

    Danke für diesen lustigen und gleichwohl informativen Beitrag Harald! Dein Text erzählt viel über den Zeitgeist der frühen Achtziger (der Scan der BPjS von 1984 ist stellenweise wirklich haarsträubend) und leider auch viel über unsere aktuelle Zeit.

    Die Geschichte von River Raid eignet sich tatsächlich ideal als Beispiel für das Für und Wider des deutschen Kulturdiskurses. Man möchte offen sein und „mitspielen“ und baut gleichzeitig Mauern und nimmt die Bemühungen beispielsweise der Gamesbranche kaum ernst. Innovation ist nur ein Wort, aber in Wahrheit ein Risiko; das steckt noch immer in zu vielen Köpfen.

    Dafür führe ich dann (wie vermutlich Du auch) regelmäßig Gespräche mit meinen Teenagern Zuhause, warum sich (echte) Investitionen in digitale Güter vielleicht doch nicht so lohnen. Eine wirklich verzerrte Situation, denn der Gesetzgeber sollte Kinder eigentlich schützen. So richtig weit sind wir nicht gekommen in der hiesigen Diskussion.

    Abschliessend ein großes Lob für Deinen unverwechselbaren Schreibstil, bei dem ich einfach immer weiterlesen könnte. Ich hoffe wirklich, dass dieser Beitrag nicht Dein letzter hier ist.

    StephHarald Fränkel
  5. Avatar von Florian Auer

    Hochinteressant und launig geschrieben. Ich find’s aus mehreren Perspektiven interessant: Erstens beschreibt der Bericht eine Generation von Videospielen, wie sie „vor meiner Zeit“ waren. Highscroejagden waren auf ihrem Zenit. Als ich 1991 mit dem Spielen angefangen hab gab es oft noch Punkte – aber das „Numbers go high“ Spiel als Incentive war schon anders gelegt.

    Konnte man die geheimen Sachen in Zelda sammeln? Konnte man die Magie in Secret of Mana leveln? Konnte man die versteckten Items in Mega Man ergattern?

    Hier ging es noch um den Punkt. Eine einfache Zahl, die Spieler und Spielerinnen motiviert hat, sich durch schlichte Pixelwelten zu bewegen. Faszinierend.

    Aber auch die BPJS in ihrer Frühzeit, und der Einblick dahin war interessant.

    Anscheinend muss das ja im Jahr 1983 einen ganz anderen Impact gehabt haben, mit Reagan und den späten Jahren von Breschnew bzw. Andropow und Tschernenko. Als die Welt wirklich kurz davor stand, in einen Krieg zu fallen.

    Im Hinblick auf das kann ich sogar ein bisschen verstehen, dass Jugendschützer nicht noch die Motivation von Kindern und Jugendlichen befeuern wollten, dass Krieg etwas erstrebenswertes sei.

    Wie sich die Zeiten geändert haben.

    Harald FränkelAndré Eymann
    1. Avatar von Harald Fränkel

      Wenn sogar jemand den Text interessant fand, der eigentlich „zu jung“ dafür ist, dürfte das ein besonders großes Kompliment sein. Danke dir für die Rückmeldung!

      André EymannFlorian Auer
  6. Avatar von Richie Rich

    @vsg Sehr witzig geschriebener Artikel, der direkt Lust macht, ne Runde River Raid zu krachen.

    Verdammt, wo ist nun wieder das Gamepad hingekommen? ….

    Harald FränkelAndré EymannTobi