Ihatovo Monogatari – Wie mich Kenji Miyazawas Märchen zum Romhacking brachten

Lesezeit: 5 Minuten

Es war einmal … So, oder so ähnlich beginnen die meisten Märchen, die fast ein jeder aus seiner Kindheit kennt. Seien es die Gebrüder Grimm, Wilhelm Hauff oder Hans Christian Andersen, nur um ein paar zu nennen. Bei vielen mögen sie Kindheitserinnerungen wecken, anderen sagen sie vielleicht auch gar nichts und manch einer liest seinen Kindern womöglich selbst welche vor.

Ich muss offen eingestehen, dass ich Märchen geliebt habe und es für mich in meiner Kindheit nichts Schöneres gab, wenn mir meine Mama vor dem zu Bett gehen etwas vorlas. Die Zeiten des Vorlesens mögen vorbei sein, doch mein Faible für Märchen und Geschichten blieb mir seit jeher anhaften. Ohne diese Eigenschaft würden die Worte jetzt nicht ohne weiteres aus meiner „digitalen Feder“ fließen.

Viele SNES-Spiele1, insbesondere RPGs und JRPGs2, erzählen ebenfalls Geschichten oder Märchen. Eines, das mich nie mehr losgelassen hat, ist Ihatovo Monogatari, das auf den Märchenerzählungen von Kenji Miyazawa basiert.

Kenji Miyazawa, wer ist das überhaupt?

Kenji Miyazawa (Quelle: Wikipedia)
Kenji Miyazawa (Quelle: Wikipedia)

Kenji Miyazawa wurde 1896 in der Präfektur Iwate in Japan geboren, wo er nahezu sein gesamtes Leben verbrachte. Er starb bereits im zarten Alter von 37 Jahren an einer Lungenentzündung. In Japan zählt er heute zu den meist gelesenen und beliebtesten Autoren. Leider blieb ihm diese Ehre zu seinen Lebzeiten verwehrt, da seine Werke in der Bevölkerung kaum auf Interesse stießen.

Seine einzigen beiden Bücher, die während seines Daseins veröffentlicht wurden, waren „The Restaurant of Many Orders“ und „Spring and Ashura“. Mit ersterem Werk hatte beinahe schon jeder Kontakt, der Breath of Fire II für das SNES einmal gespielt hat. Dort wird nämlich jene Geschichte im Wildcat Restaurant aufgegriffen. Miyazawa erlangte erst postum mit seiner Vielzahl an Märchen und Gedichten weitreichende Berühmtheit in Japan. In seinen Werken beschäftigt er sich häufig mit der Natur, Tieren, Magie, Religion, Empathie und christlichem Miteinander. In Übersee ist er noch nahezu unbekannt.

Ihatovo, die Stadt meiner Träume

Kenji Miyazawa erschuf eine fiktive Welt, die er Ihatov oder auch Ihatovo nannte und die er insgeheim mit seinem geliebten Iwate verband. Am 5. März 1993 veröffentlichte das Entwicklerstudio Hect eine Hommage zu Ehren Kenji Miyazawas und nannte das Spiel für das Super Famicom3 Ihatovo Monogatari, welches exklusiv ausschließlich in Japan erschien. Erst 25 Jahre später wurde es Dank einer englischen Fanübersetzung möglich, dass auch die Fangemeinde außerhalb Japans mithilfe eines Englisch-Patches4 in den Genuss dieses Spieles kommen konnte – und der Zauber Ihatovos zog mich augenblicklich in seinen Bann!

Ihatovo Monogotari, zu deutsch Geschichten aus Ihatovo, wird dem Genre Abenteuerspiel zugeschrieben, doch damit hat es wenig gemein. Es ist generell sehr schwierig, es überhaupt irgendeinem Genre zuzuschreiben, da es weder Gegner gibt, noch Kämpfe, geschweige denn ein Game Over. Es faszinierte mich von Beginn an, dass das Spiel ausschließlich darin bestand, dass ich mit einem unbekannten und namenlosen Protagonisten in und um Ihatovo umherwandere und mit Menschen und Tieren kommuniziere.

Insgesamt gibt es neun Kapitel zu entdecken, wobei ein jedes stets für sich abgeschlossen ist. Gleichzeitig durchlebe ich in jedem Kapitel ein Märchen Kenji Miyazawas. Dabei versuche ich Kenjis berüchtigte Journale zu finden, in der Hoffnung, ihn im Verlauf des Spieles selbst treffen zu können. Je weiter ich im Spiel voranschreite, desto mehr lerne ich die Menschen und Tiere Ihatovos kennen und entwickle eine gewisse Beziehung zu ihnen. Kein anderes Spiel hatte mich jeher auf diese einzigartige Weise fasziniert und gefesselt. Das war dieser Moment in meinem Leben, der irgendwie einen Wendepunkt herbeiführte. Ich wollte dieses Spiel unbedingt auf deutsch spielen!

Hochmut kommt vor dem Fall

Nachdem ich das Spiel drei Mal durchgespielt hatte, war es an der Zeit, sich mit der Materie des Romhackings näher zu befassen. Da ich bereits mehrfach als Beta-Tester für diverse SNES-Spiele bei snes-projects fungieren durfte, war ich mir ziemlich sicher, dass ich das, was andere tun, natürlich auch kann. Doch weit gefehlt! Ich kam schneller auf den Boden der Tatsachen zurück, wie ich Ihatovo Monogotari buchstabieren konnte. Die Masse an erforderlichen Begrifflichkeiten hatte mich sprichwörtlich erschlagen. Hex-Editor5, Hexadezimalsystem, Assembler6, Debugger7, Dumper8, Inserter9, Pointer10 und Table-Files11 waren Böhmische Dörfer für mich.

Und es kam, wie es kommen musste. Ich warf das Handtuch, trat voller Schmach den Rücktritt an und nahm das Game Over meines bis dato unbekannten Angstgegners gezwungenermaßen undankbar an. Und die Zeit ging ins Land …

Schicksalhafte Begegnungen

Das Logo von Twisted Phoenix Game Translation (Ersteller: TundraG3cko)

Eineinhalb Jahre waren seit meiner Niederlage vergangen, die ich bis dahin niemals wirklich akzeptiert hatte. Es grämte mich ungemein, dass ich einfach so aufgegeben hatte, denn normalerweise hatte ich die Angewohnheit, mich an einem Problem festzubeißen. Doch wenn eine Tür zu geht, geht bekanntermaßen eine andere irgendwo wieder auf. Und so begab es sich, dass ich aufgrund glücklicher Umstände meinem lange gehegten Ziel wieder einen Schritt näher kam.

Durch die Seite für deutsche SNES-Fanübersetzungen, snes-projects, von RedScorpion wurde die Romhacking-Gruppe Twisted Phoenix Game Translation auf mich aufmerksam. Das Team um manakoDE, leitwolf, bentpg, TundraG3cko und Kekslabor nahm mich herzlich auf und eröffnete mir die Welt des Romacking. Neben diversen gemeinsamen Übersetzungsprojekten lernte ich in eineinhalb Jahren parallel vieles über die Modifizierung von SNES-Spielen. Jedes kleinste Detail saugte ich wie ein Schwamm in mich auf, da ich noch immer mein Ziel vor Augen hatte: die deutsche Übersetzung von Ihatovo Monogatari.

Der Beginn einer neuen Ära

Ich erinnere mich noch fast an den Tag genau. Es war im August 2022, als ich meinen gefürchteten Angstgegner zur Revanche herausforderte. Doch dieses Mal ließ ich mich nicht unterkriegen. Ich schaffte es innerhalb kürzester Zeit, die Table-File zu erstellen, um die Texte in der Rom lesbar zu machen. Das wiederum eröffnete mir die Möglichkeit, die Textblöcke zu dumpen. Ich konnte nun die Texte, die im Spiel dargestellt werden, so extrahieren, dass ich sie nach Belieben ändern konnte. Hiermit war die Grundlage für meine Übersetzungsarbeit geschaffen.

Endlich kann ich die Texte in SnesEdit lesen (eigene Aufnahme)
Endlich kann ich die Texte in SnesEdit lesen (eigene Aufnahme)

Selten erlebte ich so ein tiefgreifends Glücksgefühl. Ihr denkt vielleicht, ich bin total gaga, aber wenn man einem Traum hinterherjagt und dieser plötzlich zum Greifen nahe ist, dann gibt es für die Euphorie kein halten mehr. Innerhalb von drei Monaten kämpfe ich mich durch die Übersetzung, bis die erste Rohfassung stand.

Da ich mir nicht sicher war, ob sich die Märchen Miyazawas im Spiel tatsächlich so zugetragen hatten, kaufte ich mir kurzerhand das Taschenbuch Once and Forever – The Tales of Kenji Miyazawa. In diesem Werk hat John Bester viele der Märchen Miyazawas vom Japanischen ins Englische übersetzt. Es dauerte keine Woche bis ich das Buch verschlungen hatte. Ich war mehr als begeistert, als ich feststellte, dass sich das Spiel nahezu detailgetreu an den tatsächlichen Märchen orientiert. Es versteht sich fast von selbst, dass das Buch heute zu meiner Lieblingslektüre zählt.

Once and Forever – The Tales of Kenji Miyazawa von John Bester (das Bild zeigt mein Taschenbuch)

Selbsterfüllende Prophezeiung

Im November 2022 erfüllte sich mein selbst auferlegtes Schicksal – ich veröffentlichte die erste inoffizielle Fanübersetzung für Ihatovo Monogatari in deutscher Sprache. Die monatelange harte Arbeit hatte sich bezahlt gemacht und ich bin vor lauter Stolz fast geplatzt. Ihatovo Monogatari, das Spiel meiner Träume.

Stunden habe ich dort verbracht – an der Konsole, in meinen Gedanken und wahrlich sogar in meinen Träumen. Ihatovo ist eine Welt in die ich entfliehen kann, wenn ich das Bedürfnis nach Entschleunigung und Ruhe habe. Eine Welt, die vom Trubel des Alltags völlig losgelöst und zeitlos ist. Ich erlebe die Leiden des kleinen Hommoi, die Suche Kenjus nach seinen Zedernsamen, die Konfrontation zwischen dem Fuchs und dem Gott der Erde, die Selbstfindungsphase von Gauche dem Cellisten, die Selbstlosigkeit von Bud Lee, die Gier von Ozbel, das tägliche Dilemma der Ofenkatze und ich überwinde sogar Zeit und Raum.

Ihr wollt wissen, ob ich am Ende meiner Reise Kenji Miyazawa getroffen habe? Das ist und bleibt ein Geheimnis, das euch überlassen bleibt, es selbst zu ergründen. Doch eines kann ich euch verraten: durch Kenji Miyazawas Märchen habe ich meine Liebe zum Romhacking entdeckt.

Epilog

Seit den drei Jahren, die ich mich hobbymäßig mit dem Romhacking beschäftige, sind bislang 23 Übersetzungen meiner Feder entsprungen. Mit jedem einzelnen Projekt konnte ich mein Wissen vertiefen und stets Neues dazulernen. Solange es mir möglich ist, möchte ich auch weiterhin Geschichten mit Leben füllen. Manchmal träume ich davon, dass die Romhacking-Szene in Deutschland zu neuem Leben erwacht. Und wer weiß, es soll ja Träume geben, die hin und wieder in Erfüllung gehen und nicht nur Stoff für neue Märchen liefern.

  1. SNES ist die Abkürzung für Super Nintendo Entertainment System. ↩︎
  2. RPG oder JRPG bedeutet Role Playing Game (Rollenspiel zu deutsch) bzw. Japanese Role Playing Game, was Rollenspiele beschreibt, die meist ausschließlich in Japan erschienen sind (daher das vorangestellte „J“). ↩︎
  3. Das Super Famicom in Japan war das Pendant zum Super Nintendo Entertainment System in Europa. ↩︎
  4. Ein Patch stellt eine Datei dar, die ein Spiel so modifiziert, dass die Sprache zum Beispiel vom Japanischen ins Englische geändert wird. ↩︎
  5. Mithilfe eines Hex-Editors lassen sich die Bytes eines Computerprogramms als Hexadezimalzahlen darstellen und verändern. ↩︎
  6. Bezeichnung für die Programmiersprache eines Computersystems, unter anderem auch für das SNES. ↩︎
  7. Ermöglicht das Lesen der Codierung, was beim Reverse Engineering sehr hilfreich sein kann. ↩︎
  8. Programm zum Extrahieren von Textblöcken. ↩︎
  9. Programm zum Einfügen von Textblöcken. ↩︎
  10. Eindeutige Zuordnung, die auf eine bestimmte Stelle in einem Spiel verweist. ↩︎
  11. Ermöglichen das „Lesen“ eines Spieles durch Zuordnung von Buchstaben zu Hex-Werten. ↩︎

Permalink: https://www.videospielgeschichten.de/ihatovo-monogatari-wie-mich-kenji-miyazawas-maerchen-zum-romhacking-brachten/


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Eine Antwort zu „Ihatovo Monogatari – Wie mich Kenji Miyazawas Märchen zum Romhacking brachten“

  1. Avatar von Sven Pieloth

    Wow. Andreas, du hast da einen wirklich großartigen Text geschrieben. Ich mag deine Schreibart sehr.

    Ich finde, dein Weg zum Romhacking ist selbst schon Storyreif. Tatsächlich kannte ich weder Kenji Miyazawa noch seine Geschichten. Und genau deswegen liebe ich Videospielgeschichten so sehr. Man entdeckt immer wieder neue Dinge.

    Letzten Endes können sich so viele glücklich schätzen, dass du am Ende an deinem Traum festgehalten hast. So kamen viele in den Genuss, Perlen kennen zu lernen zu denen man aufgrund der Sprachbarriere nie einen Bezug gefunden hätte.
    Auf diesem Weg möchte ich mich nicht nur für deinen tollen Text sondern auch für deine tolle Arbeit bedanken.

    Ich freue mich auf viele zukünftige Videospielgeschichten von dir.

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