Kurzgeschichte Nummer 5
Ich erinnere mich noch gerne an den Sachkundeunterricht in unserer Grundschule Anfang der 1980er Jahre. Neben Lesen, Schreiben und Rechnen war das immer eine schöne Abwechslung und man lernte auch mal etwas Praktisches. Zum Beispiel lernten wir etwas über Menschen, Tiere, Länder, Planeten oder unsere Vergangenheit. Auf meiner kleinen Vorstadt-Grundschule hatten wir in fast allen Fächern ein und dieselbe junge, nette Klassenlehrerin, die einem die Fragen auch ein drittes Mal geduldig beantwortete, wenn man ein Thema nicht verstanden hatte.
Mit dem Wechsel zum großstädtischen Gymnasium änderte sich schlagartig das „Lehrer-Schüler-Erklär-Prinzip“. Jedes Thema wurde genau einmal erklärt. Wer es dann nicht verstanden hatte, musste im Schulbuch nachlesen oder einen Mitschüler um Hilfe bitten. Letzte Rettung war dann leider nur noch der Nachhilfeunterricht.
Wann wurde Rom gegründet? Wer weiß es? Wer weiß es?
In der 5. Klasse bei uns auf dem Gymnasium wurde der ursprüngliche Sachkundeunterricht dann in die Fächer Biologie, Chemie, Physik, Erdkunde, Geschichte und Politik aufgeteilt. Und besonders in Geschichte hatte ich einen Lehrer, der gefühlt mindestens schon zweimal wieder aus der Pension zurückgeholt worden war.
Er war bereits fast 70 Jahre alt und noch ein Lehrer vom alten Schlag. Unser Direktor hatte ihm so gerade noch die Bestrafung durch Stockhiebe ausreden können. Für ihn bestand der Geschichtsunterricht aus dem puren Auswendiglernen von Jahreszahlen. „Wann wurde Rom gegründet? Wann begann der 30-jährige Krieg? Wann war die Französische Revolution? Wann wurde die Berliner Mauer errichtet?“
Und nach jeder seiner Fragen folgte der prüfende Blick in die Klasse mit den Worten: „Wer weiß es? Wer weiß es? Natürlich wieder niemand!“ Dieser Lehrer konnte einem das Interesse an Weltgeschichte mit seiner monotonen Unterrichtsart auf den absoluten Nullpunkt treiben.
In der 7. Klasse hatte er uns mal Broschüren zum Thema „Russische Revolution“ bei einem Verlag bestellt. Natürlich mussten wir, bzw. unsere Eltern, diese selber bezahlen. Als die Bestellung auch nach mehreren Wochen immer noch nicht angekommen war, sprach der Klassenstreber den Geschichtslehrer auf die fehlenden Broschüren an. Seine Antwort während des Geschichtsunterrichts: „Ach ja, ich hatte euch ja was bestellt. Ich muss da gleich mal anrufen und beim Verlag nachfragen. Aber ich habe die Telefonnummer nicht. Hat zufällig einer von euch ein Telefonbuch von München mit?“
Wie viele Siebtklässler aus Mönchengladbach, etwa 550 km von München entfernt, nehmen wohl ein Telefonbuch der bayrischen Landeshauptstadt einfach mal so mit zur Schule? Dies zeigte nur, wie fehl am Platz dieser Lehrer inzwischen geworden war. Die Broschüren kamen dann erst etwa zwei Wochen vor den Sommerferien an. Das Thema „Russische Revolution“ war längst abgearbeitet und der Lehrer meinte dann nur noch: „Dann habt ihr in den Sommerferien ja was Gutes zu lesen.“

Es gab aber immer mal wieder Videospiele, die mir mehr über Geschichte beibrachten, als mein alter Geschichtslehrer. Manche Spiele ließen mich sogar in verschiedenen Büchern nach bestimmten geschichtlichen Themen suchen, um das Spiel besser zu verstehen.
Eins der ersten dieser Spiele war „Kaiser“ auf dem C64. Ich hatte es das erste Mal bei meinem Freund Richard im Multiplayer gespielt. Also Multiplayer hieß in den 1980er Jahren bei vielen Spielen „Hot Seat“. Man spielte also nicht gleichzeitig mit zwei Joysticks, sondern man wechselte sich ab. Rundenbasiert würde man heute sagen.
Richard startete das Spiel also zuerst als „Herr Richard von Preußen“. Als zweiter Spieler wurde ich dann automatisch „Herr Andre von Hessen“. Richard überlegte, ob Preußen und Hessen überhaupt eine gemeinsame Grenze hatten. Also holte er den guten alten „Diercke Weltatlas“ aus unserem Schulunterricht heraus und wir schauten uns alte Deutschlandkarten an. Das Spiel hatte etwas geschafft, was unser alter Geschichtslehrer nicht bewerkstelligen konnte. Wir beide hatten uns freiwillig ein Schulbuch herausgeholt und wir hatten etwas gelernt, was wir sofort praktisch nutzen konnten.
Durch spätere Tests hatten Richard und ich dann noch herausgefunden, dass neben Preußen und Hessen auch noch Bayern, Böhmen, Sachsen, Mähren, Tirol, Pfalz und Flandern bei „Kaiser“ spielbar waren. Mithilfe des Atlas hatten wir uns dann eine Karte mit möglichen Angriffs- und Strategieplänen fürs Spiel gezeichnet. Gut, die Kriegsführung war bei „Kaiser“ nicht gerade förderlich für das Erreichen des eigentlichen Ziels. Dazu ist das Spiel beim Kriegsbildschirm häufig eingefroren, daher haben wir den Krieg später eher vernachlässigt.
Ich weiß noch, wie ich mit stolz geschwellter Brust vor dem Bildschirm saß, als ich zum ersten Mal befördert wurde und mich von da ab „Baron Andre von Hessen“ nennen durfte. Wir brauchten natürlich einige Spieldurchläufe bis wir verstanden hatten, was die wesentlichen Anforderungen an die einzelnen Beförderungsstufen waren. Wir hatten auch einmal eine Meinungsverschiedenheit darüber, aber der Landgraf oder der Marktgraf nun höher sei. Richard hatte nämlich den Verdacht, ich hätte einen Titel übersprungen, was ja im Spiel gar nicht ging.
Daraufhin holte er ein altes Buch von seinem Vater, in dem verschiedene deutsche Adelstitel und deren Wertigkeiten beschrieben wurden. Es gab auch Diskussion, ob erst der Kurfürst oder erst der Herzog kam. Aber um es hier nochmal klarzustellen, die korrekte Adels-Reihenfolge im Spiel „Kaiser“ war (nur die männlichen Formen): Herr < Baron < Landgraf < Marktgraf < Fürst < Herzog < Kurfürst < König < Kaiser.
Die legendäre Kaiser-Schlacht
Richard und ich wollten mit einigen Klassenkameraden einmal an einem Wochenende eine große Runde „Kaiser“ mit acht Spielern zocken. Wir hatten noch sechs Klassenkameraden zu mir nach Hause eingeladen. In meinem Kinderzimmer standen ein paar Küchenstühle, Cola, Limo, Chips und andere Knabbereien bereit. Einer der Spieler war kurzfristig krank geworden, aber auch zu siebt sollte es eine legendäre Schlacht um die Kaiserkrone werden.
Von den fünf Gästen kannte nur einer das Spiel, allen anderen hatte Richard versucht die Grundregeln zu erklären, ohne unsere erworbenen Tipps und Tricks gleich an alle Preis zu geben. Wir losten die Startreihenfolge aus und Jens, einer der „unwissenden“ Gäste, fing an. Nachdem wir alle Namen eingegeben hatten, kam bei Jens gleich zu Beginn die Meldung: „38% Ihrer Kornreserven sind verfault. Hungersnot droht.“ Alle anderen lachten und Jens fragte mich: „Warum? Ich habe doch noch gar nichts gemacht. Ich will neu anfangen.“ Wir brauchten einige Minuten, um zu erklären, dass dies eine ganz normale Meldung war.
Etwa die nächsten drei Stunden verbrachten wir in meinem Kinderzimmer, aber es wurde leider nicht der erwartete legendäre Wettlauf um die Kaiserkrone. Einer der Freunde hatte plötzlich nur eine halbe Stunde Zeit, sodass wir seinen Charakter immer durchklicken mussten, denn man konnte nicht selber aufgeben.
Ein anderer Freund fand viel mehr Gefallen an meinen Yps-Heften. Er spielte zwar noch mit, war aber auch noch drei Stunden immer noch „Herr von Mähren“. Die anderen Spieler hingen bei den Rängen Baron oder Landgraf fest, während Richard und ich schon jeweils zum Herzog gekrönt waren. Jens hatte unnötig mit jedem einen Krieg angefangen und zu allem Überfluss seine Milizen noch mit seiner eigenen Artillerie beschossen. Seitdem hieß er bei uns nur noch „Fehlplanung Jens“.
An diesem Tag brachen wir die Spielrunde ab, ohne dass jemand zum Kaiser gekrönt wurde. Für Richard und mich war nach diesem gesellschaftlichen Reinfall klar, dass wir „Kaiser“ nur noch zu zweit oder alleine spielen würden.
KAISER
Erscheinungsjahr
1984
Entwickler
Markus Mergard, Claudio Kronmüller, Dirk Beyelstein
Publisher
ariolasoft GmbH
Genre
Simulation, Strategie, Wirschaftssimulation
Fazit: Ich hatte es in dem Spiel auch mehrfach bis zur Kaiserwürde geschafft, aber immer nur im Solo-Spiel. Wenn man die Spielmechanik verstanden hatte, war es nicht so kompliziert. Kaiser als Multiplayer-Spiel hat mich eher genervt, weil es für mich eher ein Singleplayer-Spiel war. Trotzdem war es für mich die erste Wirtschaftssimulation auf dem C64 und dazu habe ich noch ein paar Kleinigkeiten über die deutsche Geschichte lernen können.
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