Warum ich Novigrad, Skellige und Toussaint nicht loslassen mag
Der dritte Teil der Witcher-Reihe hat nun schon ein paar Jahre auf dem Kerbholz – ein paar weniger, wenn man an die Switch-Fassung denkt. Die hat auch mich erstmals in Berührung mit der mittelalterlichen Fantasiewelt gebracht, die ich in der Rolle des „weißen Wolfs“ durchstreifen durfte.
Und aus vielerlei Gründen hat es dabei recht schnell bei mir geklickt: Die kleinen Dörfer und großen Städte im Spiel wirken tatsächlich belebt und sind mit viele Liebe zum Detail gestaltet. Die Bewohner gehen ihren Tätigkeiten nach, streiten und unterhalten sich und es macht einige Freude, ihnen dabei zuzuhören. Manches wiederholt sich natürlich und ist schablonenhaft. Anderes ist jedoch so einzigartig, dass ich mich einige Male gewundert habe, warum man sich für eine Konversation, die ich nur zufällig im Vorbeigehen belauscht habe, so viel Mühe gegeben hat.
Die Quests, die die Bewohner an den schwarzen Brettern ihrer Ortschaften aushängen, haben auch zu einigen interessanten Abenteuern geführt. Nicht jede Aufgabe war damit getan, ein Monster zu töten. Manchmal lag es an mir, zu entscheiden, ob nicht womöglich der Mensch das größere Monster war, der sinnlos andere Lebewesen abschlachten wollte; ob die Verabreichung eines bestimmten Tranks eine Frau vielleicht retten, aber für ihr weiteres Leben ernsthaft schädigen könnte; eine große Schweinerei im wörtlichen Sinne rückgängig zu machen oder unter Einwirkung stark halluzinogen wirkender Pilze mehr über das Leben meines Pferdes zu erfahren, als ich mir je hätte vorstellen können.
All die vielen Nebenquests haben mir das Spielerlebnis in der Welt des Hexers wirklich versüßt. Und dabei bin ich zunächst alle Nebenquests mit dem festen Vorsatz angegangen, nur schnell ein paar Level für die nächste Hauptquest draufzuschaffen.
Er kam für EXP, blieb für das Storytelling
Abgesehen von der Hauptquest, die mir herausragend gut gefallen hat, sind es vor allem diese vielen abwechslungsreichen Nebenquests gewesen, die meine Spielzeit zwischen Skellige und Weißgarten wie im Flug vergehen ließen. Und schnell war dabei klar, dass hier kein Regenbogenwunderland zu erwarten war. Losziehen, um ein vermisstes Kind zu finden, die Wahrheit zu erfahren und den Eltern die tragische Nachricht überbringen zu müssen, ist schon starker Tobak.
Ein möderisches Liebesdreieck zwischen zwei Schwestern und einem Werwolf aufzudecken war dagegen auf andere Weise erinnerungswürdig. Und wer könnte einem auf Blumen fixierten Sukkubus einen Wunsch abschlagen? Wer hätte kein Verständnis für ein Paar, das im Tode endlich getrennt sein will, damit es sich nicht auch dann noch geistreich streiten muss? Es gibt eine Menge verrückte und außergewöhnliche Geschichten in den nördlichen Königreichen und Toussaint zu entdecken, und nachdem ich die ersten von ihnen erledigt hatte, wollte ich die anderen ebenso voran bringen wie die Hauptquest.
Ein Spiel, das mir Nebenmissionen so ans Herz legen konnte, indem hier ein Team von Kreativen ganz offentlichtlich mit so viel Hingabe die Erschaffung einer glaubhaften, lebendigen Welt mit Menschen voller Sorgen, Hoffnungen und Ängsten gelungen ist, hatte ich bis dahin noch nicht in dieser Intensität erlebt.
Und was nicht in Dialogen vermittelt wurde, hielten kleine Bücher und Briefe fest. So manches traurige Schicksal klärte sich in ein paar Zeilen auf. Diese kleinen Story-Fragmente zu finden und zu lesen, hat faszinierender Weise viel Spaß gemacht. Und nachdem mir all die Charaktere und ihre Leiden diese Welt, die eigentlich doch nur Kulisse sein sollte, so vertraut gemacht hatten, wurde aus dem Hintergrund plötzlich mehr.

Das hat ein Nachspiel
Das Geräusch des Sands unter den Ledersohlen beim Laufen über die Dünen, die heftigen Gewitterstürme über Skellige, die zufällige Begegnung mit einem Wal beim Tauchen, die toskanische Herrlichkeit Toussaints und selbst der dreckige Realismus Velens sind mir in gewisser Weise vertraut geworden.
Die Orte, die anfangs noch riesig erschienen, wurden nach und nach zu erkundetem Terrain, in das ich gerne zurückkehre. Selbst die schmutzigen Ecken Novigrads mit seinen schiefen, teilweise baufälligen Häusern, verströmen einen Charme, der sich als besonders langlebig erweist. Fast kommt es mir vor, als könne ich den Geruch von unzähligen Kaminfeuern riechen, der über Jahrhunderte in die Holzbalken gezogen ist. Auch nach dem Abchluss der Hauptquest, wo es hier eigentlich nichts mehr zu tun gäbe – nicht einmal Nebenaufträge in dunklen Nebenstraßen sind noch offen – spaziere ich gerne durch die große Stadt.
Wie ein Tourist schaue mir die Gebäude an, bewundere die Fachwerkarchitektur und oppulente Sakralbauten. Ich gehe durch unverschlossene Türen und schaue mir an, wie es drinnen so ausschaut. Ich klettere in Dachstühle und wieder herab, tauche unter Brücken her und sehe abends im Hafenviertel die Sonne untergehen.
Freilichtmuseum Toussaint
In Toussaint, dem ich leider nicht zu einem glücklichen Ende für seine Herzogin verhelfen konnte, genieße ich die Pflege meines Hexer-Weinguts und die Anwesenheit von Triss enorm. Ich wünschte mir sogar, der virtuellen Herzdame Geschenke machen oder mit ihr zusammen irgendwelche statischen Feste besuchen zu können. Mit ein paar wenigen weiteren Interaktionsmöglichkeiten hätte dieser Aspekt den Rückzug ins Privatleben des Hexers für mich perfekt gemacht.
Aber selbst in dieser Fassung reicht es mir, durch diese idealisierte toskanische Landschaft zu streifen, in der einfach nichts Böses mehr passiert. Gibt es eigentlich schon einen Begriff für diese Art von virtuellen Spaziergängen? Immerhin macht das Spiel sich mit der Möglichkeit, nach getaner Heldenarbeit weiterspielen zu können, zum Freilichtmuseum in eigener Sache. Da ist es doch nur folgerichtig, wenn Spieler dies entsprechend nutzen.
Ich reite zu hohen Bergen, um gute Aussichtspunkte für die umliegende Landschaft zu haben. Dichte Wälder haben ihren Reiz wegen der angenehmen Kulisse und wirken gerade im Süden des virtuellen Kontinents dank des dichten Blätterdachs tatsächlich kühler – selbst wenn es mir als Strippenzieher vor dem Bildschirm herzlich egal sein könnte, ob Geralt gerade in der Sonne schwitzt oder im Schatten ruht.

Traumwandler oder Zeitreisender?
Gerade, weil es nichts mehr zu tun gibt in diesem Spiel, das davon lebte, hier reichlich zu wirken, möchte ich bleiben. Ich möchte gerne sehen, wie es weitergeht, obwohl ich doch genau weiß, dass gar nichts weitergeht. Die Wechsel von Tag zu Nacht und wieder zu Tag sind nur Illusion. Es gibt keinen mitlaufenden Kalender, keinen Fortschritt, keine Entwicklung. Die Zeit ist angehalten – und dennoch steht sie nicht sichtlich still. Eine paradoxe Zeitreise, die beinahe wie ein Traum erscheint. Vielleicht macht auch das einen Teil des Reizes aus, immer wieder dorthin zurückzukehren.
Heute noch einmal vom Velener Niemandsland nach Oxenfurt laufen. Die alte Schenke in Weißgarten besuchen, wo alles begann. Zum Leuchtturm in Skellige rennen. Mit Triss im Weingut sprechen. Den oppulenten Kurfürstenplatz in Novigrad anschauen. Zum Friseur nach Oxenfurt gehen. An all den Orten, die man im Spiel besucht, gab es etwas zu erleben. Meist mehr, selten weniger erinnungswürdig. Stimmig wirkte es jedenfalls immer. Vielleicht erinnern einen hier und da Zeugen wie gerettete Handwerker oder Kaufleute an vollbrachte Taten.
In jedem Fall fühlt es sich nach einem guten Besuch an, sich zu vergewissen, dass auch alles noch dort ist, wo es sein soll. Diese Welt wurde ja schließlich nicht umsonst gerettet, es wurden Hymnen auf unsere Heldentaten gedichtet. Und Hymnen sind auch das, was die Atomosphäre des Spiels in Verbindung mit allem zuvor Beschriebenen dann zu einem perfekten Wieder-Erlebnis machen. Denn die Musik des Spiels ist einfach überragend. Und das beginnt schon im Hauptmenü.

Den richtigen Ton getroffen
„Wölfe schlafen tief im Wald,
durch den nun der Ruf der Eulen schallt.
Doch nur eine Seele liegt ganz wach,
hat noch an Hexen und Geister gedacht.“
So startet die deutsche Fassung des Spiels, intoniert von einer ebenso zebrechlich wie einsam klingenden Frauenstimme. Während sich die Musik in der Folge langsam ändert und Fahrt aufnimmt, verleiht die einsetzende Vokalise dem Ganzen den mystischen Klang. Hier zeichnet sich in unter drei Minuten bereits alles ab, was im Spiel wiederkehren wird: leise und laute Töne, zerbrechlicher Vokalgesang und bombastische Orchesterstücke; Geigen, Sukas, Trommeln, Flöten und Choräle. Immer passend zur Situation, zur Landschaft und zur Stimmung.
Kurz: Der Soundtrack des Hexers ist verflucht gut! Und die Musik orientiert sich nicht nur klanglich an dem, was man gemeinhin mit mittelalterlichen Klängen verbinden würde (obwohl natürlich für den modernen Hörgenuss intoniert). Die Komponisten nutzten zudem geschickt solche Instrumente, die man hierzulande höchstens noch von Mittelaltermärkten kennen könnte.
Und so entstehen regelrechte Klangsphären, die mit der Umgebung verschmelzen: „The Fields of Ard Skellig“ klingt kalt, aber zugleich doch mystisch und verwächst mit den überwiegend verregneten, stürmischen und gewittrigen Skellige-Inseln zu einer besonderen Erfahrung, die den Eindruck verstärkt, auch einem anderen Kontinent, und nicht bloß einer Gruppe von Inseln, zu sein. Auch wenn die Sonne mal aufzieht, während wir als Hexer auf einem Berg stehen und der Wind das Gras beugt, passen die Klänge zur Stimmung.
Im vom Kriege geschundenen, verarmten und verschmutzen Velener Land begleiten uns langsame Flötenklänge zusammen mit Sukas, die die raue Autmosphäre der Umgebung widerspiegeln. Ein wenig vorsichtige Hoffnung mag man ebenfalls darin erkennen. Im krassen Gegensatz dazu findet auch die Pracht und Ritterlichkeit von Toussaint ihren Niederschlag in der uns umgebenden Musik, die unter anderem auf zitherähnliche Begleitung, Glockenschläge, Gitarren und Fanfaren setzt. Jedes Thema sorgt für eine unverkennbare Stimmung und lässt uns sofort wissen, wo in der Welt wir gerade sind – falls es uns die teils dramatisch unterschiedlichen Landschaften nicht verraten sollten.
Darüber hinaus sind auch alle szenisch entlang der Handlung eingeflochtenen Stücke überragend. „Wake up Ciri“ hat mich beispielsweise sehr viel mehr berührt, als ich erwartet hätte. Doch in der Welt, die nach dem Abschluss der Hauptquest zeitlos bleibt, begleiten mich überwiegend „nur“ noch die atmosphärischen Kompositionen. Und sie machen aus einem an sich schon gradiosen Erlebnis und einmaliges, zu dem ich immer gerne zurückkehre.
Die Melancholie der Klänge lässt auch mich sogar hin und wieder noch wehmütig werden. Ich wünschte, ich könnte wenigstens noch Kleinigkeiten hier erledigen, irgendwem noch helfen, irgendetwas noch entdecken, Ciri und Yennefer wiedersehen. Doch es ist gut so, wie es ist. Ich stromere ebenso zeit- wie ziellos durch die Lande und bin zufrieden damit.
Vielleicht bin ich gestrandet, aber ich bin immerhin glücklich gestrandet. Womöglich wage ich mich an einen weiteren Durchlauf, um alles noch einmal von Anfang an zu erleben. Aber noch nicht gleich. Zuerst gehe ich noch einmal nach Novigrad – und dann sehen wir weiter.

Permalink: https://www.videospielgeschichten.de/gluecklich-gestrandet-mit-the-witcher-3/
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