Gerade der Indie Booth auf der Gamescom 2018 hat es wieder gezeigt: Video- und Computerspiele dienen immer mehr als narratives Medium, um Geschichten und Geschichte erlebbar und begreifbar zu machen.
Zahlreiche Titel erfüllen bereits jetzt diesen Anspruch, aktuell stehen besonders positiv die Spiele „Through the darkest of Times“ sowie „Attentat 1942“ im Fokus, die beide ihre Spieler Geschichte aus dem Dritten Reich aufarbeiten lassen.
Eine Thematik, die Mitte 2018 in erschütternder Weise aktuell ist – und vor über zwei Dekaden auch im Bereich der Computerspiele schon aktuell war.
Im August 2018 war Deutschland ein Ort, in dem sich die breite Masse liberal, menschenfreundlich und tolerant einschätzte. In einigen Landesparlamenten hatte sich als Gegengewicht zu diesen bürgerlichen Werten allerdings schon die AfD eingenistet. Dann gelang es in Dresden einem Mann, der hauptsächlich durch seinen mit Deutschlands Nationalfarben bedruckten Anglerhut auffiel, während einer Demonstration ein Kamerateam des ZDF zu beschimpfen und sogar die Polizei dazu aufzuwiegeln, den Journalisten fast eine Stunde die Dokumentation des Geschehens zu untersagen.
Und als am Morgen des 26. August 2018 ein 35-jähriger Mann in Chemnitz durch die Messerstiche während einer körperlichen Auseinandersetzung starb, griffen Stunden später hunderte Demonstranten rechtsradikaler Gesinnung nach der Kontrolle über die Stadt.
Menschen ausländischen Aussehens wurden durch die Straßen gejagt, eine völlig überforderte Polizei sah den Jagdszenen hilflos zu. Die um sich greifende Selbstjustiz des rechten Mobs kommentierte der AfD-Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier vielsagend auf Twitter: „Wenn der Staat die Bürger nicht mehr schützen kann, gehen die Menschen auf die Straße und schützen sich selber. Ganz einfach! Heute ist es Bürgerpflicht, die todbringende ‚Messermigration‘ zu stoppen!“
Am Abend des 27. August 2018 zogen schon fünftausend rechte Demonstranten durch Chemnitz.
Das ist das gelobte Land, wo Milch und Honig fließt. Aber nur, solang man jeden Eindringling erschießt.
Slime: Sie wollen wieder schießen (dürfen), 2017
Dabei wiederholte sich im so toleranten und offenen Deutschland in diesen Tagen nur die eigene Geschichte. Denn fast auf den Tag genau, 25 Jahre zuvor, sorgte ein tobender Mob von mehreren tausend Personen zwischen dem 22. und 26. August 1992 in Rostock-Lichtenhagen dafür, dass die norwegische Zeitung Dagbladet von der „deutschen Kristallnacht 1992“ schrieb.
Diese Ausschreitungen gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber (ZAst) und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter waren laut Wikipedia „die massivsten rassistisch motivierten Angriffe in Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkrieges.
Nachdem die ZAst am 24. August evakuiert worden war, wurde das angrenzende Wohnheim, in dem sich noch über 100 Menschen aufhielten, vom Mob in Brand gesteckt. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zog sich die Polizei zeitweise völlig zurück und die im brennenden Haus eingeschlossenen Menschen waren schutzlos sich selbst überlassen.“
Doch es blieb nicht bei diesen Nächten der Gewalt. Vielmehr steuerte die rassistisch motivierte Gewalt gegen Personen ausländischer Herkunft in Deutschland auf einen erschütternden Gipfel zu.
In der Nacht zum 11. Oktober 1992 wurde die Aushilfskellnerin Waltraud Scheffler bei einem Überfall auf ein Lokal in Geierswalde bei Hoyerswerda getötet, als sie versuchte, auf die mit „Sieg Heil“-Rufen eindringenden Neonazis einzureden. Ein Neonazi schlug ihr mit voller Wucht eine Holzlatte auf den Kopf.
Nur wenig später warfen in der Nacht auf den 23. November 1992 zwei junge Neonazis brennende Molotow-Cocktails auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln. Neun Menschen wurden schwer verletzt, die 10- und 14-jährigen Mädchen Yeliz Arslan und Ayşe Yilmaz sowie ihre 51-jährige Großmutter Bahide Arslan starben.
Und der Holger Apfel fällt nicht weit vom Stamm, und Max Mustermann zündet ein Flüchtlingsheim an.
Antilopen Gang: Beate Zschäpe hört U2, 2014
In der Nacht auf den 29. Mai 1993 setzten vier Neonazis das Haus der Familie Genc in Solingen in Brand. Es starben fünf Menschen, weitere 17 erlitten zum Teil bleibende Verletzungen. Dieser Anschlag gilt bis heute als Höhepunkt einer Welle rassistisch motivierter Gewalttaten mit rechtsextremen Hintergründen, die Anfang der 1990er Jahre Deutschland erschütterte – ein Land, das gerade erst sekttrunken die Wiedervereinigung gefeiert hatte, drohte nur ein paar Jahre später in einem braunen Sumpf aus rechtsradikaler Gewalt zu versinken.
Was 1991 in Hoyerswerda seinen Anfang nahm, als bis zu 500 Personen ein Wohnheim für Vertragsarbeiter sowie ein Flüchtlingswohnheim angriffen, 32 Menschen verletzten und schon damals keine Gegenwehr durch die Polizei erfuhren, gipfelte keine zwei Jahre später in Solingen in einer derart brutalen Eruption des Mordens, dass sich die gesamte deutsche Zivilgesellschaft plötzlich mit einer riesigen, klaffenden Wunde des Rassismus und des Hasses konfrontiert sah.
Speziell Jugendliche galten bei Politik und Pädagogik als besonders gefährdet. Rechtsradikale Gruppierungen sprachen junge Menschen gezielt an, um für ihre Ideologie zu werben, rechtsradikale Schriften und Musik-CDs vor Schulen zu verteilen oder einfach nur Zweifel und Unmut gegen Ausländer zu säen.
An den Stammtischen der Eltern blühten die Ressentiments, teilweise auch das Hass auf alles aus dem Ausland. Sprüche machten die Runde – „Die Ausländer nehmen uns die Frauen weg“, „Die Ausländer nehmen uns die Arbeit weg“. Viele Menschen suchten in Ausländern den ultimativen Sündenbock für das eigene Versagen. Mitunter strahlte dieses Gedankengut auch auf die eigenen Kinder ab.
Schnell formierte sich eine bürgerliche Gegenbewegung, die vor allem in der Musik Ausdruck fand. Am 9. November 1992 versammelten sich 100.000 Menschen auf dem Chlodwigplatz in Köln, wo Künstler der Kölner Musikszene zu einem Konzert „gegen Rassismus und Neonazis“ aufgerufen hatten – und von den Bläck Fööss über Willy Millowitsch bis hin zu BAP alle kamen.
Am Nachhaltigsten aber war der Erfolg eines Songs von „Die Ärzte“. Die hatten sich 1988 eigentlich schon aufgelöst, aber „nach Hoyerswerda [s.o.] konnten wir nicht mehr schweigen“, wie Schlagzeuger Bela B. 2007 gegenüber MTV erzählte. Ihr am 10. September 1993 veröffentlichter „Schrei nach Liebe“ verkaufte sich innerhalb kurzer Zeit 450.000-mal.
Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe, Deine Springerstiefel sehnen sich nach Zärtlichkeit.
Die Ärzte: Schrei nach Liebe, 1993
Auch die Politik sah sich zum Handeln gezwungen – und handelte. Mit einer Düsseldorfer Werbeagentur entwickelte die Arbeitsgruppe „Verfassungsschutz durch Aufklärung“ der Innenministerkonferenz eine Werbekampagne gegen Extremismus und Ausländerfeindlichkeit. Motto: „Fairständnis – Menschenwürde achten – Gegen Fremdenhass“.
Das Programm verschlang Kosten von zunächst 4,168 Millionen Mark (die sich bis zum Ende 1999 auf über 13 Millionen Mark summierten) und lief Ende November 1993 mit Plakaten, Anzeigen und Aufklebern an. Die Kampagne hatte sowohl eine aufklärende als auch eine motivierende Funktion.
Speziell Jugendliche wurden über das Entstehen, die Hintergründe und das Ausmaß von Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt informiert. Gleichzeitig wurden Jugendliche motiviert, über ihr Verhalten gegenüber Fremden nachzudenken und Möglichkeiten zu suchen, wie Gewalt und Fremdenfeindlichkeit gewaltfrei begegnet werden kann.
Doch Plakate, Anzeigen und Aufkleber erschienen den Innenministern schon damals als nicht mehr ganz so zeitgemäßes Mittel, um die Zielgruppe der Heranwachsenden zu erreichen. So beauftragte man das Bochumer Unternehmen Art Department, um ein Computerspiel zu entwickeln, dass die Inhalte der „Faiständnis“-Kampagne in geeigneter Form an Jugendliche und Adoleszente transportieren konnte.
Art Department, 1993 vom damals erst 22-jährigen Markus Scheer und dem 24-jährigen Frank Ziemlinski gegründet, spezialisierte sich sofort auf die Entwicklung von Werbespielen – kleinen Titeln von wenigen Stunden Spielzeit, in denen eine Marke oder ein Produkt offen beworben wurde.
Ziemlinski erläutert: „Das grundlegende Konzept, die Geschäftsidee, leuchtete mir sofort ein: wir entwickeln für einen Werbepartner ein kleines Spiel als Werbemittel und lassen uns die Entwicklung bezahlen. Wir haben uns dann das Ziel gesetzt, innerhalb von drei Monaten einen Auftrag für ein Spiel zu bekommen oder es ganz sein zu lassen – und wenige Tage vor Ablauf unserer selbst gesetzten Frist hatten wir dann tatsächlich einen Auftrag.
Es war der ‚Karamalz Cup‘ der Brauerei Henninger.“ Allein 1993 erschienen vier Werbespiel-Adventures (Snack-Zone, Geheimprojekt DMSO, Backstage, Telekommando 2), die alle auch eine sehr weite Verbreitung fanden.
Erdal kommt aus der Türkei, und wer hier gegen ihn ist, ist auch mein Feind!
Die Toten Hosen: 5 vor 12, 1991
Art Department hatte sich schnell auf das klassische Point-and-Click-Adventure als favorisiertes Genre festgelegt. Frank Ziemlinski erläuterte diese Designausrichtung so: „Wir haben einfach versucht, ein Produkt zu verkaufen, das innerhalb des vom Kunden gesteckten Rahmens am meisten Sinn machte. Oftmals war ein Adventure einfach am besten geeignet, die doch sehr komplexen Wünsche des jeweiligen Kunden zu transportieren.“
Durch die Anfang der 1990er Jahre von LucasArts und Sierra initiierte Welle von herausragenden Adventurespielen und das damit entstandene große Käuferinteresse am Genre waren Point-and-Click-Adventures auch ein sicheres, lohnendes Geschäft.
Der Auftrag des Bundesinnenministeriums wurde also als Adventure abgeliefert – schnell trug das Projekt den Namen „Dunkle Schatten“.
Das Unternehmen entwickelte nicht nur „Dunkle Schatten“ für das Innenministerium, sondern auch noch Werbe-Adventures für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit („Hilfe für Amajambere“, 1994), das Bundesministerium für Wirtschaft („Skyworker“, 1994) und das Umweltministerium NRW („Die Enviro-Kids greifen ein“, 1994).
Auch andere Werbespielproduzenten wurden von Regierungsbehörden in Anspruch genommen, so entwickelte Rauser Advertainment für das Bundesverkehrsministerium („Das Netz“, 1994), Glamus wurde vom Bundesamt für Verfassungsschutz („Was steckt dahinter?“, 1994) und dem Auswärtigen Amt („Auf dem Weg nach Europa“, 1991-95) beauftragt, CAT vom Bundesministerium für Landesverteidigung („Schutz und Hilfe“, 1995).
Knapp anderthalb Jahre nach dem Anschlag von Solingen meldete die taz am 8. Dezember 1994: „Ein Computerspiel für Jugendliche als Mittel gegen Gewalt und Rechtsextremismus hat Innenminister Günther Beckstein (CSU) gestern in München vorgestellt. Die Diskette mit dem Titel ‚Dunkle Schatten‘ wird im Rahmen der bundesweiten ‚Fairständnis‘-Kampagne vom bayerischen Innenministerium kostenlos verschickt.
Bundesweit werden etwa 60.000 Exemplare versandt. „Dunkle Schatten“ ist ein Abenteuerspiel, bei dem man in die Haut des 16-jährigen Schülers Karsten schlüpft, der einen Jugendtreff mit aufbauen will. Dabei hat er eine Fülle von Aufgaben zu bewältigen, bei denen er mit Gewalt und Fremdenfeindlichkeit konfrontiert wird.“
Doch bei diesen 60.000 Exemplaren blieb es nicht. Frank Ziemlinski: „Heute nennt man es Raubkopie, aber damals war es absolut üblich, sich Spiele von Freunden einfach kopieren zu lassen. Wenn also erst mal eine gewisse Grundauflage verteilt war, machte die Kopierszene aus 1000 Disketten schnell einige 100.000. Da mussten wir uns gar nicht anstrengen, das lief fast automatisch.
Für unsere Werbespiele der perfekte Vertriebsweg, weit vor dem Internet. Und „Dunkle Schatten“ war ohnehin Freeware.“
Rostock, Hoyerswerda, auch wenn es niemand gern erwähnt… so vertreten echte Deutsche Ihre Nationalität.
ZSK: Wenn so viele schweigen, 2006
„Dunkle Schatten“ schwamm plangemäß auf der Erfolgswelle der Point-and-Click-Adventures mit und gewann schnell viele Fans. Die Handlung ließ sich recht kompakt zusammenfassen: Der Spieler steuert die Hauptfigur des Spiels, den 16-jährigen Karsten Wegner, der gemeinsam mit anderen Jugendlichen eine alte Werkhalle zu einem Jugendtreff ausbauen will.
Immer wieder auftretende Schwierigkeiten können nur mit Hilfe anderer Personen überwunden werden. Gleichzeitig muss Karsten sich auch mit einer Gruppe von Rechtsradikalen auseinandersetzen, die Ausländer schikanieren und die Eröffnung des Jugendtreffs sabotieren wollen. Bis zur Eröffnung des Jugendtreffs bleiben Karsten fünf (Spiel-)Tage, in denen es allerlei zu regeln gibt.
Das Adventure blieb zwar zugunsten der Zugänglichkeit unter dem spielerischen Anspruch eines Monkey Island, nahm aber Bezug zu den zurückliegenden Anschlägen und der damaligen Gesellschaft.
So lernt der Spieler im Spielverlauf einen türkischen Gemüsehändler kennen, der bei Karsten um die Ecke wohnt. Später im Spiel wird auf dessen Haus ein Brandanschlag verübt; die anschließend noch übrige Brandruine ähnelt auffällig den Resten des Solinger Wohnhauses, in dem Familie Genc lebte.
Auf einer beschmierten Mauer finden sich die Parolen „Deutschland den Deutschen“ und „Ausländer raus“ – in den Jahren um 1992 leider keine seltenen Graffiti.
Karstens Vater trägt im heimischen Wohnzimmersessel den damals auch in der bürgerlichen Gesellschaft üblichen Rassismus offen zur Schau, indem er fordert, angesichts der recht hohen Arbeitslosigkeit „mal die ganzen Ausländer rauszuwerfen“, gleichzeitig aber über seinen Lieblingsitaliener Luigi sagt: „Der Luigi nimmt ja keinem die Arbeitsplätze weg.“
Die offene Ambivalenz stört Papa aber nicht, der weise schlussfolgert: „Die kommen zu Hunderttausenden hierher – entweder nehmen die uns die Arbeitsplätze weg, oder die leben auf unsere Kosten.“ Karstens Kumpel Jörg wird beim Einkaufen von einem Türken versehentlich angerempelt und angeblich angemacht: „Sagt der zu mir ‚Özürdilerim‘. Muss irgendeine Sauerei sein.“ Das nahm Jörg zum Anlass, den Türken zu ohrfeigen – ohne zu bemerken, dass sich der Türke lediglich in seiner Muttersprache entschuldigt hatte.
Und um noch einen draufzusetzen, spielt Jörg Karsten dann ganz stolz eine der Rock-CDs vor, die er von einem Typen an der Schule geschenkt bekommen hat – ohne diesmal zu bemerken, dass es sich um Rechtsrock der örtlichen Neonazigruppierung handelt.
Der Deutschlehrer Hans-Peter Franz ließ 1996 die Schüler seines Deutsch-Grundkurses (11. Klasse) auf „Dunkle Schatten“ los. Er erläuterte: „Betroffenheit musste nicht konstruiert werden, sie ist alltägliche Realität, direkt oder vermittelt, denn 13 von 16 Schülern sind ‚Ausländer‘.“
Die Jugendlichen hatten nach erfolgreichem Abschluss des Adventures nicht nur Lob übrig, sie äußerten auch Kritik. Franz: „Es sind die im Spiel vorkommenden Ausländer alle nur lieb und brav. Herr Hajem, ein türkischer Lebensmittelhändler, schimpft zwar, wenn ein rechtsradikaler Jugendlicher in seinem Laden randaliert, mehr aber auch nicht.
Auch nach einem Brandanschlag auf ein ausschließlich von Türken bewohntes Haus fallen keine bösen Worte. Das Spiel insgesamt wurde von den Schülern als realitätsfern kritisiert. Besonders wurde in Frage gestellt, dass sich Rechtsradikale so schnell und nur durch Argumente in die Flucht schlagen lassen.“
Die moralische Intention des Spiels, in Form von mehr Toleranz und mehr Miteinander positive Werte vermitteln zu wollen, erreichte Franz‘ Deutschgrundkurs nicht komplett.
Ein Schüler brachte es so auf den Punkt: „Im Computerspiel, das war doch nur Theorie, im wirklichen Leben merken wir erst, was es heißt, sich selbst gegen ausländerfeindliche und intolerante Parolen wehren zu müssen.“
Denn auch wenn das Spiel zahlreiche Argumente und Informationen gegen Ausländerfeindlichkeit lieferte, so versuchte Franz den seinerzeit grassierenden Rassismus in der Gesellschaft damit zu erklären, „dass es offensichtlich schwerer fällt, positiv zu argumentieren, als einfach nur Vorurteile nachzuplappern.“
Im Laufe der 1990er Jahre ebbte die Flut braunen Gedankengutes langsam wieder ab. Die Politik hatte Gesetze geschaffen, um die Zuwanderung nach Deutschland zu regeln, die Mitte der Gesellschaft hatte Neonazis ausgegrenzt.
Die Menschen ist Ost- wie Westdeutschland konzentrierten sich auf ein hedonistisches Lebensgefühl, das Jahrzehnt bekam den Anstrich einer Spaßdekade – die Love Parade lässt grüßen. Von „Dunkle Schatten“ erschien 1996 ein Nachfolger, der in Version wieder als Point-and-Click-Adventure daherkam.
Titelheld Karsten Wegener war nun kein Schüler mehr, sondern Lehrling in einer Lithografiefirma. Er bekam die Aufgabe zugewiesen, eine Homepage für seine Berufsschule zu erstellen. Nach kurzer Zeit kam er einer Gruppe Rechtsradikaler auf die Fährte, die einen Anschlag auf ein Asylbewerberheim planten.
Teil 2 (wieder von Art Department) glänzte mit toll gezeichneter SVGA-Grafik und ansprechender Musik. Der dritte Teil von „Dunkle Schatten“ aus dem Jahr 2000 hat mit den Vorgängern nicht mehr viel gemein und wird eher in einer „Myst“-ähnlichen Mechanik und Perspektive gespielt.
Aus Art Department wurde 1998 übrigens Phenomedia. Und wem das noch nichts sagen sollte: Phenomedia schuf im gleichen Jahr für die Whiskeymarke Johnnie Walker das Werbespiel „Moorhuhnjagd“, bei dem ein gleichnamiges braunes Comic-Federvieh innerhalb von 90 Sekunden möglichst oft per Mausklick abgeschossen werden musste. Heute legendär, legte das Moorhuhn um die Jahrtausendwende zahllose deutsche Bürolandschaften lahm.
2018 gibt es kein „Dunkle Schatten“ mehr. Die im Spiel benutzte Jugendsprache wirkt 25 Jahre später eigentlich nur niedlich bis ulkig, aber keinesfalls mehr den Bedürfnissen der jugendlichen Bevölkerung entsprechend.
Was es aber wieder gibt, und das vielleicht noch stärker als Anfang der 1990er, sind Menschen wie Karstens Vater, der alle Ausländer rausschaffen wollte – aber seinen Lieblings-Pizzabäcker dann doch nicht.
Heute rufen Menschen wie Karstens Vater nach Stacheldrähten und Schießbefehl an Deutschlands Grenzen, sie regen sich furchtbar auf und sind der Meinung, dass, und „das wird man ja wohl noch sagen dürfen“, jeder nach Deutschland kommende Mensch nichts anderes im Sinn hat, als möglichst viele Anschläge und Attentate in diesem Land zu begehen.
Darum ganz klar gegen Nazis im alltäglichen Geschwätz! Auf der Straße, in der S-Bahn, in der Kneipe und im Netz.
Wizo: Ganz klar gegen Nazis, 2014
„Dunkle Schatten“ hat zu seiner Zeit eine Menge Jugendlicher und Teenager begeistert und ist dieser Generation auch heute noch in meist sehr positiver Erinnerung geblieben. Es gab allerdings damals die Kritik, dass das Spiel ohnehin nur von dem Teil der Bevölkerung gespielt würde, der überhaupt keine rassistischen Gedanken habe und Menschen aller Nationalitäten offen und freundlich gegenüberstand.
Ob „Dunkle Schatten“ den ein oder anderen Menschen zwischen 10 und 100 Jahren vom rechtsradikalen Gedankengut weggeführt hat, ist nicht überliefert. Aber viel wichtiger ist, dass dieses kleine Gratisspiel in seiner Thematik auch 2018 wieder erschreckend aktuell ist.
Through the Darkest of Times und Attentat 1942 sind aktuelle Beispiele für zwei überaus wichtige Spiele, die über die dunkelste Epoche der deutschen Geschichte aufklären und diese bis zu einem gewissen Punkt fühlbar machen. Vielleicht sind sie das „Dunkle Schatten“ dieser Tage.
Vielleicht braucht Deutschland aber auch einfach noch mehr dieser Spiele, vielleicht braucht diese Zeit ein eigenes „Dunkle Schatten“, um genau wie damals die deutsche Zivilgesellschaft auf ihren äußersten rechten, braunen Rand aufmerksam zu machen.
Es ist nicht davon auszugehen, dass die deutsche Regierung wieder den Schritt unternehmen wird, die Bevölkerung mit Hilfe von Computerspielen auf das Problem von rechts aufmerksam zu machen. Dabei ist dieses Medium in den letzten 20 Jahren so unglaublich gewachsen, dass es mit seinen gigantischen Möglichkeiten problemlos eine derart große narrative Kraft entfalten könnte, um mit entsprechenden Produktionen wieder das Bewusstsein hervorzurufen, dass Rassismus (so unterschwellig und bürgerlich er heutzutage getarnt sein mag) in Deutschland keinen Platz hat.
Es ist auch mein Land – und ich will nicht, dass ein Viertes Reich draus wird.
Die Toten Hosen: Willkommen in Deutschland, 1994
Es ist leider an der Zeit, „Dunkle Schatten 4“ zu erzählen. Und alles, was wundervolle Spiele wie „Through the Darkest of Times“ und „Attentat 1942“ dazu beitragen, kein Viertes Reich entstehen zu lassen, kann gar nicht genug gewürdigt werden.
2018 heißt es auf Deutschlands Straßen und in Deutschlands Kneipen nicht mehr so offensichtlich „Raus mit allen Ausländern!“. Die schlimmsten Aussagen beginnen mit „Ich bin ja kein Nazi, aber…“.
Was Karsten Wegener heute wohl mit seinen 40 Jahren dazu sagen würde?
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