Über BioShock müsste eigentlich schon alles geschrieben worden sein. In den zehn Jahren seit Erscheinen wurden diverse Artikel darüber verfasst, warum es wahlweise ein sehr gutes oder ein ziemlich schlechtes Videospiel zu sein habe.
Clint Hocking erfand mit dem Begriff der Ludonarrativen Dissonanz ein ganzes Konzept anhand von BioShocks durchwühlbaren Mülleimern und halboffenen Abschnitten. Einiges vom hier Geschriebenen wird so auch schon irgendwo anders stehen, ist mir jedoch zumindest in der deutschen Bloglandschaft noch nicht untergekommen. Daher lohnt es sich, diese Punkte erneut zusammenzutragen und zu erläutern, warum BioShock mehr ist als als der eine Moment, an den sich alle erinnern.
Dennoch: über BioShock zu reden ohne den Moment des Twists zu thematisieren wäre entweder unmöglich oder sinnlos. Wenig überraschend enthält dieser Text eine Menge Spoiler. Ihr hiermit seid gewarnt.
BioShock spielt mit dem Spieler. In ihrer simpelsten Form könnte man diese Aussage so stehen lassen. Dabei gibt es sich Mühe, die nicht immer auf den ersten oder zweiten Blick ersichtlich wird; Mühe, die es sich lohnt, aufzudecken.
Der große Twist in der Mitte des Spiels funktioniert gut, weil er sorgfältig aufgebaut wird. Ein Großteil nicht nur des Spiels selbst, sondern auch des Aufbaus zum Spiel hin ist darauf ausgelegt, ganz bestimmte Verhaltensmuster in Spielern zu wecken und entsprechende Reaktionen zu erwarten. Der Spieler wird in eine Gedankenfalle gelockt, aus der ihn der Moment der Offenbarung plötzlich herausreißt. Besagter Lockvorgang funktioniert im Wesentlichen über zwei Arme, die hier beide im Detail erkundet werdet sollen: Charakterbindung und Genrekonventionen. Beginnen wir damit, ersteres aufzurollen.
Involvierung durch Charakterbindung
Der Avatar in BioShock ist ganz bewusst auf eine bestimmte Gruppe an Menschen innerhalb der Spielerschaft zugeschneidert. Er ist weiß, männlich und Amerikaner, dazu Rechtshänder. Sein Name lautet Jack, eine innerhalb der englischsprachigen Welt sehr weit verbreitete Kurzform, die sowohl männlich als auch weiblich sein kann. Kurzum: Er ist Teil einer sozialen Gruppe, die nach gängiger Auffassung einen großen Teil der Spieler ausmacht, die sich von ‚Spielen wie BioShock‘ angesprochen fühlen. Spieler – eben im Sinne von ‚die meisten‘ – sollen sich in den Protagonisten hinein versetzen können.
Dazu kommt, dass Jack bis auf einen einzigen Satz im Intro des Spiels kein Wort verliert – der berühmte Silent Protagonist-Tropus ist bis heute ein beliebtes, wenn auch umstrittenes Mittel, um Spielern die Identifikation mit dem Avatar einfacher zu machen. Ob Geschlecht, Ethnie und andere Merkmale des Avatars vom Entwickler so festgelegt, oder von der Marketingabteilung des Publishers eingebracht wurden, wissen wir nicht. Hinweis darauf, dass letzteres zumindest der Fall sein könnte, gibt eine simple Beobachtung im Spiel: Keines der Merkmale Jacks hat irgendeinen Einfluss auf die Geschichte. Sie – genau wie der Twist – würde exakt so weiter funktionieren, würde man Jack gegen eine Frau, einen Mann japanischer Abstammung oder einen dunkelhäutigen Linkshänder austauschen. Kontrastiert wird das vor allem durch den dritten Teil der Serie, BioShock Infinite, in dem der Avatar Booker DeWitt sich als white male protagonist innerhalb einer Welt voller Rassismus bewegt. Hier würde eine weibliche, dunkelhäutige Mrs. DeWitt andere Reaktionen von ihrer Umwelt bekommen müssen – in Rapture dagegen würde ein*e Jack jeglicher Ausrichtung gleich empfangen.
Als möglichst leere Leinwand, die dem Großteil der Spielerschaft möglichst nahe steht, soll Jack den Spieler also so direkt wie möglich zum eigentlichen Protagonisten machen, die Trennung durch die undurchdringliche Wand des Bildschirms so unspürbar wie möglich machen. Psychologen sprechen von Embodiment, Verkörperung, wenn außerkörperliche Wahrnehmungen wie Teile unserer selbst wahrgenommen werden und wir entsprechend darauf reagieren, etwa durch Zurückzucken, wenn der Protagonist einen Schlag erleidet, dem wir physisch logischerweise gar nicht ausweichen können. BioShock geht so weit, dieses Embodiment erzwingen zu wollen, indem es bereits zu Anfang simuliert, verkörpert zu sein: Steigt Jack aus dem Wasser, so bilden sich auf dem Bildschirm Wassertropfen, die langsam abperlen und verdunsten. Dieses Mittel wird oft eingesetzt, um zu simulieren, dass sich die Kamera, durch die der Spieler ins Geschehen blickt, im Auge des Protagonisten befindet – er im nächsten logischen Schritt also der Protagonist ist.
Denkt man einmal darüber nach, versteht man schnell, wie seltsam das anmutet – wird das echte eigene Auge nass, sieht das ganz sicher nicht so aus wie Tropfen auf der Linse. Es mutet viel mehr noch eher nach Kamera oder gar Glasauge an. Trotzdem; vielleicht durch Konditionierung über Filme und andere Videospiele fühlen wir uns von diesen Effekten oft stärker involviert als ohne sie. Die Botschaft „Du steckst jetzt im Körper dieses Avatars“ ist eine emotionale, keine rationale, und emotionale Nachrichten werden von unserem Gehirn deutlich schneller verarbeitet und weniger kritisch durchleuchtet. Bis zum zweiten Nachdenken, bis zum Glasaugen-Gedanke kommen wir gar nicht, bevor die Involvierung einsetzt.
Auch beim wichtigsten Charakter im Spiel, den der Spieler nicht selbst steuert, legt BioShock viel wert auf Bindung an den Spieler. Atlas, der Jack über die gesamte erste Hälfte des Spiels per Radio begleitet und der schlussendlich den Endgegner darstellt, wird für den Spieler in ein besonderes Vertrauensverhältnis gerückt. Anthony Burch erläutert in seinem Rev Rant zu Character Empathy, wie sich besondere Beziehungen zu Nichtspielercharakteren ebenso wie zu Avataren nur dann aufbauen, wenn ein gewisser Common Ground besteht.
In den meisten Fällen sollte diese gemeinsame Ebene zwischen Spieler und relevanter Figur leer sein, sprich: Der Spieler sollte die Figur zum gleichen Zeitpunkt und auf die gleiche Weise kennenlernen wie der Avatar die Figur oder die Welt den Avatar. Selten lässt sich eine bestehende Beziehung einem Spieler vermitteln, der in medias res einsteigt und dann auf Basis von besagter Beziehung Aufgaben erledigen soll, die ihm überhaupt nichts bedeuten. Das von Burch als Beispiel geführte InFamous ist auch in meinen Augen ein Paradebeispiel für ein solches misslungene Avatar-Sidekick-Verhältnis.
Als Jack Rapture zum (scheinbar) ersten Mal betritt, wird er von dem ihm unbekannten Atlas über Funk kontaktiert. Der erste Kontakt des Spielers mit Atlas ist also derselbe wie von Jack. Alles vertrauenswürdige, was Atlas für Jack tut, tut er damit auch für den Spieler. Und da die erste Handlung Atlas‘ Jack gegenüber eine Rettungsaktion darstellt, ist das Grundvertrauen gegeben. Es erscheint also logisch – sowohl aus der Motivation des Avatars als auch aus der Analyse des Spielers heraus – der Stimme aus dem Radio, die uns offenbar wohlgesonnen ist und sich in Rapture auskennt, zu folgen. Seine Ratschläge ergeben ja auch Sinn; schließlich wollen wir ja aus der beklemmenden Tauchkapsel aussteigen und uns eine Waffe suchen, sowohl aus emotionaler Beklemmung heraus, unbewaffnet in der Dunkelheit zu stehen, als auch um das Spiel voran zu bringen. Und schon an diesem Punkt beginnt BioShock, fließend überzugehen vom cleveren Umgang mit den Charakteren hin zur zweiten Art der Manipulation am Spieler: Zum Ausnutzen von Genrekonventionen. Denn warum eigentlich können wir uns nicht umdrehen und die Tauchkugel zurück an die Oberfläche nehmen?
Genrekonventionen: Erwartungen nehmen den Spieler auf den Arm
Im vorherigen Abschnitt habe ich von ‚Spielen wie BioShock‘ gesprochen. Was für Spiele? First Person Shooter selbstverständlich.
Wer BioShock kennt, der mag nun eine Augenbraue heben. BioShock besteht zwar zu einem gehören Teil aus Kampf, der nicht unwesentlich mit Schusswaffen ausgetragen wird, und es wird auch aus der First Person-Perspektive gespielt. Ein FPS ist es dennoch wohl eher im weitesten Sinne aufgrund seiner weiteren Systeme, seiner Schleichmechaniken und einiger Dinge, auf die ich später noch zurückkomme.
Das Spiel selbst sagt es dennoch ganz klar so, schon nach dem Tastendruck auf den Neues Spiel-Button: Die einzelnen Schwierigkeitsgrade werden bemessen nach dem Geschick in First Person Shootern, das sich der Spieler selbst zutraut.
Das mag subtil sein, beinahe nichtig klingen, aber schon hier verorten wir das Spiel beim ersten Durchgang in einer Schublade und passen uns deren uns bekannten Gegebenheiten an. Shooter, also: Schießen, töten, der (meist linearen) Geschichte folgen, die eigentlich nur aus Ausrede dient, mehr schießen zu dürfen. Das ist natürlich eine übertriebene Darstellung, aber sie dient zur einfachen Darstellung des Kniffs, den BioShock mit der Psyche des von Entwickler oder Publisher erwarteten Durchschnittspublikums versucht. Eines Durchschnittsspielers, der wie oben erwähnt angeblich weiß, männlich und sehr shooteraffin ist.
Mit diesem Mindset ist es nicht schwer zu verstehen, warum wir BioShock spielen, wie es gespielt werden will. Warum schwimmt Jack nach seinem Flugzeugabsturz auf den Leuchtturm zu? Logisch, weil er nicht ertrinken will. Warum lassen wir Jack schwimmen? Wir merken schnell, dass er gar nicht ertrinken kann, und selbst wenn, würde es uns ja nicht weh tun. Aber wir wollen das Spiel spielen, also lassen wir uns darauf ein, was es von uns zu wollen scheint.
Ebenso verhält es sich mit Atlas‘ Vorschlägen. Natürlich folgen wir dem Ratschlag, uns eine Waffe zu besorgen; dafür spielen wir das Spiel schließlich. Natürlich ergibt es Sinn für uns, was Atlas sagt, wenn er uns die Welt von Rapture erklärt – wir wollen ja verstehen, wie wir das System ausnutzen können, um stärker zu werden. Auch, dass er Jack dazu rät, die Little Sisters zu ernten statt sie zu retten, stört uns nicht – Der Gedanke dahinter, nämlich den Vorteil für den Spieler zu maximieren, leuchtet uns vollkommen ein. Es wäre seltsam, all das zu hinterfragen, genauso seltsam, wie in Call of Duty darüber zu grübeln, warum man überhaupt auf die Gegner schießen sollte. Fortschritt, Aufwertung und der Genuss der Spielmechaniken sind der reine Sinn unserer Spieltätigkeit, also tun wir all das mit Freude.
Dabei entgehen vielen Spielern die subtilen Hinweise, die BioShock darauf bietet, kein Standard-FPS zu sein. Warum Jack nicht redet, ist den meisten Spielern sicher egal; fällt ihnen dabei aber auch auf, dass er gar nicht mit Atlas reden kann, weil die Funkverbindung über ein Radio funktioniert, er also gar nicht antworten könnte? Vermutlich nicht. Manch einen Spieler mag es stören, dass die erste Waffe (und die einzige, die man theoretisch im gesamten Spiel benutzen muss) keine Schusswaffe ist, sondern ein Knüppel, noch dazu ein improvisierter. Doch wie viele Spieler werden diesen Hinweis verstehen, zumal nur zwei Räume weiter die erste Pistole in ihrem Kinderwagen für den Spieler bereit liegt?
Auch einige Spielmechaniken könnten als Hinweis darauf dienen, dass von BioShock mehr zu erwarten ist als von einer linearen Shootergeschichte. Die Welt ist relativ offen, einzelne Bereiche können in beliebiger Reihenfolge erkundet und für Belohnungen durchsucht werden; das enthaltene Rollenspielsystem, das in ein rudimentäres Schleichsystem einfließt, zeugt ebenfalls von höheren Ambitionen. Am interessantesten sind wohl die Plasmide, die Jack in der linken Hand trägt und wie die Zaubersprüche eines Fantasierollenspiels benutzt. Die durch Genmanipulation erklärten Plasmide brechen die Shooter-Illusion wohl am meisten und untermauern sie gleichzeitig durch die durch sie möglichen taktischen Optionen im Kampf. Manch Kritiker hat die ineinander gewürfelten Systeme, die BioShock dem Spieler serviert, als unausgegoren und wenig sinnvoll abgetan. Aufgrund der Beobachtungen in diesem Text behaupte ich jedoch, dass sie einen hervorragenden Job dabei machen, die narrative Intention des Spiels im Gameplay zu verschleiern und den Spielern gleichzeitig die Chance zu geben, sie aufzudecken. Ob das von Anfang an so geplant war oder ob Entwickler Irrational Games lieber ein perfekt auf seine einzelnen Teile eingestimmtes Taktiksystem gebaut hätte, ist im Sinne der Wirkung des Endprodukts schon beinahe uninteressant.
Das große Ganze: Woher kommt BioShocks Geschichte und wo will sie hin?
Über den großen Storytwist in der Mitte von BioShocks Erzählung muss ich Lesern dieses Textes wohl keine große Zusammenfassung mehr liefern. Jack, der von Anfang an unter der Gedankenkontrolle des als Atlas getarnten Frank Fontaine stand, wurde entsprechend zu allen Aktionen gezwungen, ohne es zu merken – und damit auch der Spieler. Was wir als Genrekonvention achselzuckend abgetan haben, stellt sich als bewusster Schlag gegen unser eigenes Spielverhalten heraus. BioShock kritisiert also das blinde Folgen von Befehlen, indem es dem Spieler vor Augen führt, dass der Protagonist nur ein willenloser Sklave ist. „A man chooses, a slave obeys“ skandiert Andrew Ryan in seinem letzten Atemzug. Über die Charakterbindung – sofern sie funktioniert – fühlt sich der Spieler darüber direkt angegriffen. Der große Twist ist ein Appell, mit offenen Augen an Spiele heranzugehen und solche zu identifizieren, die sich wirklich nur auf den Konventionen ihrer Vorgänger ausruhen.
Aber natürlich ist der Moment, in dem sich Jacks Geschichte auf links dreht nicht alles, was BioShock sich vornimmt und zu bieten hat. Denn das dystopische Unterwassersetting Raptures ist nicht nur Bühne für die Kritik an der Spielerkultur, sondern selbst Gesellschaftskritik.
Dafür ist es wichtig zu wissen, die literarische Vorlage für BioShock zu kennen. Denn das Spiel ist kein alleinstehendes Machwerk, sondern im Gegenteil eine sehr direkte Antwort auf ein anderes Werk: Atlas Shrugged von Ayn Rand. Der Roman aus den Fünfzigern dient als Rands Manifest zum Objektivismus, einer Ausstrahlung des Kapitalismus, in dem der Egoismus treibende Kraft und der Markt vollkommen ungeregelt sein soll. Laut Rand geht es allen gut, wenn jeder an sich selbst denkt. Der Markt profitiert angeblich vom Egoismus der Teilnehmer, indem der Profitwille von Unternehmern Stellen für Arbeitnehmer bildet und Aufsstiegschancen eröffnet.
Dieser Auswuchs des ökonomischen Idealismus mag uns wie eine überspitzte Perversion des Kapitalismus vorkommen, in den Vereinigten Staaten von Amerika jedoch wird auf diese Perspektive jedoch auch noch heute große Stücke gehalten. Atlas Shrugged ist beliebte Schullektüre innerhalb den U.S.A., und andere Bücher Rands sollen nach Aussage der Beteiligten die Regierung um Donald Trump auch noch heute ganz wesentlich beeinflussen. Der Individualismus wird von Rand zur höchsten und einzigen Religion erhoben – und damit der Altruismus aus dem Idealbild der Wirtschaft komplett verbannt. In ihren Büchern funktioniert dieses System; Protagonisten wie Howard Roark in Der Ewige Quell und Dagny Taggart aus Atlas Shrugged profitieren davon, und auch ihre Umwelt scheint nicht darunter zu leiden, sofern sie demselben Prinzip folgt. Eine Ansicht, die sich U.S.-Amerika seit der Begründung des amerikanischen Traums zu Herzen nimmt, lange bevor Ayn Rand sie in literarische Form goss. Kritik an diesem Grundpfeiler des amerikanischen Traum trifft also besonders Nordamerikaner hart. BioShocks Zielpublikum ist also nicht nur weiß und männlich, sondern im Idealfall auch noch U.S.-Bürger.
Die Parallelen zwischen Atlas Shrugged und BioShock sind schwer zu übersehen: Atlas, der im Titel und auf dem Cover von Ayn Rands Buch die Welt auf den Schultern trägt, führt in BioShock den gesamten Plot nach seiner eigenen Choreographie. Andrew Ryan, der idealistische Gründer Raptures und Anhänger eines absolut unkontrollierten Kapitalismus, besteht namentlich aus einem Anagram der Romanautorin – Andrew Ryan, Ayn Rand – und teilt sogar ihren Lebensweg als russische Auswanderin. Raptures Ökonomie ist eine exakte Kopie von Ayn Rands gepredigtem Objektivismus: Keine Regulationen, keine Sanktionen, ein wahrhaft freier Markt. Viel interessanter wird es jedoch da, wo die Parallelen aufhören und die Gegensätze beginnen. Denn anders als Atlas Shrugged ist BioShock eben keine Utopie, sondern eine vernichtend gescheiterte Dystopie.
In Rapture nahmen sich die Mächtigen Rands System zu Herzen: Sowohl Andrew Ryan als auch Frank Fontaine (neben einigen auf der Strecke gebliebenen, aber zuvor halbwegs erfolgreichen Kontrahenten wie Augustus Sinclair) orientierten sich in ihrem Handeln am Markt einzig und allein an ihrem eigenen Vorteil. Dabei brechen sie jedoch sämtliche Anforderungen des freien Marktes: Ryan verbietet jeden Kontakt zur Außenwelt, Fontaine schmuggelt, Ryan sanktioniert daraufhin. Allein das Vorgeplänkel von Raptures großem Zusammenbruch ist eine Perversion der Perversion, die jedoch von sich selbst zusammengehalten wird: Schließlich bleiben beide Kontrahenten immer in ihrem eigenen besten Interesse, und zwar zu jedem Preis. Protagonist Jack selbst ist eine Ausgeburt dieses Systems und dennoch ein Störkörper: als Werkzeug Fontaines erschaffen kann er unter Gedankenkontrolle niemals für sich selbst handeln, sondern immer nur unter ihm aufgezwungenem Altruismus.
Doch widerspricht das nicht den moralischen Entscheidungen hinsichtlich der Little Sisters? Ja! Und zwar in mehr als einer Hinsicht und mit völliger Absicht. Zur Erinnerung: Jack kann die Little Sisters entweder ernten (auf Empfehlung Atlas‘ hin, weil dies Jack angeblich deutlich stärkt) oder retten (auf Bitten Brigid Tenenbaums hin, mit dem Versprechen, es ihm irgendwie zu vergelten). Die offensichtliche egoistische Wahl in diesen Momenten ist also, die Sisters zu ernten und die zusätzlichen Ressourcen einzusammeln. Das Retten wird mit sinnlosen Altruismus gleichgestellt, der höchstens aus den Moralvorstellungen des Spielers, nicht jedoch aus der Rationalität der Spielwelt heraus begründet werden kann.
Verfolgt man beide Möglichkeiten bis zum Ende, wird jedoch schnell ersichtlich, dass es sich hierbei um eine bewusste Finte handelt. In reinen Ressourcen bringt das Retten nur unwesentlich weniger Ertrag als das Ernten. Zusätzlich zu den Ressourcen liefert Retten jedoch Geschenke Tenenbaums, in denen sich neben zusätzlichen Belohnungen das stärkste Plasmid des Spiels befindet, das anders nicht verfügbar ist – die Fähigkeit, Big Daddys zu Marionetten zu machen. Die Little Sisters aus Egoismus zu ernten schadet also Jack selbst – ein klarer Schlag gegen Rands System. Gleichzeitig dreht die Belohnung für das Retten Jacks Situation auf den Kopf – statt selbst an den Fäden zu hängen, macht der Altruismus ihn zum Puppenspieler. In Rapture versagt der Objektivismus durch und durch – und Andrew Ryan als Verkörperung der Autorin wird als so fanatisch dem System verfallen porträtiert, dass er selbst lieber stirbt, um eine Aussage zu treffen, als sich daraus zu befreien.
BioShock führt also mehrere Gesellschaftskritiken zusammen. Ob und wie gut sie für den Einzelnen funktionieren, hängt wohl ebenso mit der sozialen Umgebung zusammen, aus der er stammt, wie mit persönlichen Präferenzen. Doch allein der Versuch der Durchdringung und Zerschlagung dieses absurden Ökonomiesystems zeigt seine Relevanz über zehn Jahre später in einer Zeit, in der genau dieses System erneut an der Spitze der U.S.A. steht.
Über diesen Text
Dieser Text entstand aus einem Game Studies-Seminar im Sommersemester 2017 an der Ludwig-Maximilians-Universität München heraus. Den Teilnehmern, Dozenten und Gastrednern sei hiermit herzlich für die Zusammenarbeit gedankt. Der Text erscheint hier als Gastartikel in Zusammenarbeit mit dem Linguistik & Game Studies-Blog Language at Play.
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