Spoilerwarnung: weite Teile der Spielhandlung werden in diesem Beitrag gespoilert.
Draußen tobt ein Schneesturm, wohl der schlimmste seit Jahrzehnten. Nicole wird zurück in die Vergangenheit geschickt, in das Hotel, von dem sie nun nach dem Tod ihrer Mutter alleinige Erbin ist. Für Nicole steht fest: sie möchte es verkaufen. Loswerden. Und damit mit der Vergangenheit abschließen. Doch kann sie es wirklich? Kann man mit seiner Vergangenheit vollstens abschließen. Oder bleibt immer ein Schatten zurück?
Zu zweit allein
Da kommt sie an, diese selbstständige und selbstbewusste Frau, an einem Ort, wo sie gar nicht sein möchte. Eigentlich wollte sie sich von der Vergangenheit abspalten, einen Keil dazwischen treiben. Nach dem Tod ihrer Eltern ist dies nun noch die einzige Erinnerung, die sie vernichten möchte.
Nicole ist Alleinerbin eines riesigen Hotels, des Timberline, weit abgeschnitten von der Zivilisation. Und dennoch zivilisiert. Nicoles Anwalt, Mister Jenkins, bat „ausdrücklich“ darum, dass sie sich die Immobilie und dessen Zustand anschauen sollte, weil man als Käufer ja nicht die Katze im Sack kaufen möchte.
Es sieht so aus wie damals. Nur etwas unaufgeräumt. Und dieses damals war vor etwa zehn Jahren. Vor etwa zehn Jahren, als alles noch so unbeschwert war. Man war halt ein Kind, ein Teenager. Und so sieht auch Nicoles altes Zimmer in der Master Suite des Hotels aus.
Ihr Herz beginnt zu klopfen, sie hört es bis in die Ohren. So viele Erinnerungen an eine unbeschwerte Zeit. Das Skateboard, der E-Bass, die Hockey-Trophäen. Doch da steht dieses komische Telefon auf dem Tisch und fängt plötzlich an zu klingeln.
„Hallo, hier ist Irving, von FEMA“, sagt der Mann am Ende der Leitung. Und er besteht darauf, dass Nicole unbedingt im Hotel bleibt, da außerhalb der Wände ein noch nie zuvor dagewesener Schneesturm tobt. Doch dies hält sie nicht davon ab, den Weg zurück zum Auto anzutreten. Doch wo sind die Schlüssel? Und wieso geht das Garagentor nicht mehr auf?
„Eine Verschwörung!“, flucht Nicole. Gefangen im alten Zuhausen, allein, mit einem Mann am Ende der anderen Leitung, den sie nicht kennt. Aber er kennt sich aus. Und er kennt sie. Und jetzt muss sie an dem Ort verweilen, der ihr vor mehr als zehn Jahren so viele Schmerzen zufügte…
Sherlock Wilson
Doch was geschah damals vor so vielen Jahren? Nicoles Vater, Leonard, gab sich der Liebe zu einer 16 Jahre alten Mitschülerin von Nicole hin, Rachel Foster. Von der gemeisamen Affäre sprach die gesamte Gemeinde. Und erst recht sprach man davon, als man die Leiche von Rachel fand.
Rachel war schwanger von Leonard. Und sie wurde nur 16 Jahre alt. War es Selbstmord? Ja. Davon geht man aus. Nein, man weiß es. Alle wissen es. Die Liebe konnte nicht erwidert werden, und so zerbrach die Teenagerin an ihrem Liebeskummer. Doch war das wirklich alles so, wie man es sich erzählt?
Auf ihrem Survivaltrip durchs Timberline entdeckt Nicole an allen Ecken und Kanten neue Erinnerungen, neue Indizien, neue Zweifel. Zuerst muss sie den „alten Furzgeist“ wiedererwecken, damit sie endlich warm duschen kann. Irving hilft ihr dabei, wie sie ihn wieder zum Laufen bekommt. Als der Sturm die Stromleitungen angreift und das Licht zu schwächeln beginnt, muss sie zum Sicherungskasten gehen, um diese wieder anzuschalten. Irving weist ihr den Weg durch die Dunkelheit. Auf der Suche nach etwas Essbarem, stößt sie auf wundervolle Bohneneintöpfe und wird fast im Kühlraum eingesperrt. Irving warnt sie, zwar etwas spät, aber er wusste wegen der Tür bescheid.
Eigentlich ist der Kontakt zur Außenwelt nur durch Irving möglich, und dennoch bekommt sie durch die tote Telefonleitung einen Anruf. Das weckt in Nicole nicht nur Neugierde, sondern noch mehr Zweifel.
Wieso schreibt ihr Vater davon, dass er Rachel sehe, noch Jahre nach ihrem Tod? Wie kann es sein, dass Augen- und Ohrenzeugenberichte davon sprechen, dass man Rachels Anwesenheit noch nach ihrem Tod überall spüten könne?
Und warum findet sie einen Lippenstift beim Sicherungskasten, der eigentlich nicht mehr produziert wird seit Jahren, so gut wie neu? Und dann dieser Telefonanruf… Sie erinnert sich daran, dass eine Geschichte immer mehrere Versionen hat. Wie die Medaillen, die sie beim Hockey gewann.
Und da sie schon immer ein Fan von Sherlock Holmes war, wird sie jetzt selbst zu Sherlock Nicky Wilson. Der Rätsellöserin aus dem Timberline Hotel. Im Schlafzimmer ihrer Eltern werden nun alle Beweise sorgfältig aufgelistet und an die Wand getackert. Nichts darf fehlen. Zeitungsartikel, Leonards Buch, der Lippenstift. Sogar ein Foto von Rachels Vater, einem Pastor, hat sie gefunden. Er war mit Leonard sehr gut befreundet. Wie sagte Irving von FEMA dazu? „Gegensätze ziehen sich an“ sagte er. So war es wohl auch bei Rachel und Leonard.
Von Geisterjägern, Kronleuchtern und Kirchen
Was war das für ein seltsamer Traum, von Leonard, in dem Nicole im Schnee wandelt und … was ist das dort auf dem Boden, eine Zahnspange? Sehr kurios, das Ganze. Und dann kommen auch noch Geisterjäger ins Spiel.
Irving findet eine Audioaufzeichnung, in der es um einen Trupp „Ghostbusters“ geht, die sich dem Timberline angenommen haben. Zimmer 117 soll es sein, wo sie ihr Lager aufschlugen. Was Nicole dort findet, macht sie stutzig, ängstigt sie und weckt zugleich weiter neue Zweifel.
Auf einem Videoband sieht sie die Geisterjäger, drei Männer und eine Frau, die von plötzlichen paranormalen Ereignissen heimgesucht werden und Hals über Kopf das Hotel in völliger Panik verlassen. Es ist spannend, dass die Tür am Ende des Videos sich von allein schließt, genauso wie jetzt gerade. Kurz bevor Irving sie mit einem lauten „Hey“ wieder zurück in die Realität versetzt.
Von diesem Schock muss sich Nicole erst einmal erholen. Glücklicherweise ist es Weihnachten, und sie nutzt die Gelegenheit, in der Master Suite den Tannenbaum zu schmücken. Doch als Irving sie ein weiteres Mal kontaktiert – warum ist er selbst an Weihnachten noch am Arbeiten? – bemerkt sie komische Geräusche. Komische klirrende Geräusche. Sie wimmelt Irving ab, der sie für verrückt hält, und folgt dem Klirren durch das Hotel.
Nur zu gut, dass sie sich das Richtmikrofon von den Geisterjägern geschnappt hat. Dies hilft ihr dabei, weitere Erinnerungen auf ihrem Weg zu sammeln. Sie hört Stimmen, Flüstern, fröhliche Menschen und lachende Kinder. Und schließlich ein altes Bild von einem längst vergangenen 23. Dezember. Menschen waren glücklich, haben getanzt und gefeiert. An einem solchen Abend haben sich Leonard und Rachel kennen und lieben gelernt.
Man möchte, nach einer rauen Nacht, nicht schlaftrunken in einer verlassenen Kirche aufwachen. Man möchte, nachdem dies geschehen ist, keinem Himmel-und-Hölle-Spiel auf einem modrigen und feuchten Flur begegnen. Und ganz sicher möchte man nicht wieder in diese Kirche zurück, nachdem man glaubt, man sei wohl schlafgewandelt.
Aber das schreckt ‚Sherlock Wilson‘ nicht davon ab, genau das zu tun. Und wieder einmal geht es darum, so viele Erinnerungen an damals wie möglich zu sammeln. Und Irving hängt einem am Rockzipfel. Notenblätter, eine alte Orgel, Bilder von Heiligen. Erinnerungen an ein altes Rätsel wurden bei Nicole geweckt.
Und als sie die Kirche verlassen möchte, da wird sie plötzlich dieses komische Gefühl nicht los, dass irgendetwas jetzt völlig anders ist, als zuvor…
Die letzten Türen
Ein roter Schmetterling begleitet sie ein Stück des Weges. Und von diesem Weg kommt sie nun ab, denn neben der Treppe befindet sich – war das heute morgen auch schon dort gewesen? – ein großes Holzbrett mit eben jenem Rätsel, dass Leonard Nicole mit auf den Weg gab.
Die Ereignisse überschlagen sich, als sie sich in einem „Zimmer“ wiederfindet. Dem „Zimmer“ von Rachel, sogar mit einigen ihrer Sachen. Ein Ausdruck von Liebe? Der Schrein eines Trauernden? Irving und Nicole geraten in Zwist und streiten, weil sie nicht glauben möchte, dass Leonard das alles gemacht haben soll. Sie entdeckt den Schlüssel zu einer längst vergessenen Spieluhr. Hat ihr Vater ihn dort abgelegt? War es Absicht?
Und dort findet sie die Erinnerung an das Hockey-Spiel ihres Lebens wieder. Es war dieselbe Nacht, in der Rachel sich das Leben nahm.
Tag neun ist angebrochen. Für Nicole steht fest: Jetzt oder nie. Sie hat alles, was sie braucht, um dem Rätsel von Rachel endlich Ruhe zu geben. Im obersten Stockwerk steht sie vor verschlossenen Tür, und erinnert sich dadurch an eine weitere, nicht vorhandene Tür.
Hinter jeder Tür, die keine ist, verbergen sich Menschen, die keine sind. Warum sind dort so viele Menschen? Und was soll dieses Szenario mit den Schaufensterpuppen? „Mein Hockeyschläger!“ wird ihr bewusst, als sie das Szenario sieht. Doch es macht ihr Angt. Irving macht ihr Angst. Sie solle weitere Türen öffnen, sagte er. Bis er sich nicht mehr meldet. Und Nicole mit all ihren Ängsten, Zweifeln und der Einsamkeit zurück lässt.
Welche Türen sollen noch geöffnet werden? Wie viele Erinnerungen müssen noch gesammelt werden?
Erneut angekommen im obersten Stockwerk, steht ihr nun eine der letzten Türen offen. Die Tür zu „Irvings Zimmer“ erinnert sie an das „Büro von Sherlock Wilson“ welches sie in der Master Suite aufbaute. Es passt überhaupt nicht, und dennoch passt alles genau zusammen.
Teil für Teil fügt sich das Puzzle zu einem Ganzen zusammen. Und Nicole war das Stück, das Irving schlussendlich fehlte. Doch wieso Nicole? Und woher kennt Irving sie? Gab es damals noch jemanden? Nein… Ja… Jemand Unsichtbaren. Ein Schatten von jemandem. Einen kleinen Bruder, der seine Schwester vergötterte. Ein kleines Kind, dass alles mitbekam, und nichts tun konnte. Ein kleines Menschlein, dass sich schuldigt fühlte, und diese Gefühle wuchsen mit ihm weiter.
Und nun, da sich die Tochter und der Bruder miteinander bekannt gemacht haben, öffnen sich die letzten Türen für Nicole. Die letzten Puzzleteile fügen sich zusammen. Irving und Nicole finden die Wahrheit heraus, über das, was sich vor einer Dekade zutrug.
Just Love
Wie kann ein Spiel es schaffen, zwischen so vielen Elementen hin und her zu switchen, ohne dabei den roten Faden zu verlieren? Genau das schafft The Suicide of Rachel Foster auf ganzer Linie.
Es startet als Walking-Simulator, wechselt immer mal wieder zwischen Horrorspiel und Puzzlegame, und endet in einem Rollenspiel mit einer noch nie dagewesenen Familientragödie. Ich habe dieses Spiel bereits mehrmals durchgespielt, und jedes kommt es mir so vor, als würde ich es zum ersten Mal spielen.
Ich entdecke Dinge im Hotel, die mir vorher nicht auffielen. Ich entgleite der Realität und werde zu Nicole. Ich möchte die Puzzleteile zusammenfügen, die Rätsel lösen, und mich der gruseligen Atmosphäre des Timberline Hotel hingeben. Und immer wieder hinterlässt dieses Videospiel in mir dieselben Fragen.
Was ist Liebe? Wie gehen wir mit Liebe um? Können wir Liebe steuern, oder nur uns ihr hingeben? Für mich persönlich bedeuten diese Fragen viel, da auch ich mich einer Liebe hingab, die mein ganzes Leben verändert.
Nehmen wir die Geschichte doch einmal ganz subjektiv auf: Rachel, ein 16 Jahre altes Mädchen, das trotz ihrer Zahnspange ihrem Alter weit voraus ist, verliebt sich. In Leonard, einem über 40 Jahre alten Familienvater, ausgezeichneter Astrophysiker und Inhaber des Timerline.
In der Schule wird sie aufgrund ihrer Legasthenie, einer Lese-Rechtschreib-Schwäche, als schwachsinnig bezeichnet und gemobbt. Aber Leonard interessiert das nicht, denn er sieht in ihr eine junge, intelligente und wunderschöne Frau.
Leonard und Rachels Vater, ein streng gläuber Pastor, sind beste Freunde. Dazu kommen Leonards Frau, Claire, und die gemeinsame Tocher Nicole, eine Mitschülerin von Rachel. Und vergessen wir nicht Irving, Rachels kleinen Bruder. Nicole war eifersüchtig auf Rachel, hat sie gehasst und gemocht gleichermaßen. Für Irving war Rachel ein Engel, er liebte sie über alles.
Die Affäre wurde mehr und mehr öffentlich, und spätestens als Rachel schwanger wurde, nahm das Unglück seinen Lauf. Und alles nur, weil zwei Menschen sich ineinander verliebten.
Hätte diese Geschichte anders ausgehen können? Ich denke schon. Hätten sich Leonard und Rachel ihrer Liebe hingeben sollen? Kann ich nicht beurteilen. Ich habe irgendwo einmal gehört, Liebe sei ein rein chemischer Prozess, und an Biochemie sollte man nicht herumpfuschen.
Doch ist es rechtens, dass sich eine Minderjährige in einen Erwachsenen verliebt? Und dieser sie dann auch noch schwängert? Aber Rachel war keine normale 16järhige. Sie war sehr intelligent, wusste mit Worten umzugehen und ihren Charme einzusetzen. Und wieder bin ich bei der Frage angelangt, ob diese Geschichte hätte anders verlaufen können.
Jetzt sage ich: ja. Die Geschichte von Rachel Foster hätte man anders schreiben können. Sie hätte nicht an jenem Abend enden müssen. An diesem Abend endete so vieles… Nicoles Hockey-Karriere, die Familie McGrath, Rachels Leben, Irvings Hoffnungsschimmer. Und ja, auch wenn Liebe nur ein biochemischer Prozess ist, wenn sie unerwiedert wird, schmerzt sie im ganzen Körper.
Ich persönlich hätte Rachel und Leonard das Glück gegönnt. Doch ergibt das Sinn? Ist es sinnvoll, zwei intakte Familien auseinander zu reißen, nur um eine neue Familie zu erschaffen? Das erinnert mich an eine Zitat einer meiner Lieblingsfilme „Doctor Strange“ aus dem Marvel-Universum:
Nicht alles ergibt Sinn. Nicht alles muss Sinn ergeben.
Doctor Strange Movie
Ich hinterlasse euch, liebe Leser:innen, vielleicht viele Fragen. Unbeantwortete Fragen. Wie Karies im Kuriositäten-Kabinett. Auch hinterlasse ich eine nicht abgeschlossene Geschichte mit offenem Ende.
Doch ich möchte euch die Möglichkeit geben, selbst die Geschichte abzuschließen, wenn ihr wollt. Wenn nicht, dann könnt ihr euch die gesamte Geschichte samt Ende von The Suicide Of Rachel Foster gerne als Let’s Play auf meinem YouTube Kanal anschauen, diesen verlinke ich euch hier. Ich bedanke mich sehr für eure Aufmerksamkeit.
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