Starten wir mit einem Gedankenexperiment: Was macht Pac-Man, wenn er alle Punkte aufgefressen hat und es auf dem Spielfeld nichts mehr für ihn zu tun gibt? Entwickelt er ein Privatleben, hat vielleicht sogar Hobbys oder wartet er darauf, dass die Punkte respawnen und das Spiel von vorn beginnt? Oder existiert er sogar zwischen den Spielen nicht einmal?
Ich gebe zu, das Gedankenexperiment wirkt zunächst etwas absurd und überinterpretierend. Außerdem ist Pac-Man ja kein NPC, sondern eine Spielerfigur, ein Avatar, der genau das macht, was die Eingaben des Spielers ihm befehlen. Doch die – zugegebenermaßen – romantische Vorstellung, dass die Charaktere eines Spiels eine verborgene Welt hätten, in der sie nicht zu Spielzwecken, sondern nur für sich selbst existieren, beschäftigte mich schon vor Filmen wie „Ralph Reicht’s“ oder (um einen Verfechters des analogen Spielens zu nennen) „Toy Story“.
Aber vielleicht sollte ich zu Beginn etwas über mich erzählen, bevor ich von nicht-existierenden Privatleben skurriler NPCs schwärme. Schon als Kind war ich ein leidenschaftlicher Leser und habe Sci-Fi-Romane, Horrorgeschichten und Abenteuererzählungen verschlungen. Oft empfand ich die Protagonisten in den Romanen als interessanter und – so merkwürdig es auch klingt – lebendiger als die meisten meiner Klassenkameraden. Bei ihnen passierten einfach die aufregenderen Sachen.
Die naiven Fragen eines Kindes
Wenn Mutti sagte, ich solle das Licht ausmachen und endlich schlafen, habe ich mir überlegt, ob sich meine Helden jetzt vielleicht auch schlafen legen würden. Oder spielen sie so lange Karten, drehen Däumchen oder quatschen, bis ich, ihr Leser, das Buch wieder aufschlagen würde, damit die Geschichte weiter gehen kann? Und wenn das Buch zu Ende gelesen war und der Held die böse Macht bezwungen und Frieden in seiner Welt hergestellt hatte, habe ich mir gedacht: Wie könnte es jetzt weiter gehen?
Ähnlich erging es mir als ich Super Mario World auf dem SNES gespielt habe. Am Ende rettet Mario seine Prinzessin und beide leben glücklich und zufrieden, bis ihr Programmcode gelöscht wird. Aber wie eigentlich? Gehen sie zusammen ins Kino? Haben sie hin und wieder Eheprobleme oder spielen sie einfach nur den ganzen Tag mit Yoshi oder fahren mit Toad Wettrennen?
Als ich älter wurde, verschwand die romantische, überinterpretierende Anschauung von Videospielen und Geschichten und wich einer eher philosophischen Betrachtungsweise. Ich stellte mir die Frage, was Helden tun, wenn der Abspann durchgelaufen ist und ihnen klar wird, dass alles, was bisher passiert ist, was sie erlebt und wofür sie gekämpft haben, zu keinem Zeitpunkt real war. So als würde der NPC aus einem Traum erwachen und in die Realität katapultiert werden. Nur dass seine Realität immer noch das Spiel wäre.
Vom Pixel, der auszog, um ein Mensch zu werden
Ursprünglich wollte ich mein Gedankenexperiment als Roman umsetzen. No one lives in heaven sollte er damals schon heißen (ein Titel, auf den ich noch zu sprechen kommen werde) und im Kern sollte es um einen NPC namens Cogno gehen (ich weiß, nicht sehr einfallsreich, aber es war ja noch ein Arbeitstitel). Cogno war ein typischer Begleiter-NPC. Ein Companion, mit dem ein Spieler gemeinsam auf Monsterjagd gehen konnte, um sich Erfahrungspunkte zu verdienen. In der Narration meines Buches hatte Cogno nur ein Problem; nämlich das, welches in der Anfangszeit der Computerspiele so gut wie jeder vom Spiel gesteuerte Companion hatte: eine fehlerhafte Routenberechnung. In den Tests hing er ständig an Bäumen fest, lief durch gefährliches Gebiet wie zu tiefes Wasser, fiel Abhänge runter, fand den Spieler nicht oder bewegte sich manchmal einfach gar nicht von der Stelle.
Die Idee der Spieleentwickler im Roman: Lassen wir Cogno in Echtzeit für einige Wochen seine Welt erkunden, sich frei bewegen und ihn alles entdecken. Er soll dabei ruhig wissen, dass er eine für den Spieler entwickelte Figur ist, die sich in der fiktiven Welt auskennt und quasi wie ein Reiseleiter fungiert. Das Ergebnis lässt sich mit einem Satz aus der wundervollen Serie „Westworld“ zusammenfassen: Er fing an, das Wesen seiner Existenz in Frage zu stellen. Und nicht nur das: Durch die Interaktion mit den Testspielern und die Merkmale seiner erdachten Welt, versuchte er Rückschlüsse auf die reale Welt zu bilden. Er stellte Fragen wie: Wo kommen die Spieler her? Wo gehen sie hin, wenn ihr Avatar verschwindet? Was machen sie, wenn sie nicht spielen? Und warum gehen sie in ihrer Freizeit einer so anstrengenden Tätigkeit nach, wie Monster zu erschlagen und durch Grinding aufzuleveln?
Aus dem Roman wurde ein Spiel und aus dem Spiel eine Erfahrung
Zugegebenermaßen las sich der Roman (bzw. die ersten 50 Seiten, die ich geschrieben hatte) sehr dröge. So richtig wollte keine Spannung aufkommen und ich hatte die Befürchtung, dass es dem Leser schwerfallen könnte, mit Cogno mitzufiebern (dessen Name nach wie vor recht einfallslos war). Ich strich Kapitel und schrieb sie neu, strich sie abermals (meistens in der Farbe scharlachrot) und schrieb sie … nein, hörte auf zu schreiben und dachte nach. Als ich schon fast aufgeben und mich einem anderen (leichter umzusetzenden) Thema für ein Buch zuwenden wollte, kam mir eine Idee: Wenn du schon über NPCs in einem Computerspiel schreibst, warum machst du dann nicht gleich ein solches Spiel? Lass den Leser doch nicht passiv erfahren, wie aus dem Pixel ein Mensch wird, sondern lass ihn aktiv daran teilhaben.
Meine Programmierkenntnisse fußten auf dem Informatikunterricht der Sekundarstufe II. Mit anderen Worten: Ich hatte keine nennenswerten. Doch ich wusste, dass einer meiner besten Freunde welche besaß. Und nicht nur das: Ich wusste auch, dass dieser Freund gerade auf der Suche nach einer neuen Tätigkeit war. Aufgeregt und voller Begeisterung für die eigene Sache erzählte ich ihm von meiner Idee: NPCs mit einem Bewusstsein und einem Privatleben. Und zu meinem (bzw. unserem) Glück war er sofort begeistert.
Aus Spaß wurde Ernst und aus Ernst wieder Spaß
Bei dem einen oder anderen hopfenhaltigen Getränk zu der einen oder anderen abendlichen Stunde ersannen wir eine Spielwelt, in der der Spieler Level durchschreitet, Monster vermöbelt, das Böse besiegt und letztlich Frieden ins digitale Königreich bringt. Und dort, wo die meisten Spiele aufhören (weil es ja schließlich nichts mehr zu erzählen gibt) wollten wir das Spiel erst beginnen lassen. Und noch nicht einmal da, sondern sogar noch später. Die NPCs sollten erst einmal (nach dem fiktiven Spieldurchlauf) für Jahre allein gelassen werden und aus dem Loch der Lethargie ihre eigene Welt nach ihren Wünschen mit eigenen Tätigkeiten und Hobbys bauen. Wir kreierten ein Spiel in einem Spiel, oder besser gesagt: eine Welt in einem Spiel. Die Engine stellte die Naturgesetze dar und die Subroutinen den Charakter der Bewohner.
Kurz vor Release sagte mein Kumpel-Kollege zu mir: „Ich glaube, wir haben das langweiligste Spiel der Welt programmiert, den interaktiven Abspann.“ Und er hatte recht: Alle Quests waren erledigt, die Endgegner besiegt und die Bedrohung der Welt verbannt. Zu meiner Freude fügte er jedoch hinzu: „Trotzdem hat es unglaublich viel Spaß gemacht und ich bin mir sicher, dass es den Spielern auch gefällt.“ Und anscheinend tut es das auch. Die Resonanz auf Steam und die Let’s Plays auf YouTube waren durchgängig positiv und hin und wieder erreichen uns E-Mails mit Worten des Lobes.
Unser No one lives in heaven (ich sagte ja, dass ich auf den Titel noch zu sprechen komme) ist nun unser Lebensmittelpunkt geworden und wir arbeiten mit großem Tatendrang an DLCs, Updates, Patches, Portierungen und einem zweiten Teil.
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