Es ist Dezember, es schneit in Wien und während ich in Magdeburg sitze, werde ich sehnsüchtig. “Avoiding Vienna” hieß vor vielen Jahren ein kleines musikalisches Experiment von mir, aus Gründen, die ich hier nicht ausbreiten will, die aber viel mit dem Messenger ICQ (kennt den noch wer?) und romantischen Illusionen eines einzigen Wochenendes zu tun hatten.
Jedenfalls habe ich Wien viel später doch nicht mehr gemieden. Das erste Mal war ich auf der FROG (“Future and Reality of Gaming”) 2009 in Wien, mit einem Poster zu World of Warcraft im beeindruckenden Wiener Rathaus. Zuletzt war ich 2019 da, zum Zeitunglesen und durch mir unbekannte Straßen treiben lassen. Lang ist’s her.
Bei den Besuchen war ich einerseits Tourist, gleichermaßen fasziniert wie erschlagen von engen Straßen und monumentalen Prachtbauten, und mit all den Klischees, die man als Touri halt so macht. Andererseits fuhr ich auch viel mit U- und Straßenbahn möglichst viel des ganzen Streckennetzes ab, stieg an willkürlichen Orten aus, um die jeweilige Gegend wirken zu lassen, und ließ bewusst zu, mich zu Fuß zu verirren.
Eigentlich wäre mit der FROG-Tagung am 26./27.11.2021 ein guter Anlass gewesen, das mal wieder zu machen, doch durch Corona fand die Tagung online über Zoom statt (wo ich übrigens über Magiergilden in The Elder Scrolls sprach). Da ich aber eh gerade eine Kopie von Aerosofts Straßenbahnsimulator TramSim Vienna erhalten hatte (für eine Review des Nachfolgers TramSim Munich auf einer anderen Spieleseite), habe ich mich vor und nach den beiden Tagungstagen erstmal am Computer in die vermisste Wien-Stimmung gebracht.
Und seitdem immer wieder.

Simulation zum Wecken von Erinnerungen
Eigentlich gefällt mir an Computerspielen, dass ich in ihnen Welten bereisen kann, die mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben. Dabei bin ich weniger von der Handlung fasziniert als von der Atmosphäre und Stimmung fantastischer Spielwelten (was ich in diesem PAIDIA-Beitrag in einer gerade erschienenen Sonderausgabe zur Fantastik im Computerspiel näher beschreibe).
Aber Verkehrssimulationen sind anders: Im Microsoft Flight Simulator oder im X-Plane fliege ich oft dort entlang, wo ich auch in der echten Welt schon selbst oder als Passagier in der Luft unterwegs war. Und auch eine U-Bahn-, Bus- oder eben Straßenbahnsimulation packt mich besonders, wenn ich die gezeigten Orte wiedererkenne.

TramSim Vienna erinnert mich momentan vor allem an den oben erwähnten letzten echten Wien-Besuch im Januar 2019 – damals musste ich einen Monat lang Überstunden abbauen und fuhr in der Zeit auch für ein paar Tage mit dem Zug nach Wien. Das Projekt: Zeitunglesen und ‘Flaneur’ spielen. Man hat ja sonst nichts zu tun.
An einem der Tage war es sehr kalt, eisiger Schneeregen malträtierte mein Gesicht, während ich die Ringstraße entlang ging bzw. teilweise rutschte. Was war ich froh, endlich in die warme Bahn einzusteigen, die mich ganz touristenmäßig zur nächsten Sehenswürdigkeit oder zum ersehnten Café bringen konnte! Ach, dieses schöne Rot, die Holzsitze der älteren Fahrzeugtypen, das Klingeln der “Bim” vor dem Losfahren, …
Jetzt in der Corona-Zeit, wo ich seit über zwei Jahren echte Reisen in große Städte vermeide, hilft die Simulation, solche Urlaubsromantik aufrechtzuerhalten bzw. Erinnerungen wieder hervorzurufen. Also stelle ich mir verschneites Winterwetter ein, setze mich in eine alte Bahn des Typs E2 und stelle mir Klang, Geruch und Gefühl von damals vor, während ich die lange Strecke der Linie 1 zwischen Prater Hauptallee und Stefan-Fadinger-Platz abfahre. Fast spüre ich den eisigen Wind des Wintertags durch mein Zimmer ziehen.

Nicht ganz wie Urlaub, aber …
Es kommt dann gar nicht darauf an, ob das Werbeversprechen des Spiels (quasi ein 1:1-Nachbau großer Teile des Stadtzentrums, mit sich kaum wiederholenden Gebäuden) erfüllt wird (Spoiler: wird es nicht völlig), die Straßenbahnen korrekt simuliert sind (sie fühlen sich zumindest für mich glaubhaft genug an), oder es Bugs gibt (… reden wir nicht drüber).
Sondern es kommt darauf an, dass mich das Spiel zurückführt zu den echten Erlebnissen, die real wiederaufleben zu lassen ich mich trotz dreier Impfungen und fleißigem Maskentragen noch nicht traue. Die knapp zwei Stunden, die ich für beide Fahrtrichtungen und ggf. Deportfahrt brauche, sind vielleicht nicht wie zwei Stunden Urlaub, aber sie sind ein Versprechen, das ich mir für bessere Tage selbst gebe: dass auch diesmal ‘Avoding Vienna’ kein Dauerzustand sein wird.

Disclaimer: Der Autor war bis Ende 2019 für den Publisher der TramSim-Reihe, Aerosoft, im X-Plane-Support tätig. Auf diesen Text hatte diese frühere Tätigkeit keinen Einfluss.
Ich fahre soeben vom Schottentor in wien mit der U2 in Richtung Seestadt, als ich Deinen Beitrag lese, Mario, sehr schön! Ich bin leidenschaftlicher Straßenbahnfahrer, während des Studiums oft ganz Bücher gelesen, während mich die „StraBa“ durch die ganze Stadt gondelte – die Strecke war hier ganz egal, Hauptsache, im Lesen und immer mal wieder den Blick nach Außen werfen und die Stadt erleben. Wer mehr Stadt erleben möchte, der / dem empfehle ich den Autobus-Simulator, der mehrere Wiener Buslinien und ihre Strecken getreu nachbildet – bitte aber einen Fahrschein lösen!
Ich finde es sehr schön welch persönliche Note Deinen Beitrag durchströmt. Du schreibst wirklich von Herzen. Außerdem nehme ich Deine tiefe Leidenschaft für Videospiele wahr.
Deine Zeilen „wenn ich die gezeigten Orte wiedererkenne“ erinnert mich spontan an die erste Stunden, die ich mit DOOM verbracht habe. Die Offenbarung, die ich in DOOM erfuhr, hat mich damals überwältigt. Wie kann ein Spiel so realistisch aussehen? Könnte ich nur meine eigene Welt, die Strassen und Häuser die ich kenne, in das Spiel übertragen, waren meine Gedanken.
Das Spiel von id Software hat seinerzeit ein Fundament für mich gelegt. Die Basis dafür, dass Spiele dreidimensional eine Welt „abbilden“ können. Eine Welt in der ich mich nicht nur bewegen, sondern „befinden“ kann.
Das Spiele wie TramSim Vienna nunmehr ganze Städte darstellen können ist eine atemberaubende Möglichkeit für die Spielenden. Die Brücke die Du baust, mit der Simulation die Erinnerungen und Erlebnisse zurück zu rufen und aufrecht zu erhalten kann ich sehr gut nachvollziehen.
Auch finde ich Deine Feststellung wunderbar, dass die „perfekte“ Wiedergabe der Realität gar zu einhundert Prozent wichtig ist. Es geht um die Impulse die entstehen. Die Assoziationen, die ausgelöst werden.
Danke für Deinen interessanten und subjektiven Text: „ein Versprechen für bessere Tage“. Schöne Worte.
Danke :))
Nur ein Hinweis: In TramSim ist natürlich nicht die ganze Stadt abgebildet, ich hoffe, dass der Beitrag nicht den Eindruck erweckt. Es ist ein großer Teil enthalten (Linie 1), der sehr viele der für Touris wichtigen Sehenswürdigkeiten enthält. Wäre ja toll, wenn es die ganze Stadt wäre 😉 Oder noch die U-Bahn dazu käme 😀
Dein Beitrag weckt in mir ein wenig Fernweh, Mario. Und ich geb dir recht, auch ich schaue in Simulationen gerne nach bekannten Orten – bevor es mich in die Weite des Unbekannten zieht.
Du hast hier schön die Besonderheit beschrieben, wenn Erlebtes und Virtuelles aufeinandertreffen. Ich kann mir gut vorstellen, dass man auch in der virtuellen Welt gerne einen Schutzraum hat, vielleicht so wie die eigene Wohnung. Bekanntes und Vertrautes aufzusuchen steckt möglicherweise einfach in uns drin.
Danke für den Kommentar ^^ Das mit dem vertrauten Raum merke ich auch so. Manche Spiele starte ich nur deshalb, um mal kurz für ein Stündchen oder so das virtuelle Heim oder die Gegend drumrum aufzusuchen, weil ich merke, dass es was Beruhigendes hat 🙂 Housing find ich in Open-World-Spielen darum auch wichtig. Leider gibt es da meistens nur vorgegebene Locations, aber Mods helfen da glücklicherweise oft.
Stimmt, ich finde es wichtig, in großen Spielen eine Bleibe zu haben. Das schafft Vertrautheit und spendet mir dadurch oft etwas Ruhe (und ich kann nebenbei z.B. Nachschub einstecken).
Ich wünsche dir, dass du Wien im echten Leben bald nicht mehr meiden musst. Wenn dir bis dahin die TramSim die Sehnsucht etwas mildern kann, top! Danke noch für deinen Beitrag, hab ich oben vergessen.