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Der Social-Media-Endboss

Avatar von Claudia Feiner
Lesedauer: 5 Minuten

Im Jahr 2013 erschien beim Publisher Capcom das Videospiel „Remember Me“. Steam erklärte mir, dass es bereits seit 2014 in meinem persönlichen Backlog darauf wartete, endlich bespielt zu werden. Überdringlich habe ich es nun im Urlaub durchgespielt und bin nachhaltig von einem bestimmten Endgegner bewegt.

Die Hintergrundgeschichte

Zur Story von „Remember Me“ will ich nur ganz kurz auf die wenigen wesentlichen Elemente eingehen, die zum Verständnis dieses Artikels notwendig sind.

Das Spiel handelt im Jahr 2084 in einer futuristischen Version von Paris namens Neo-Paris, in der die Memorize Corporation ein neues Gehirnimplantat namens Sensen erfunden hat. Die Technologie wird fast von der kompletten Bevölkerung genutzt, um Erinnerungen in zentrale Memorize- Server hochzuladen. So lassen sich die Erinnerungen mit anderen via Internet teilen und unglückliche oder unangenehme Erinnerungen für immer aus dem Gedächtnis löschen.

Unsere Protagonistin Nilin gehört einer kleinen Gruppe von Rebellen an, die versucht, das Unternehmen zu stürzen und die gesellschaftlichen Konsequenzen, die durch den missbräuchlichen Einsatz der Technologie entstanden sind, zu kurieren.

Unabhängig davon, dass ich die Prämisse für eine sehr spannende und vorweggreifende halte, hat mich eine bestimmte Stelle des Spieles, ein Endboss, dank der herausragenden Arbeit der Entwickler motiviert, diesen Artikel zu schreiben.

Es geht um einen der ersten Endbosse auf den wir als Nilin treffen: Ulf Hansen, besser bekannt als „Kid X-Mas“. Wir begegnen ihm auf einem riesigen Plateau. Dank klugem narrativen Storytelling wissen wir anhand von im Spiel verteilten Plakaten schon vorher, dass er bereits im Voraus auf seinen Social-Media-Kanälen Werbung für den Kampf gegen Nilin gemacht hat. So hat er innerhalb seiner Followerschaft quasi bereits vorab eine Media-Kampagne geschaltet, um für den großen Showdown gegen Nilin Hype und „Buzz“ zu erzeugen.

(c) Capcom
(c) Capcom

Nilin steht bereits auf dem Plateau, als Kid X-Mas das Areal betritt. Seine Optik lässt auf nichts anderes als einen Bad Ass schließen; ein Schrank, eine tätowierte Muskelmaschine in Menschengestalt. X-Mas betritt feierlich wie ein Boxweltmeister seine Bühne. Begleitet wird er von zwei Drohnen. Sie aktivieren Projektionen, die aus der Plattform eine Kampfarena machen. Digitale Pyrotechnik unterstreicht die Dramatik.

Die eine Drohne streamt mittels eingebauter Kamera den Kampf live auf Kids Social-Media-Kanäle. Die andere sorgt mit Scheinwerfer für die perfekte, dynamische Ausleuchtung während der nächsten Minuten.
Als spielende Person wechseln wir in die Ansicht des Live-Streams und sehen nun diese Kampfarena um uns herum, Logos von diversen Sponsoren und Werbepartnern werden eingeblendet. X-Mas hat offensichtlich sogar sein eigenes Mode-Label, für das er auf seinem Kanal wirbt.

(c) Capcom
(c) Capcom

Der Kampf erstreckt sich über drei Abschnitte. Zur Mitte hin brüllt Kid X-Mas in die zugeschaltete Menge, „She wants to make a show of it“ und verdreht dabei perfide, wer wen für eine Show instrumentalisiert.

Der Livestream geht schließlich in die finale Phase, befeuert von adrenalinpushendem Drum-and-Bass-Sound. Der künstlich zugeschaltete Zuschauerjubel verstärkt zusätzlich der Eindruck eines Hexenkessels. Zwischen den Angriffen bewegt sich X-Mas wie ein stolzierender Wrestler im Ring und reckt seinen Viewern vorschnelle Siegerposen in die Kamera.

Er lässt sich dazu hinreißen, seiner Gegnerin zu gratulieren, dass sie es bis in den finalen Abschnitt der Show geschafft hat. Wohlgemerkt ist die Inszenierung als Show aus Sicht von Nilin völlig fremdbestimmt. X-Mas brüllt seinen Zuschauern in die Kamera, dass sie ihn noch stärker anfeuern sollen.

Selbstverständlich hat er gegen unsere wendige und flinke Protagonistin letztlich keine Chance. „Not in front of my fans“, klagt er noch, kurz bevor wir zum finalen Schlag gegen ihn ausholen. Die projizierten Arena-Screens zeigen ein „Program Interrupted“ an, bevor sein Live-Stream abrupt endet. Kid X-Mas ist besiegt.

Die Szene lässt sich übrigens hier auf YouTube nachvollziehen: https://www.youtube.com/watch?v=1gAh5hICwv4

Der Weg zum Social-Media-Hero

In der Trivia zu „Remember Me“ erfahren wir, dass sich Kid X-Mas seine Popularität aufgebaut hat, indem er illegale Live-Streams seiner Raubzüge für Möchtegern-Nachahmer ausstrahlte. Er baute sich ein finanzielles Imperium auf und arbeitete intensiv an seinem Image. Durch seine wachsende Popularität wurde ein offizieller Unterhaltungskanal auf ihn aufmerksam, dem er schließlich die Rechte für die Live-Streams verkaufte. Medienwirksam gab er sich fortan als geläutert, nahm zwei Musikalben auf, eröffnete eine Drogenberatungsstelle und ein Rehabilitationszentrum mit Sportangeboten für benachteiligte Jugendliche. Er schaffte es also mühelos, in den Mainstream zu wechseln, ohne seinen Ruf als Bad Boy zu verlieren.

Übertrag in die reale Welt

Klingt irgendwie gar nicht so sehr nach Cyber-Punk-Fiction, sondern könnte meiner Meinung nach schon fast aus der Homestory eines aktuellen Lifestyle-Magazins vom Kiosk um die Ecke stammen.

Heute kann jeder ein Kid X-Mas sein, vielleicht nicht ganz so böse, aber doch ein Content Producer, im besten Fall ein „Influencer“. Wir sind jetzt schon an einem Punkt, bei dem wir genau die technischen Gegebenheiten haben, die „Remember Me“ vorwegnahm. Jede(r) mit ein wenig (!) Know-how und den entsprechenden finanziellen Mitteln kann auf Twitch sein Leben 24/7 teilen („Hygiene-Content“), jedes Ereignis von minimaler persönlicher Relevanz als gelegentliches Highlight im Programm einplanen („Hub-Content“) und sich dicke Sonderevents wie im Fall von Kids den Showdown mit Nilin vornehmen („Hero-Content“).

Wie missbräuchlich das schon jetzt genutzt werden kann, ließ sich im Herbst 2019 beobachten, als Stephan B. seinen Anschlag in Halle live auf Twitch streamte.

Twitch wurde im Juni 2011 in einer Beta-Version veröffentlicht. Im Erscheinungsjahr von „Remember Me“, 2013, gab es dort schon durchschnittlich 208.000 concurrent, also gleichzeitige Viewer. Im 2. Quartal 2020 waren es 2,36 Millionen. Das waren coronabedingt nochmals 0,9 Millionen mehr als im Vergleich zu Q1/2020. Ein Rekord! Zum Vergleich den letzten Super Bowl haben sich etwa 1,72 Millionen Menschen gleichzeitig angeschaut. Die Reichweite ist also schier explodiert und das Entscheidende ist, dass sie im Vergleich zu „früher“ heute rein theoretisch auch jede Einzelperson realisieren kann. Selbstverständlich ist der Bezug auf reine Reichweite an dieser Stelle eine erhebliche Simplifizierung hinsichtlich Social-Media-Kennzahlen, das ist für diesen Diskurs aber irrelevant.

Nicht falsch verstehen, es geht hier nicht darum, Twitch und Social Media zu diskreditieren. Es geht eher um die Erkenntnis, dass wir nicht erst bis ins fiktive Jahre 2084 blicken müssen, um zu erkennen, dass jeder Content Producer sein kann oder ist und dass das Reichweitenpotential längst da ist.

Die Vorwegnahme von Remember Me zu Social Media

Was will ich nun also für die reale Welt aus der Kampfszene von „Remember Me“ ableiten? Was behaupte ich trifft sogar heute schon zu?

  1. Der technologische und ideologische Boden (Stichwort „eager to please“) für eine Social-Media-Welt wie in „Remember Me“ ist bereits gegeben.
  2. Jeder ist on- und offline eine Marke, die Frage ist nur, ob sie aktiv selbstbestimmt und definiert wird.
  3. Dein Image muss nicht einmal positiv besetzt sein, wichtig ist nur, Du hast eines.
  4. Deine Reichweite macht Dich attraktiv; da verzeiht man auch gerne mal charakterliche Unzulänglichkeiten und drückt bei der Vita auch ggf. ein Auge zu.
  5. Die Lebens- und Selbst-Inszenierung lässt sich bereits jetzt perfekt steuern; man denke nur an die Möglichkeiten die Livefilter, Livestreaming und erschwingliche Drohnen bieten. Es sind keine technischen Grenzen gesetzt; den rechtlichen Aspekt mal außen vor gelassen.
  6. Privatheit erodiert. Vielleicht müssen wir uns daran gewöhnen, dass eine Möglichkeit besteht, dass wir in Zukunft zur Staffage in der „Show“, auf dem „Channel“ anderer werden; instrumentalisiert und – womöglich sogar ohne das Wissen darüber oder die Möglichkeit zur Einflussnahme – stilisiert werden; im schlimmsten Fall sogar nur objektiviert werden.
  7. Nicht jeder habituelle Selbstdarsteller hat fett den Schriftzug „Ego“ auf der Brust tätowiert so wie Kid X-Mas. Daher Augen auf, mit wem ich euch einlasst. 😉

Ich bin sehr gespannt, was ihr dazu denkt! Welche interessanten Ansätze und Ideen habt ihr in anderen Games gesehen?

Florian AuerTobiLennyAndré Eymann

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7 Antworten zu „Der Social-Media-Endboss“

  1. Avatar von Grobian Gans
    Grobian Gans

    Gab es nicht auch DMC: Devil may Cry eine dämonische Endgegnerfigur, die ein Medienimperium leitete?
    Und G, der Boss von Street Fighter V, streamt auch seine Kämpfe live. Das Influencertum ist also schon so weit etabliert, dass es als bekanntes Muster gern für eitle Selbstdarsteller genommen wird und jeder sofort erkennt, was gemeint ist.

    André Eymann
    1. Avatar von Claudia Feiner

      Hallo Grobian,

      Danke Dir für die Hinweise auf die beiden anderen Games. Nach Street Fighter 2 war ich erst mal aus dem Genre raus; insofern google ich das gern nochmal. Das mit DMC schau ich mir auch gleich noch an. Bin auch für weitere Hinweise immer dankbar.

  2. Avatar von Jonas
    Jonas

    Spannend, danke für die Beschreibung. Ich habe das Spiel gleich mal auf die Wishlist gesetzt. Mich hat die Beschreibung des Bosskampfs an Spider-Man von 2018 erinnert, das ich gerade auf der PS5 nachhole. Da gibt es (wohl auch in den Comics) die Schurkin „Screwball“, die etwas sehr ähnliches macht, sie streamt alles, was sie tut live ins Netz und animiert ihre Fans dazu, gegen Spider-Man anzutreten und ihm Fallen zu stellen. Als er sie dann erwischt, kann die Polizei nichts machen, da sie darauf hinweist, dass sie nichts gemacht hat und ihre Fans auch nicht direkt dazu aufgefordert hat, sie haben alles aus eigenem Antrieb für sie gemacht.

    André Eymann
  3. Avatar von Benni

    „Remember me“, ein Spiel, welches ich beinahe schon vergessen hatte (pun fully intended). Ist tatsächlich auch schon etwas länger her.

    Würde ich das Spiel heute nochmal spielen, würde ich dir zustimmen und viele Parallelen zur heutigen Social-Media-Welt erkennen. Was deine Vorwegnahmen angeht, stimme ich dir da auch weitesgehend zu, nur habe ich mich bei manchen Punkten gefragt, ob es wirklich (nur) Social-Media Phänomene/Effekte sind, die unser Persönlichkeitsbild formen. Selbstinszenierung und Imagepflege betreibt im gewissen Sinne ja jeder Mensch und das jeden Tag, sei es auf der Arbeit oder im Freundeskreis. In beiden Bereichen wird ja nicht die komplette Persönlichkeit wiedergegeben. Die Frage dabei ist, wen und wie viele will ich damit erreichen? Und ist mein „Ich“ gleich schon eine Marke?

    Die technischen Möglichkeiten zur Erschaffung einer „künstlichen“ Persönlichkeit sind heutzutage auf jeden Fall vielfältiger und für mehr Menschen erreichbarer, als es früher der Fall war. Ob dabei die „Privatheit“ komplett eingebüßt wird, darüber lässt sich wahrscheinlich lange diskutieren.

    Jetzt bin ich mir unsicher, ob mein Kommentar überhaupt Sinn macht oder irgendeinen Mehrwert bietet, außerdem habe ich gar nicht auf deine abschließende Frage geantwortet. Ich wollte diesen Text aber nicht unkommentiert lassen, weil er 1. sehr gut und interessant ist und 2. mehr solcher Texte schön wären.

    P.S. Death Stranding würde mir einfallen. Eine aufgeteilte Gesellschaft, die in ihrer eigenen Bereichen lebt und nur über Dritte miteinander handelt und in der Regel nur per Hologramm kommuniziert.

    André Eymann
    1. Avatar von Claudia Feiner

      Hallo Benni,
      ich finde Deine Gedanken überhaupt nicht krude! 🙂 Im Gegenteil, ich glaube wir teilen hier eine sehr ähnliche Beobachtung und Einschätzung!
      Du hast natürlich recht, es sind eben nicht nur die Social Media Phänomene, die dazu führen, dass wir auf eine bestimmte Weise wahrgenommen werden. Es ist genau der Effekt, dass jede(r) eine Marke ist (in manchen Fällen trifft es das Wort „Rolle“ vielleicht auch präziser) und es ist nur die Frage, wie aktiv wir an der Gestaltung dieser arbeiten.
      Death Stranding hatte ich tatsächlich just am vergangenen Wochenende mal kurz angespielt und war vor allem mal vom Setting und der fantastischen Grafik geplättet 😀 Dank Deines Hinweises bin ich jetzt doch ein wenig angetriggert, vielleicht doch auch noch länger in die Welt die Du beschreibst tiefer einzutauchen 😉
      Vielen Dank Dir für Dein Feedback! 🙂
      Claudia

      André Eymann
  4. Avatar von André Eymann

    Faszinierend! Ich kannte das Spiel bisher nicht, aber nach dem Lesen deines Textes schwirrten viele Gedanken in meinem Kopf. Wie recht du hast: die Verbindung der Fiktion des Spiels zu unserer Realität ist eindeutig und tatsächlich sind wir schon „viel weiter“ als manche vielleicht denken mögen. Das fasst du sehr schön in den sieben Punkten („Vorwegnahme“) am Ende deines Beitrages zusammen.

    Mein erster Gedanke war allerdings nicht Twitch oder beispielsweise Instagram, sondern Donald Trump. Wie auch „Kid X-Mas“ kehrt er die Realität in gefährlicher und zersetzender Art in seine persönlich motivierte „Wahrheit“ um und zerstört auf diesem Wege „Informationen“ und die Wahrnehmung. Ich wundere mich noch immer, dass manche Medien das „Gezwitscher“ seiner Person als lustig oder gar albern abtun (ok, es werden weniger, aber es gibt sie noch), denn tatsächlich ist durch das Auflösen dessen was „echt“ und was „fake“ ist ein Prozess in Gang gesetzt worden, der alles erlaubt; alles relativiert. Sogar das bisher undenkbare. Der Bad Ass wird zum Good Ass und andersherum. Alles wird manipuliert, wie es gerade passt. Nichts ist mehr real, alles fiktiv und dann wieder real.

    Natürlich sind wir mit unserer Social Media ebenfalls ein Teil davon. Die Selbstinszenierung hat Effekte, weil „andere“ sie als Realität begreifen und ihr nacheifern.

    Das klingt alle sehr dystopisch und das ist es auch. Es ist schwieriger geworden zwischen Realität und Lüge zu unterscheiden und wir sind daher mehr denn je aufgefordert, den direkten Dialog und Kontakt zu unseren Mitmenschen zu suchen. Zu erkennen, wer das auf der anderen Seite „wirklich“ ist und in das Gespräch zu gehen.

    Danke für einen sehr interessanten Text Claudia!

    Tobi
  5. Avatar von Darius

    Schönes Spiel und eine sehr interessante und zutreffende Analyse. Es ist in der Rückschau immer wieder spannend bis erschreckend, wie manche Spiele oder insbesondere Filme, die sich mit der vermeintlichen Zukunft beschäftigen, mit ihren weitsichtigen Ideen und Visionen nahezu genau so oder mindestens in Ansätzen zutreffen.

    Als weiteres Beispiel würde mir an dieser Stelle spontan Watch Dogs 2 einfallen, das mit seiner „Überwachungs- und Kontrollstaat“-Idee aber wohl schon zum Zeitpunkt der Entwicklung, in dieser Form, an vielen Stellen bereits Realität war/ist (Stichwort: Shenzhen, Facebook).

    Bei diesem Satz im Artikel: „Zum Vergleich den letzten Super Bowl haben sich etwa 1,72 Millionen Menschen gleichzeitig angeschaut.“ – kam ich etwas ins Grübeln. Auf was bezieht sich die Zahl? Je nach Statistikseite ist von ca. 100 Millionen US-Zuschauer und rund 800 Millionen Zuschauern weltweit die Rede.

    André Eymann