In der Regel, oder zumindest sehr oft, dreht sich in den Texten hier bei VSG alles um Erinnerungen an – mal mehr, mal weniger alte – Videospiele. Was aber, wenn die hervorstechende Erinnerung an ein Spiel ist, dass man sich kaum daran erinnern kann?
Es ist vermutlich nicht ungewöhnlich, wenn man hin und wieder vergisst, dass man einen Film schon einmal gesehen hat. Nach zehn, zwanzig Jahren kann das gerade bei weniger bemerkenswerten Streifen leicht passieren. Ich zum Beispiel schaute kürzlich »Flightplan« aus dem Jahr 2005. Der Beginn kam mir nicht bekannt vor, aber nach etwa 20 Minuten machte sich bei mir das Gefühl breit, den Thriller schon einmal gesehen zu haben. Zwar gingen meine Erinnerungen nicht so weit, dass ich hätte sagen können, was als nächstes gesehen würde; aber wenn eine Sache erst einmal passierte, dann kam mir das Geschehen stets vertraut vor. Weil ich den Film allerdings gemeinsam mit meiner Frau schaute, und die ihn definitiv noch nicht kannte, blieb ich bis zum Ende dran. Spätestens dann konnte ich mit Gewissheit sagen: »Flightplan« hatte ich nicht zum ersten Mal gesehen.
Ich will behaupten, bei Spielen, aber auch bei Büchern passiert so etwas seltener. Schließlich verbringen wir mit denen nicht nur erheblich mehr Zeit, sondern sind auch viel aktiver in das Geschehen involviert als bei einem Film, der in der Regel nicht länger als zwei Stunden dauert und den man ohne Weiteres auch nebenbei, im Halbschlaf oder Vollrausch konsumieren kann. Verständlicherweise bleibt dann auch weniger hängen. Mindestens einmal ist es mir aber auch beim Lesen eines Romans passiert, dass ich erst weit hinten im Buch realisierte, dass ich es tatsächlich schon kannte. »Durchsichtige Dinge« lautet der Titel des Buches, der in Anbetracht der Tatsache, dass selbiges in meinem Gedächtnis kaum Spuren hinterlassen hat, ziemlich treffend scheint. Dabei handelte es sich noch nicht einmal um »irgendein« Buch, sondern um ein Werk von einem meiner Lieblingsautoren: Vladimir Nabokov (»Lolita«, »Ada oder Das Verlangen«). Und da sollte man doch meinen, dass ich die Lektüre nicht schon nach kurzer Zeit vergessen sollte?
Genau genommen war es so, dass ich das Buch zu lesen begonnen hatte, unmittelbar nachdem ich es aus irgendeinem Restposten-Wühltisch mitgenommen hatte. An so viel erinnerte ich mich, und außerdem an eine ziemlich faszinierende Passage zu Beginn, in der über eine Länge von zwei Seiten und in schwindelerregenden Schachtelsätzen das »Leben« eines Bleistiftes rekapituliert wird, vom Schlagen der Kiefer, aus der er hergestellt wird, bis zu seinem untoten Dasein als vergessener Stummel in einer verklemmten Schreibtischschublade. Besagte Passage erschien mir aber auch schon als das Beste am Roman, von dem ich glaubte, ihn irgendwann beiseitegelegt und für ein unbestimmtes Später aufgespart zu haben. Als ich das Buch mit ein paar Jahren Abstand erneut bzw. dann auch endlich fertig lesen wollte, musste ich bis zur letzten Seite vordringen, bis ich auch hier mit Gewissheit sagen konnte: Das Ende kennst du doch! Diesen Roman hast du – anders als deine Erinnerung dir glauben machen wollte – schon beim letzten (also ersten) Mal komplett gelesen!
Seither sind nun wieder einige Jahre vergangen. Kann ich mich an dieses Ende – das offenkundig irgendwie bemerkenswert gewesen sein muss, wenn ich es doch anders als den Rest des Buches wiedererkannte – erinnern? Nein. Trotz offenkundig zweimaliger(!) Lektüre ist es mir entfallen, wie auch der überwiegende Teil des restlichen Romans. Einzig der Moment, an dem ich verdutzt feststellte, dass ich dieses (zugegebenermaßen recht dünne) Buch bereits zum zweiten Mal gelesen hatte, ist mir im Gedächtnis geblieben. Und die Passage mit dem Bleistift, selbstverständlich.
Schrödingers Zombiespiel
»Resident Evil 3: Nemesis« ist vielleicht nicht meine persönliche Nemesis, aber zumindest mein Videospiel-Äquivalent zu »Durchsichtige Dinge«. Ich habe die Dreamcast-Version des Titels vor vielen Jahren für kleines Geld bei eBay erstanden, und danach erst einmal längere Zeit im Regal verstauben lassen. Nach einigen Jahren, als mich wieder einmal die Lust auf Resident Evil packte (weil mich nämlich zuvor das wunderbare »Dino Crisis«, ebenfalls auf der Dreamcast, so sehr begeistert hatte, dass ich es gleich mehrere Male hintereinander durchspielte), war es an der Zeit, endlich auch Resident Evil 3 anzupacken.
Ihr ahnt es nun vermutlich schon: Als ich es dann spielte, stellte ich fest, dass ich es schon kannte. Und zwar nicht nur den Anfang (den man sich vielleicht mal anschaut, um nach dem Gebrauchtkauf zu prüfen, ob das Spiel auch wirklich läuft), sondern mindestens bis an den Punkt, wo die Heldin Jill Valentine den Straßenbahn-Waggon erreicht und auf die Söldner trifft. An diese Stelle erinnere mich, weil ich spätestens dort diesen Aha-Effekt verspürte – diese Epiphanie des Wiedererkennens, die mich bei Nabokovs Durchsichtigen Dingen erst auf der letzten Buchseite erfasste.
Dieser »Zweitkontakt« mit Resident Evil 3 muss nun auch schon wieder mehr als eine Dekade her sein. Und die Frage, die ich mir kürzlich stellte, ist die: Habe ich das Spiel an dieser Stelle – mit Erreichen der Tram – abgebrochen (weil ich realisierte, dass ich es schon kannte)? Oder habe ich es weiter- und schlussendlich durchgespielt? Hatte ich es vielleicht schon beim ersten Mal, unmittelbar nach dem Kauf, tatsächlich durchgespielt? Wieso erinnere ich mich dann an nichts, was nach der Szene in der Straßenbahn kommt? Und überhaupt an so wenig vom Spiel? Anderseits sind die wenigen bewussten Erinnerungen, die ich an Resident Evil 3 habe, allesamt positiv. Wieso sollte ich einen so kompakten Titel dann nicht durchgespielt haben? Es scheint mir unwahrscheinlich, dass ich hängen geblieben sein könnte…, und wenn doch, dann wäre mir das doch sicher in Erinnerung geblieben.
So steht »Resident Evil 3: Nemesis« auch heute noch in meinem Regal: Als verlockendes Mysterium. Habe ich es einmal durchgespielt? Oder sogar zweimal? Oder gar nicht? Um das zu erfahren, müsste ich es wohl noch einmal – oder endlich einmal? – spielen, und zwar am besten durch.
Ein Film namens »Flightplan«, ein Roman namens »Durchsichtige Dinge« und ein Survival-Horrorspiel mit dem Titel »Resident Evil 3: Nemesis«. Werke zum Vergessen? Zum Immer-Wieder-Neu-Vergessen…
PS: Die Demo vom RE3-Remake – an die kann ich mich erinnern!
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