Mich interessiert nicht, wer du bist. Ein Satz wie ein Schlag ins Gesicht – und gleichzeitig einer der schönsten Ausgangspunkte für eines der wichtigsten Rollenspiele aller Zeiten. Namen sind eben nur Schall und Rauch in der Strafkolonie, in die es uns in Gothic I verschlägt, und umso einzigartiger fühlt sich gerade der Anfang des Rollenspiels an: Weißer als ein namenloser Held kann ein Blatt Papier, auf dem wir unsere eigene Geschichte schreiben, wohl nicht sein.
Schon in der ersten Entscheidung, die wir in Gothic I als zu Unrecht verurteilter und zur Zwangsarbeit in der magisch abgeschirmten Minenkolonie verdonnerter Bartträger treffen müssen, zeigt sich die Offenheit der Spielwelt. Wir können entweder dem Dieb, Bogenschützen und Quasi-Mentor Diego in das Alte Lager folgen, das den Erzhandel mit der Außenwelt kontrolliert, und uns von ihm die ersten Gegner aus dem Weg räumen lassen – oder wir machen uns selbst auf, die heutzutage zwar optisch nicht mehr ganz so hübsche, aber atmosphärisch unheimlich dichte 3D-Welt zu erkunden.
Auch wenn der Spieler von heute wohl eher zu Ersterem tendiert – Tutorial-Sucht sei Dank – lohnt sich die Entscheidung für die organischere Variante und die Reise ins Ungewisse. Das Besondere: Es gibt natürlich rollenspieltypisch Tonnen an Ausrüstungsteile und sonstigen Gegenständen und wir können auch wie gewohnt Attribute und Skills steigern, aber viel mehr von dem Komfort, an den wir uns heute so gewöhnt haben, erwartet uns in Khorinis nicht.
Weder haben wir von Anfang an eine Karte zur Verfügung, noch sind Quest-Geber auf den ersten Blick als solche markiert, und auch sonst wird man in Gothic I erfreulich wenig an die Hand genommen. Die Erkundung der Spielwelt wird beispielsweise durch gefährlichere Gegner, nicht etwa durch unsichtbare Barrieren begrenzt, und unsere erste große Aufgabe, das Überbringen eines Briefs an den obersten Feuermagier im Alten Lager, ist ohne Hirnschmalz und Improvisationsgabe kaum zu meistern.
Dass die erste Lösungsmöglichkeit nicht immer die beste scheint – in diesem Fall die Aufnahme ins vom Startpunkt aus geografisch am nächsten gelegene Alte Lager, um möglichst schnell an bessere Rüstungen, Waffen und wahlweise auch mächtige Zaubersprüche zu kommen – offenbart sich schnell. Im Zuge des Aufnahmerituals, in dem wir wichtige Persönlichkeiten im Lager dazu bringen müssen, für uns zu stimmen, führen uns zwei Quests in das Neue und das Sumpflager.
Während im Neuen Lager abtrünnige Söldner an einem Ausbruchsplan tüfteln, gehen die Sektierer im Sumpflager davon aus, dass das Ende der Welt bevorsteht und schweben selbigem dank des Konsums von tonnenweise Sumpfkraut tiefenentspannt entgegen. Auch diesen zwei Gruppierungen, die für unterschiedliche Spielstile und Lebensphilosophien stehen, können wir beitreten. Durch jeweils nur als Mitglied der entsprechenden Gruppen verfügbare Quest-Reihen und Ausrüstungsgegenstände erhöht sich der Wiederspielwert enorm.
Ein derartiges Maß an Immersion sucht man in vielen Rollenspieltiteln heute noch vergeblich.
Florian Zandt
Rund um diese Grundlagen und das Kernziel, den Ausbruch aus der Barriere, haben die Entwickler von Piranha Bytes ein dichtes Netz aus kleinen Features gestrickt, das Gothic I jede Menge Leben einhaucht. Unser Held kann beispielsweise erbeutetes rohes Fleisch an einer Feuerstelle grillen und so durch den Konsum mehr Lebensenergie zurückbekommen, sich selbst ein gerade zu Beginn recht patentes Schwert schmieden, oder einfach Wasserpfeife rauchend oder auf einer Bank sitzend das Treiben der Lagerbewohner verfolgen, die alle ihrem eigenen dynamischen Tagesablauf nachgehen. Ein derartiges Maß an Immersion sucht man in vielen Rollenspieltiteln heute noch vergeblich. Da macht selbst die heute wie damals grauenhafte Steuerung nur wenig kaputt.
Eine Welt, die auch ohne den Eingriff des Spielers lebt und atmet, eine weit verästelte Story mit unterschiedlichen Lösungswegen, ein Tooltip-Minimalismus, der mehr motiviert als frustriert, detailliert ausgearbeitete Charaktere und ein feiner Sinn für Humor: Knapp 14 Jahre nach seiner Veröffentlichung vermittelt Gothic I von der ersten Minute an ein Gefühl von Freiheit, das heutzutage immer noch seinesgleichen sucht und an das auch der spirituelle Nachfolger Risen nicht wirklich heranreicht. Die Ironie des Schicksals: Nie durfte man sich als Rollenspieler freier fühlen als unter dem mit blauen Blitzen durchzogenen Himmel der magischen Barriere.
Dieser Beitrag ist zuerst am 27. April 2015 auf randomarticlemachine.com erschienen.
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