Hektische Funksprüche. Eine Spezialeinheit seilt sich vor den Fenstern herab. Die Scheiben klirren. Die Soldaten entern in den Raum. Ich reagiere instinktiv, schieße eine Salve aus der Kalashnikov in Richtung eines Angreifers. Gerade noch rechtzeitig taucht er hinter einem Bücherregal ab. Meine Kugeln zerreißen die schweren Bände in der Luft. Lose Seiten fliegen durch den Raum, lenken meinen Fokus für einen kurzen Moment von meinem Ziel ab.
Dann höre ich sie. Die dröhnenden Trompeten von David Arnolds Soundtrack. Die Musik peitscht mich an. „Jetzt!“, sage ich mir. Ich sprinte in Richtung des kauernden Soldaten. Mein Arm, nein! James Bonds Arm rast nach vorne, trifft ihn am Kinn. Während mein Gegner zu Boden geht, fühle ich mich lebendig. Richtig lebendig.
Liebesgrüße aus den Neunzigern
Wie wahrscheinlich jede Person weiß, die den Artikel angeklickt hat, basiert „GoldenEye“ auf dem gleichnamigen Kinoerfolg aus dem Jahr 1995. Die erste legendäre Umsetzung des ebenso legendären James-Bond-Films für das Nintendo 64 erschien 1997 und war für eine ganze Generation von Gamer:innen von prägender Bedeutung.
2010 erschien ein Remake für die Wii, welches später auch für die Xbox 360 und die Playstation 3 umgesetzt wurde. Das Remake gilt landläufig als ganz netter – aber letztendlich gescheiterter – Versuch, den Blitz ein zweites mal in der Flasche zu fangen. Sein Vorgänger wird dagegen seit den Neunzigern gefeiert und tatsächlich gibt es viele gute Gründe, das Original zu lieben.
So konnte man damals dank einer großzügigen Lizenz auf die digitalisierten Erscheinungsbilder der Stars setzen. Ein nicht zu unterschätzender Trumpf. Denn immerhin gelang es damals den Produzenten und Regisseur Martin Campbell, GoldenEye bis in die kleinste Nebenrolle perfekt zu besetzen.
Diesen Trumpf kann das Remake nicht ausspielen. Lediglich das Gesicht von Daniel Craig gibt der Neuauflage die notwendige Autorität. Während der Lizenz-Verlust bei einem Charakterkopf wie Gottfried John schon schwer wiegt, wirkt er nahezu unverzeihlich bei der Besetzung von Bonds Widersacher 006 mit einem blassen Nobody (Meine Wunschbesetzung für Alec Trevelyan im Remake wäre übrigens Michael Fassbender gewesen).
Ein weiteres Pfund des Originals ist natürlich der Soundtrack von Grant Kirkhope. Seine Musik fängt nicht nur die Atmosphäre des Films perfekt ein, sie ist dem Score von Éric Serra ebenbürtig. Nicht wenige Bond-Fans würden sogar sagen, Kirkhopes Musik sei besser.
Doch all das begründet nicht allein den Klassikerstatus des Originals. Der wahrscheinlich wichtigste Grund für den Erfolg war dessen intuitive Gestaltung. „Anti-Game-Design-Approach“ nannte der Entwickler Martin Hollis die Herangehensweise des unerfahrenen Teams im September 2004 in einer Rede auf dem European Developers Forum. So wurde „GoldenEye“ für das N64 zu einem Sandkasten, in dem wir spielen konnten, wie wir wollten. Ganz intuitiv eben.
Aber wenn wir die rosarote Brille einen Moment lang absetzen, beruht der Kult um das Spiel nicht zum großen Teil auf den Erinnerungen an wilde Multiplayer-Gefechte im Kinderzimmer? Das ist natürlich okay und bei mir nicht viel anders. Doch versperrt uns der Legendenstatus des Originals vielleicht auch den Blick auf ein ernsthaft gutes Remake? Übersehen wir sogar die Fehler, die der Klassiker hat?
Als ich das Modul vor ein paar Monaten nach langer Zeit mal wieder in den Schacht des N64 steckte, bemerkte ich, dass mir einige Level in der Missionsauswahl nichts mehr sagten: Depot? Eine Mission mit dem Charme eines Industriegebiets nach Feierabend. Jungle? Ein matschiges Durcheinander.
Ebenfalls war ich verwundert, wie ratlos mich das alte „GoldenEye“ an einigen Stellen zurückließ. Was soll ich mit dem Schlüssel, den die Wache verloren hat, anfangen? Soll ich ernsthaft den ganzen Weg zum Beiboot zurücklaufen, nachdem ich alle Ziele erfüllt und alle Schurken auf der Fregatte erschossen habe? Ist das hier ein Walking-Simulator oder ein James-Bond-Abenteuer?
Ein Quantum Lob
Das Remake geht hier zum Glück seinen eigenen Weg und über einen konservatorischen Ansatz hinaus. Es lässt die Verspieltheit des Originals hinter sich und ist im Ton ist deutlich ernster und erwachsener. Das an sich ist kein Wert, entspricht aber dem Zeitgeist der Craig-Ära, wie das N64-Spiel dem Charme der Brosnan-Jahre entsprach. Auch strukturell ist die Neuauflage deutlich strenger. Hier gibt es keinen Leerlauf. Das Spiel führt mich, lässt mich wissen, was ich zu tun habe.
Auch inhaltlich ist das Remake schroffer als sein indizierter Vorgänger. Wegen seiner vermeintlichen Nähe zum Singleplayer von „Call of Duty“ wurde das Spiel sogar als „Call of Bond“ diffamiert. Dabei wird häufig übersehen, dass die Kampagnen des Army-Shooter-Franchises in der Regel beeindruckend inszenierte Achterbahnfahrten sind, die den Adrenalinpegel des Spielers immer auf dem richtigen Level halten. Für ein Videospiel, das auf einem Actionfilm-Franchise basiert, ist das eine durchaus logische und adäquate Vorgehensweise.
Diese cineastische Erfahrung des Spiels wird durch den ausgezeichneten Soundtrack noch verstärkt. Wie schon erwähnt, ist Grant Kirkhopes Leistung eigentlich nicht zu ersetzen – gäbe es nicht den Soundtrack von David Arnold und Kevin Kiner. Arnold versteht Bond wie kaum ein anderer Komponist. Nicht umsonst war es der Vater des Bond-Sounds, John Barry, der ihn der 007-Produzentin Barbara Broccoli empfahl. Und auch hier findet Arnold immer den richtigen Ton. Selten hat mich ein Soundtrack (abseits eines Rennspiels) derart in die Action hineingezogen. Wer 007 in seiner DNA hat, wird nicht umhin können, jeden Ton mit seinem ganzen Körper zu fühlen.
Another way to play
Apropos Gefühl. Was löst in mir dieses Gefühl der Lebendigkeit aus, dass ich der Einleitung beschrieben habe? Es kann doch unmöglich die Bewegungssteuerung sein. Erst recht heute, wo sie gerne abschätzig als „Fuchtelsteuerung“ bezeichnet wird und für die Meisten lediglich ein Ärgernis aus der Vergangenheit darstellt?
Zugegeben, aus heutiger Sicht mag der goldene Pro-Controller, der der Limited Edition beilag, mehr wie eine vorauseilende Entschuldigung als wie ein nobles Gimmick wirken. Und wenn ich ehrlich bin, habe ich mich auch eines Internet-Tutorials bedient, das mir das perfekte Kontrollschema versprach (und lieferte).
Und doch sorgt die Bewegungssteuerung dafür, dass „GoldenEye“ für die Wii wie schon das Original ein intuitives Spiel ist – wenn auch auf ganz andere Weise. Erst die Bewegungssteuerung lässt uns so souverän fühlen und agieren, wie es der Agent Ihrer Majestät auf der Leinwand tut. Wenn mich im Spiel eine Wache überrascht, ich dann aus purem Instinkt meine Hand rumreiße und ihr mit tödlicher Präzision eine Kugel zwischen die Ohren verpasse, erfüllen sich für mich noch am ehesten die Versprechungen, die ich seit den achtziger Jahren auf Verpackungen lese: „Sei der Held und rette die Welt“. So sehr ich „Nightfire“, „Bloodstone“ und sogar „007 Legends“ liebe, keins dieser Spiele verleiht mir so sehr das Gefühl, 007 zu sein. Und wenn mir ein Stück Software dieses Gefühl verschafft, ist die Welt für einen Moment doch genug.
Zudem trägt Bewegungssteuerung Daniel Craigs physischer Präsenz Rechnung. Während Pierce Brosnan teilweise mit fast spielerischer Leichtigkeit durch seine Abenteuer tänzelte, wirkt Craig in seinem Filmen deutlich abgekämpfter.
Und das ist auch der Punkt. Wenn ich einen Egoshooter auf der Wii spiele fühle ich mich anders, als wenn ich ihn auf einer Konsole mit herkömmlichen Controller spiele. Ich fühle mich abgekämpft. Ich gehe mehr mit, investiere mich mehr in das Spiel. Auf diese Weise bietet mir das Remake des N64-Klassikers etwas, was das Original mir nicht bieten kann – eine fast urtümliche Emotion, eine Verbindung zu meinen Instinkten.
Aber kann man wirklich die Bewegungssteuerung dafür verantwortlich machen? Sollen ein paar harmlose „Hampeleien“ wirklich etwas in uns bewirken? Das ist in der Tat schwierig zu beantworten und wenn ich ehrlich bin, bin ich wohl nicht der richtige Mann dafür. Ich bin weder Yogalehrer, Tanztherapeut oder gar Verhaltensbiologe. Ich begebe mich daher auf dünnes Eis, wenn ich die folgende These zur Diskussion stelle: Wenn Bewegungen Einfluss auf unsere Emotionen haben, kann auch die Bewegungssteuerung der Wii einen Einfluss auf unsere Gefühle haben.
Von René Descartes würde ich definitiv keine Unterstützung für meine These erhalten. Schließlich formulierte er im 17. Jahrhundert noch die Trennung von Körper und Geist. Doch heute gehen viele Forscher von Wechselwirkungen von motorischen und emotionalen Prozessen aus. Oder wie der Neurowissenschaftler António Damásio von der University of Southern California sagt: “The mind is embodied, not just embrained.”
Das ist wie schon gesagt, eine äußerst dünne Faktenlage aber mit Sicherheit ein spannendes Thema für einen eigenen Aufsatz, den jemand Schlaueres als ich schreiben sollte (Freiwillige vor). Die Wissenschaft hat sich viel mehr auf die Untersuchung der Wii und ihrer Software auf mögliche positive Effekte für die Fitness (von Senioren) konzentriert.
Doch die Unmittelbarkeit von der körperlichen Bewegung des Menschen und dem Geschehen auf dem Bildschirm könnte eine Erklärung sein, warum sich Wii Tennis einfach so gottverdammt gut anfühlt, warum es ein anderes Gefühl ist, mit einer zuckenden Lightgun auf die Jagd zu gehen, als mit einem Standard-Controller.
Zum Schluss will ich noch auf eine besondere Leistung des Spiels eingehen. Eine Leistung, die man eigentlich nur als harter Bond-Fan wirklich zu schätzen weiß, dafür aber nicht hoch genug anrechnen kann. Die Neuauflage beantwortet eine Frage, die fast alle 007-Ultras beschäftigt: Was wäre wenn… Was wäre „Diamantenfieber“ für ein Film geworden, hätte der Regisseur Peter Hunt geheißen und hätte der Lebemann Lazenby den gefrusteten Connery ersetzt? Wäre Timothy Daltons dritter Bond-Film (der übrigens schon einige Elemente der Brosnan-Ära enthalten hätte) der ersehnte Hit gewesen und wäre ihm endlich die verdiente Anerkennung zuteil geworden?
GoldenEye für die Wii ist die seltene Manifestation eines solchen Gedankenspiels. Es öffnet uns ein Fenster in eine Traumwelt. Eine Traumwelt, in der GoldenEye erst im Jahr 2010 veröffentlicht und Daniel Craig als 007 gecastet wurde. Ob es in dieser Welt Pierce Brosnan nie gegeben hätte, will ich mir dagegen gar nicht vorstellen. Der „Brozzer“ ist ebenso ein Teil meiner Jugend, wie das GoldenEye für das N64.
Spielen und spielen lassen
Das ist vielleicht auch alles, was man über die „GoldenEyes“ sagen muss („Rogue Agent“ lassen wir mal außen vor): Die Spiele sind, ähnlich wie die Bondfilme, verbunden mit ihrem jeweiligen Zeitgeist. Am Ende ist es das, was sie einzigartig macht.
Außerdem ist es in der Welt von James Bond gute Tradition, den gleichen Stoff immer wieder an eine neue Zeit anzupassen. „Feuerball“, „Der Spion, der mich liebte“ und „Moonraker“ sind wahrscheinlich die besten Beispiele dafür. Mit dem nötigen Abstand aber können wir erkennen, dass all diese Filme trotz der gleichen Vorlage ihren eigenen Charakter und ihre individuellen Stärken und Schwächen entwickelt haben.
Und wenn wir unsere goldenen Augen etwas weiter öffnen, können wir vielleicht auch erkennen, das GoldenEye für die Wii zwar kein perfektes Spiel ist, aber dafür ein sehr gutes, das auf eigenen Beinen steht, den Geist einer Ära sehr gut einfängt – und noch wichtiger – Spaß macht.
Podcast-Folge: „Im Gehörgang Ihrer Majestät“ spricht über das legendäre GoldenEye für das Nintendo 64
Unser Podcast über die Abenteuer von 007 erarbeitet sich ein neues Medium – das Videospiel. Und mit welchem Spiel könnte man besser in das Thema einsteigen als mit dem Klassiker „GoldenEye“ für das N64? Richtig, mit keinem.
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