In der Mitte der achtziger Jahre sind Videospielautomaten in der Bundesrepublik Deutschland noch ein ganz normaler Bestandteil des täglichen Lebens. An vielen öffentlichen Orten findet man diese oftmals äußerst hochwertig gestalteten Geräte.
Technisch sind sie den Spielgeräten für’s Wohnzimmer haushoch überlegen. Mehr Farben, mehr Sprites und ein komplett anderes Spielgefühl als das, welches in den heimischen vier Wänden zu dieser Zeit möglich ist, sind ihre ganz speziellen Markenzeichen.
Neben den enorm hochwertigen Automatengehäusen mit ihren massiven Joysticks und den soliden Knöpfen glänzen diese Geräte oft mit den kreativsten Eingabemöglichkeiten, von denen man zuhause nur träumen kann.
Hochspannung bei heißen Temperaturen
Grundsätzlich gilt bei den meisten Automaten: Nur drei Versuche für eine Mark stehen dem Spieler zur Verfügung. Möchte man mehr, müssen Münzen nachgeworfen werden. Außerdem dient das Geschehen auf dem Bildschirm in vielen Fällen nicht nur dem eigenen Vergnügen – Das Spiel als solches bzw. die eigene Darbietung kann von einem oder im besten Fall mehreren Zuschauern verfolgt werden.
Die daraus resultierende, elektrisierende Hochspannung ist ein ganz besonderes Spielgefühl, das im Laufe der Spiele-Evolution und speziell durch das Verschwinden der Arcades als kulturelles Phänomen in unserer Republik so gut wie komplett von der Bildfläche verschwinden wird.
Vereinzelt sind diese Geräte heute immer noch zu finden und natürlich macht es Spaß, die großen Klassiker von einst im Hier und Jetzt durch die zur Verfügung stehenden technischen Mittel zu neuem Leben zu erwecken, aber einen wirklichen Ersatz für das authentische Spielgefühl gibt es nicht. Selbst die besten Emulatoren für heutige Computer können nur noch ein schwaches Abbild des Lichtes reproduzieren, dessen Aura die Atmosphäre der Automatenspiel-Ära prägte.
1986 gibt es für mich und meine Freunde in den Sommerferien nichts Schöneres, als vom kleinen Dorf, in dem wir leben, mit dem Bus in ein riesiges Freibad in der nächstgrößeren Stadt zu fahren.
Die Sonne brennt an einem wolkenlosen blauen Himmel und wir sind frei von den unsäglichen Mühen unseres Schulalltags. Eine fast grenzenlose grüne Liegewiese, mehrere Schwimmbecken samt Wasserrutsche und Turmsprunganlage laden zu einem ebenso grenzenlosen Badespaß ein.
Für uns ist es damals immer ein riesengroßes Abenteuer im Sommer, ins Freibad zu fahren. Im kühlenden Schatten von einem der vielen hohen Bäume legen wir unsere Strandmatten und unsere Habseligkeiten nieder und albern herum, wie es kleine Jungs am Anfang ihres zweiten Lebensjahrzehntes eben tun, bevor wir uns dem nassen Vergnügen in den Schwimmbecken zuwenden. Die Tage dort erscheinen uns endlos lange und wenn wir eins auf dieser Welt haben, dann ist es jede Menge Zeit.
Ich glaube, es war an diesem, in der Retrospektive, fast schon paradiesischen Ort, als ich zum ersten Mal in meinem Leben mit der Welt der Videospielautomaten in Berührung gekommen bin.
Das Hauptgebäude des Schwimmbads befindet sich auf einer kleinen Anhöhe des Geländes. In ihm untergebracht ist ein kleines Bistro, in dem ein paar kühle Getränke und etwas zu Essen angeboten werden. Auf dem Langnese-Poster wird das Sortiment der gut sortierten Kühltruhe beworben: Dolomiti, Brauner Bär und Calippo. Im gesamten Bistro sind fast nur junge, gutgelaunte Menschen zu sehen. In der Luft liegt der Duft von Sommer, Haribo und Sonnenschutzcreme.
Mädchen in Bikinis und Badeanzügen flirten bei einem Glas Limonade noch etwas schüchtern mit den älteren Jungs an der Bar und aus dem Radio erklingen neben dem lokalen Wetterbericht die größten Pop-Hits der Achtziger. Noch sind diese Melodien keine Klassiker aus längst vergangenen Tagen, sondern der Inbegriff der modernen musikalischen Unterhaltung.
Barfuß stehe ich dort und bin regelrecht von der wunderbaren Leichtigkeit dieses Ortes hingerissen. Und wie selbstverständlich stehen in diesem kleinen Bistro ein paar Videospielautomaten und laden zu einer kurzweiligen Vergnügung der elektronischen Art ein. Leider habe ich nicht eine einzige Münze parat, um selbst in den Genuss auch nur eines dieser Spielgeräte zu kommen.
Fernöstliches im Schwimmbad
Dennoch ziehen mich diese magisch anmutenden Geräte mit einem Schlag in ihren Bann. Die unterschiedlichsten Videospiele flackern über die Bildschirme und werben mit fantastischen Spielszenen und magisch anmutenden Soundeffekten um Aufmerksamkeit und Publikum.
In dem fast unendlichen Meer von Eindrücken erblicke ich eine kleine Figur, die sich offenbar in arger Bedrängnis befindet. Von allen Seiten stürmen feindselige Angreifer herbei und wollen ihr das Leben schwer machen. Die massenhaft anstürmenden Gegner ergreifen den Helden des Spiels und halten ihn fest. Heimtückische Messerwerfer trachten ihm zusätzlich nach dem Leben.
Doch dieser kleine Held ist nicht wehrlos, denn seine Waffe heißt: Kung Fu. Ich bin völlig sprachlos. Das ist ja fast wie im Kino, nein, sogar noch besser! In einem stakkatoartigen Schlagabtausch fallen die Angreifer der Reihe nach in den Abgrund.
Die Farbpalette der Szenerie passt perfekt zu dem Erscheinungsbild des Bistros. Alles wirkt sauber und kein Stäubchen trübt den fernöstlichen Glanz, in dem das faszinierende Martial-Arts-Abenteuer stattfindet.
Die Zauberkraft, die für mich von diesem Spiel ausgeht wird in Level 2 sogar noch durch das Auftauchen von magischen Drachen aufgegriffen, deren Präsenz mir in der Pixelwelt völlig nachvollziehbar erscheint. Und so schwer scheint das Spiel gar nicht zu sein! Mit gezielten Schlägen, Tritten und Sprüngen dürfte es ein Leichtes sein, sich gegen die feindliche Übermacht durchzusetzen.
Der kleine Held ist schließlich ein wahrer Meister seines Fachs und der Spieler muss nur den Joystick des Automaten und zwei Angriffstasten bedienen, um ihn zu steuern. Doch in Ermangelung eines Markstücks darf ich leider nur zusehen.
Unholde auf dem Friedhof
Doch was ist das? Ein Friedhof? Tatsächlich! Und dort kämpft ein tapferer Ritter um sein Leben, stets nur ein Ziel vor Augen: Seine holde Geliebte muss aus den Fängen des Fürsten der Dunkelheit gerettet werden.
Das Geschehen auf dem Schirm des Automaten steht in komplettem Kontrast zu der Atmosphäre, die von dem Freibad und dem kleinen Bistro ausgeht. Hier hausen Zombies und Dämonen in finsterer Nacht!
Gefährliche, fleischfressende Pflanzen, die mit tödlichen Projektilen schießen, müssen mit Fackel und Lanze unschädlich gemacht werden. Einen reißenden Fluss gilt es zu überqueren und immer wieder lauern Tod und Verderben untermalt von bizarren Toneffekten und geradezu hypnotischer Musik auf den Spieler. Wird er getroffen, verliert der einsame Ritter seine schützende Rüstung und muss seinen Weg nur in seine Unterhose gekleidet fortsetzen.
Beim nächsten Treffer ist es dann um ihn geschehen und er verwandelt sich in ein Skelett, womit das Schicksal eines seiner drei Leben dann besiegelt ist. Am Ende des Waldes, der nach dem Friedhof kommt, steht ein Gebäude (oder ist es ein Tor?), das von einem besonders starken Unhold bewacht wird.
Was um alles in der Welt befindet sich jenseits dieser schier unüberwindlichen Barriere? Wie geht das Abenteuer um den Ritter weiter, der verzweifelt versucht seine geliebte Prinzessin aus diesem alptraumähnlichen Inferno zu befreien?
Im Rausch der Geschwindigkeit
Direkt daneben steht, als sei es die normalste Sache der Welt, ein waschechtes Motorrad. Im Vergleich zu den mir bekannten Rennspielen wirken diese im direkten Vergleich allerdings nur noch wie ein schlechter Witz. Hier wird nicht mit einem kleinen Joystick gesteuert, sondern der Spieler verschmilzt unmittelbar mit dem Automaten, indem er das Spiel wie in der Wirklichkeit mit der angebrachten Maschine steuert.
Durch sanfte Neigung des Motorrades wird gelenkt, Gas und Bremse werden wie beim unmittelbaren Vorbild am Lenker betätigt. Das ist Luxus in seiner allerreinsten Form! Der auf dem Bildschirm präsentierte Geschwindigkeitsrausch saugt mich förmlich in das adrenalingeladene Geschehen hinein.
Am Horizont der Rennstrecke glaube ich, die Lichter einer großen Stadt zu erkennen. Der Fahrer selbst kämpft sich in seiner Ledermontur über den rauen Asphalt der Strecke. Würde er die Stadt jemals erreichen, wenn er nur lange genug durchhalten würde? Dieser Gedanke beschäftigt mich am Meisten, während ich ihm zusehe, wie er seine Rivalen mit geschickten Überholmanövern hinter sich lässt und den zahllosen Gefahren der Rennstrecke ausweicht.
Dann reißt der Film plötzlich ohne Vorwarnung ab und eine Highscore-Liste wird eingeblendet. Auch diese Frage muss leider unbeantwortet bleiben.
Raubvögel von einem anderen Stern
Aber auch der unendlich weite Weltraum findet nur wenige Zentimeter neben dem halsbrecherischen Tempo der Rennstrecke seinen Platz in dem kleinen Bistro des Freibades.
Eine Armada von Raubvögeln befindet sich im Kampf gegen ein einsames Raumschiff. Das Spiel kenne ich doch vom Heimcomputer meines besten Freundes! Hier ist das galaktische Geschehen aber nicht der beruhigenden Tristesse seines Grünmonitors unterworfen, sondern erstrahlt in voller Farbpracht auf dem großen Bildschirm, eingebettet in ein erstklassig designtes Automatengehäuse. Volle Power also – Das wirklich Wahre!
Obwohl ich den Automaten aufgrund seiner gesamten Erscheinung als etwas älter einschätze, als die Geräte um ihn herum, bin ich auch von ihm bis zum Anschlag fasziniert. Gerade der Kontrast zu der mir bekannten C64 Vorlage macht ihn für mich so unwiderstehlich.
Die Animationen der angreifenden Vögel und die Spritzigkeit der Laserschüsse des Raumschiffes lassen ihn in meinen Augen regelrecht lebendig wirken. Jedes einzelne Pixel auf dem Bildschirm wirkt auf mich wie von einem anderen Stern.
Ich habe das Gefühl durch den Spielautomaten direkt mitten in die geheimnissvolle Weite des Alls sehen zu können und die Wahrheit darüber zu erfahren, wie es dort draußen wirklich zugeht.
Im Höllentempo über Stock und Stein
Im Außenbereich des Bistros steht etwas abgelegen ein weiterer Automat, der mit einem an ihm justierten Motorrad gesteuert wird. Dort haben sich auch einige Kinder und Jugendliche zu der einen oder anderen Probefahrt versammelt.
Es handelt sich aber nicht um ein herkömmliches Motorradrennen auf ebener Strecke, sondern es geht in einem Höllentempo über Stock und Stein. Immer wieder muss der Fahrer der PS-starken Motocrossmaschine gefährliche Sprungschanzen überwinden, die wie aus dem Nichts auf der auf- und niedergehenden Strecke erscheinen.
Durch ruckartiges Hochreißen der Vorderachse führt der Pixelpilot dort ein meterhohes Sprungmanöver aus, fliegt fast schwerelos durch die Luft und muss das Geländemotorrad wieder gekonnt mit der Erde in Kontakt bringen. Was für ein fantastisches Rennspiel!
Wenn ich doch nur einen Hauch von diesem Erlebnis, das sich mir alleine durch das Zusehen dieses Spektakels bietet, zuhause an meinem kleinen Heimcomputer mit meinen BASIC-Grundkenntnissen nachprogrammieren könnte!
Als ich in dieser Nacht zuhause in meinem kleinen Zimmer am Rande der Republik durch mein offenes Fenster über die hohen Tannen in den nächtlichen Sternenhimmel blicke, nehme ich den leichten Sonnenbrand, den ich mir an diesem Tag geholt habe so gut wie gar nicht wahr.
Was für ein Tag! Meine Gedanken kreisen immer noch um all die wunderbaren Spiele, denen ich in dem kleinen Bistro des Freibades begegnet bin. Hier bei mir daheim sind sie nun in unerreichbar weite Ferne gerückt. Mir bleibt nichts weiter übrig, als mir all die Geheimnisse, die in ihnen noch verborgen sein mögen, allein mit der Kraft meiner Phantasie zusammenzureimen.
Welche Gefahren hält der asiatische Tempel noch bereit? Was kommt nach diesem finsteren Wald hinter dem Friedhof, wo der tapfere Ritter um seine Prinzessin kämpft? Wird der Motorradfahrer die Stadt am Horizont der Bergstrecke jemals erreichen?
Das ist zu dieser Zeit meines Lebens der Stoff, aus dem meine Träume sind. Aus meiner Stereoanlage erklingt leise ein Lied, das auch im Bistro des Freibades im Radio gespielt wurde. Es tröstet mich darüber hinweg, dass meine Versuche, das Motocross-Rennen auf meinem Commodore 16 nachzuprogrammieren leider nicht von dem erhofften Erfolg gekrönt waren.
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