Wie ein nie offiziell erschienenes Playstation 1 Spiel für einen Hype am Schulhof sorgte.
„Pssst…!“ Als mir damals ein Klassenkollege in der Pause auf die Schulter klopfte, kursierte bereits dieses Gerücht. Über ein englischsprachiges Videospiel, das aufgrund seiner Brutalität von der Öffentlichkeit ferngehalten werden sollte. Konnte das wirklich sein? Gab es tatsächlich so ein Spiel?
Diese durchgreifende Neugierde wusste richtig gemein zu werden. Natürlich hechelte sie treffsicher dem Reiz des Verbotenen hinterher. Es heute anders zu beschreiben, wäre schlicht unehrlich. Die ersten Informationsfetzen zeigten sich eher spärlich. Charaktere massakrieren sich mit Skalpellen, „Up to 4 Players!“, spielbar sollte es auf der Playstation 1 sein. Das genügte bereits, um einen regelrechten Hype in der Klasse zu entfachen.
Das Problem: Das Internet nahm in meiner Gegend erst richtig Fahrt auf, ansprechende Pakete waren für den heimischen Haushalt noch zu kostspielig, handfeste Informationen daher Mangelware. Fest stand, Sonys Konsole hatte sich zu diesem Zeitpunkt dank Resident Evil und Crash-Bandicoot fest im Klassengefüge etabliert. Warum sollte es so etwas nicht auf dieser Konsole geben?
Klang alles plausibel, trotzdem war der eine oder andere Zweifel vorhanden. Es wurde einfach zu viel angegeben, dahergeredet und übertrieben. Wie Jugendliche kurz vor dem Erwachsenwerden so sind. Ein Schelm der jetzt denkt, dass es bei vielen Erwachsenen ähnlich ist.
„Ich kenne da jemanden …“
„Das Spiel gibt es wirklich!“ Da war er wieder, mein ehemaliger Klassenkollege. Ich kann mich noch gut an das Gefühl eines Agentenkrimis erinnern, das mich unerwartet packte. Der Puls schoss von 0 auf 100. Hatte er recht? „Es zum Laufen zu bringen, ist allerdings nicht so einfach.“ Gerade als ein Schulterzucken mitsamt passender Handgeste eine innere Ernüchterung in Gang setzte, kam ein weiterer Satz, den viele bestimmt schon an unterschiedlichen Stationen in ihrem Leben gehört haben: „Ich kenne da jemanden …“ Im gleichen Moment wedelte er aufgeregt mit einer CD Hülle.
Kopfkirmes, dieser Begriff trifft es wohl am besten, wenn ich heute meine Gefühle beschreiben müsste. Lose habe ich noch in Erinnerung, dass ich unkontrolliert nach der Hülle zu greifen versuchte. Und da war es, eines der ersten Spiele, dass sich tief in meine Synapsen brennen sollte. Mit einem dicken Permanent Marker quer über den Silberling gekritzelt. „Thrill Kill!“
Was dazu notwendig war, um es spielen zu können, wusste ich in diesem Moment (noch) nicht. Nur eines, dass der Kollege eine Playstation zu Hause hatte und diese irgendwie modifizieren lassen wollte. Und da war sie wieder, diese durchgreifende Neu(gier)de…
Hype um unveröffentlichten Schocker
Thrill Kill, der unveröffentlichte Schocker von Paradox Development und Virgin Interactive. Dank seiner Absurdität und zu dieser Zeit sehr überspitzen Brutalität, die gemeinsam stetig in Richtung einer perversen Geschmacklosigkeit wandelten. Erst Jahre später lernte ich die ganze Geschichte des Fighting-Game kennen, die vieles erklärte. Ein Stück weit auch den Hype hinter vorgehaltener Hand erklärte, dem ich selbst ein wenig verfallen war. Ach was! Schluss mit der Untertreibung. Restlos verfallen, trifft es wohl eher. Doch der Reihe nach.
Tatsächlich sollte das Spiel passend zu Halloween im Oktober 1998 veröffentlicht werden. Den Riegel schob Electronic Arts vor und kappte kurzerhand alles rund um das Spiel. Nanu, EA? Der Publisher war damals auf Beutezug und gerade dabei, Westwood zu kaufen. Mein liebstes Entwicklungsstudio zu der Zeit. Mit Perlen wie Dune 2 oder Command & Conquer. Wie viele Spielstunden in diese zwei geflossen sind, ich traue mich nicht mehr wirklich, nachzurechnen. Ich mag beide heute noch sehr gerne.
Virgin Interactive Nord Amerika war sozusagen „Part of the Deal“ in dieser Einkaufstour, da Virgin seine Spiele-Sparte aufgab. Damit wanderten auch die Veröffentlichungsrechte von Thrill Kill zu EA. Nach einer internen Evaluierung erfolgte ein unmissverständliches „Nein!“ seitens des Publishers. Aus heutiger Sicht erst einmal nichts Ungewöhnliches. Studios werden gekauft und verkauft, Spiele werden während ihrer Entwicklung gestoppt, viele verschwinden in einer Schublade. Ich würde sogar behaupten, ein gern gemachtes Prozedere in der Branche. Das Kuriosum damals: Das Spiel war zu 99 Prozent fertig, auf ausgewählten Messen vorgestellt, diverses Merchandise bestellt, Redaktionen hatten bereits Testversionen auf ihren Bildschirmen und ein Nachfolger war ebenfalls in der Planungsphase.
Trotzdem besagter Rückzieher. Wirtschaftlicher Irrsinn, möchte man meinen. Warum das Ganze? EA machte sich Sorgen um sein Image mitsamt negativer Presse. Schlicht und ergreifend. Ein Tun, das heute wahrscheinlich nur ein müdes Lächeln hervorruft, angesichts immer wieder aufgewärmter Spielkonzepte und verbundene „Glücksmechaniken“. Möchte es so formulieren, dass der Ruf des Publisher sicher schon einmal besser war. Das Horten von Markenleichen in seinem Keller ist ja beinahe schon ein Markenzeichen für sich selbst. Klingt vielleicht ein wenig fies, ich weiß.
AO Rating für Gewalt und Darstellung
Aus meiner heutigen Sichtweise kann ich deren Handlung damals trotzdem ein Stück weit verstehen. Wie? Warum das jetzt? Ich mache das an zwei Gründen fest: Noch vor dem zunächst angedachten Release erhielt Thrill Kill vom Entertainment Software Rating Board (Kanada, USA) ein AO Rating. Spannend ist, dass zuvor ausschließlich Spiele mit sexuellem Inhalt ein solches Adults Only Label erhalten hatten. Thrill Kill bekam diese Klassifizierung allerdings alleinig aufgrund der enthaltenen Gewalt und ihrer Darstellung. Als erstes Videospiel überhaupt! Bis zum heutigen Tage sind lediglich zwei weitere Spiele hinzugekommen, die aufgrund ihrer Gewalt exakt gleich eingeordnet sind.
Dass Thrill Kill trotzdem nicht mit sexuellen Suggestionen spart, wird ab der ersten Spielminute klar. Dazu aber gleich mehr. Hinzu kamen die Gewaltdebatten, die Ende der 1990 iger Jahre einmal mehr einen Höhepunkt erreichten. Noch mehr Öl in das Feuer gießen? „Lasst es gut sein“, sagten wohl die Verantwortlichen des Publishers. Wer wollte sich schon die Finger so richtig verbrennen. Gewalt und Videospiele, sowieso schon seit einer gefühlten Ewigkeit ein Spannungsfeld. Seitdem liegen die Rechte um das Spiel im besagten Keller.
Popularität im Untergrund
Wie das ganze Sammelsurium nun mit dem Hype und dem beschriebenen Silberling meines Klassenkollegen zusammenpasst? EA hatte sein Vorgehen elegant über die Köpfe der Entwicklerinnen und Entwickler hinweg entschieden und der Belegschaft von Paradox nichts mitgeteilt. Soweit nichts Neues. Passiert schon mal. Jetzt mit etwas Ironie gesagt. Die Eigendynamik, die daraus entstand, hatte die Obrigkeit allerdings so gar nicht auf dem Schirm. Eine Handvoll der Beteiligten stellten mehrere Versionen von Thrill Kill kurzerhand ins Netz. In voller Absicht. Ein Leak mit massiver Wirkung.
Diese ISO-Formate oder Bootlegs verbreiteten sich wie ein Lauffeuer und alles geriet völlig außer Kontrolle. Das Spiel erlangte eine (Untergrund)Popularität, obwohl es als Machwerk nie die Welt des Releases hätte sehen dürfen. Es offiziell auch nie tat. Also eigentlich doch wieder, aber ohne dem offiziell. Ich verzettle mich gerade etwas. Kurzum: Wer damals eine passable Internetleitung sein Eigen nannte und etwa den IRC oder „jemanden kannte“…der Rest ist Hörensagen.
„Prepare to Kill!“
Die Dynamik auf dem Schulhof begann sich zu verselbstständigen. Cool waren diejenigen, die Thrill Kill gesehen hatten. Wahre Heroes, die es sogar anspielen konnten. Und dann gab es einen kleinen, eingeschworenen Kreis, der es tatsächlich als Silberling in die eigene Konsole legte. Aus welchen Kanälen die Scheibe auch immer gekommen war. „Chip-in“, wird beim Golfspiel ein Schlag genannt. Mehr sei dazu nicht gesagt. Eine gefühlte Ewigkeit schien zu vergehen, bis die Konsole im umgebauten Zustand wieder bei meinem Kollegen stand. „Alter, was hat da so lange gedauert?“, kam es zähneknirschend aus einer Ecke.
Gefolgt von einem unmotivierten Kramen in einer Packung Kartoffelchips. Es war ein Freitagabend, sturmfreie Bude. Auf diesen Moment hatten wir allesamt gewartet. Jedem Einzelnen war die Ungeduld ins Gesicht geschrieben. Aus der Klasse hatten wir zusätzliche Playstation Controller und einen Multitap organisiert, um uns in der Uncut Version von Thrill Kill gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. In der Tat kursierten mehrere verschiedene Versionen des Spiels.
Der Knopf der Konsole war gedrückt. Das Fernsehgerät zog uns mit dunklem Techno Sound in eine Welt voller Sadismus und obskurer Gestalten. „Prepare to Kill!“ Mit der Brutalität als purem Selbstzweck, das manchen von uns ein „Boah eh, ist das krass!“ entlockte. Ja, es gab im Fighting-Game-Genre bereits Mortal Kombat, das mit seinen digitalisierten Schauspielern durch die Arcade Hallen und Konsolen metzelte. Etwas später auch Killer Instinct mit seinem irrwitzigen Kombo-System. Beide weit entfernt von einem frommen Kirchenbesuch. Thrill Kill fühlte sich damals anders an. Genaugenommen auch heute noch. Die grafische Alterung einmal außen vor gelassen. Es war solide, spielerisch jedoch nicht ganz auf gleichem Level. Trotzdem transportierte es auf eine Art und Weise ein Unbehagen, das ich nicht bis in das letzte Detail schlüssig erklären kann. Mit dabei immer auch eine Faszination, nicht wegsehen zu können.
Abgründe eines dunklen Fetish-Wahnsinns
Wenn ich es jetzt nachträglich in die passenden Worte stecken möchte, dann ist das Spiel für mich ein Ausflug in einen Fetish-Wahnsinn aller erster Güte. Dunkle Fantasien und allerlei Abgründe lassen viel Raum für Interpretationen. Es fühlt sich wie ein groteskes Schauspiel an. Damals sorgten die Protagonisten für ein hämisches Grinsen. Mit ein wenig mehr Abstand kann ich sagen, dass Thrill Kill nichts auslässt. BDSM Anspielungen? Sind an der Tagesordnung. Masochismus? Ist mit dabei. Auch Charaktere, die mit abgetrennten Gliedmaßen anderen auf den Leib rücken. Diverseste Fetishes werden bedient, ein sexueller Unterton an vielen Stellen scheint durchaus gewollt. Das wird EA damals auch nicht entgangen sein.
Wiedergeboren aus der Hölle
Und der Plot? Der verfrachtet das erbarmungslose Scharmützel direkt in die Hölle. Die Protagonisten sind eigentlich gequälte Seelen, die auf unterschiedlichen Wegen umgekommen sind. Sie sind ein Spiegelbild der mentalen Zustände in den letzten Stunden ihres Lebens. Wer am Ende des Wettbewerbs noch übrig ist, erhält von der geheimnisvollen Gottheit Marukka die Wiedergeburt als Siegprämie. Dafür wird gekämpft. Koste es, was es wolle. Kurz und knackig. Mehr muss es bei einem solchen Spiel wahrscheinlich auch nicht sein.
Wahnwitzige Charaktere
Bei den einzelnen überspitzten Akteuren würde sich die personifizierte Psychologie weinend die Decke über den Kopf überziehen. Ich darf zügig vorstellen: Dr. Faustus, dessen Spezialgebiet es ist, lebenswichtige Organe mit einem Schnitt zu entfernen. Mit einem Skalpell Ballett massakriert er die Kontrahenten. Als Figur wirkte er für mich damals schon etwas verstörend. Wahrscheinlich geschuldet seinem überdimensionierten metallischen Gebiss.
Oddball ist hingegen ein ehemaliger Agent und Serienmörder. Praktisch die Verkörperung eines wütenden Soziopathen. Spielbar ist er nur in einer Zwangsjacke. Wer jetzt an missbräuchlich verwendete Breakdance-Moves denkt, liegt richtig. Bevor sich Belladonna ihrerseits mit einem lasziven Seufzer in das Getümmel wirft, prüft sie, ob das Outfit eines Hausmädchens für den Kampf auf Leben und Tod auch bereit ist. Peitsche und jede Menge Latex sorgen für ein Auftreten, das an eine Domina erinnert. Für die allerdings kein Safe Word seitens ihrer Klienten existiert. Wie viel Wunschdenken und Fantasie aus dem stillen Kämmerchen in der Programmierung eines Videospiels verloren hat, sei dahingestellt.
Von Imps und ehemaligen Postboten
Wie es mit dem Imp aussieht? Aufgrund seines Hasses für große Menschen hat sich der Kleinwüchsige kurz entschlossen Stelzen in seine Beine gerammt und ist dabei gestorben. Im Turnier in der Hölle nutzt der auch als „Leather Daddy“ bekannte Charakter die Holzbehelfe als tödliche Waffen. In den klaustrophobisch angelegten Stages ist auch Violet unterwegs, eine Zirkusartistin, die als Schlangenmensch auftritt. Sie hegt eine regelrechte Abscheu gegenüber Männern und entkommt durch ihre Verrenkungsfähigkeiten den Angriffen der Gegner. Umgekommen durch eine Ruptur des Rückenmarks.
Der ehemalige Postbote Mammoth drehte durch, als er gefeuert wurde. Mit purer Gewalt kann er sein Gegenüber erschlagen. Dank seiner Größe, die einem ausgewachsenen Gorilla gleichkommt. Er beging Suizid mit seiner eigenen Waffe und kämpft in der Hölle auch um den letzten Funken seiner Menschlichkeit. Wer diesen Gegner vor der Nase hatte, musste im wahrsten Sinne höllisch aufpassen.
Wer noch fehlt? Cleetus und Tormentor! Ersterer ist ein Kannibale, der Leichenteile als Glücksbringer mit sich herumträgt und diese auch im Kampf einsetzt. Wer mit ihm spielt, kann die anderen beißen! Zweiterer ist ein ehemaliger Richter, der zu Lebzeiten Kriminelle entführt hat, um sie später zu foltern. Kennzeichnend ist ein Special Move, der sein Gegenüber exekutiert. Freischaltbare Figuren mitsamt unterschiedlichen Outfits sowie ein brachiales Gameplay mit wirklich fiesen kooperativen Moves machen den Reigen voll.
Thrill Kill ist nach wie vor ein Phänomen
„Play the hell out of it!“, so kann ich den damaligen Freitag wohl am besten beschreiben. Zugegeben, es fühlte sich gut an, zu den Heroes am Schulhof zu gehören. Den Hype tatsächlich gespielt zu haben. Vieles sehe ich heute naturgemäß etwas anders. Dieses leise Gefühl des Unangenehmen ist jedoch geblieben. Vielleicht macht das auch den Reiz aus. Ganz aus dem Internet ist Thrill Kill nach wie vor nicht verschwunden. Selten, aber doch, sind auf Verkaufsplattformen sogenannte „Press Releases“ zu ergattern, die damals an die Redaktionen gegangen sind.
Auch Fan-Based hat sich einiges getan. Stichwort: Collectors Club. Auf Youtube ist tatsächlich noch ein originaler Werbetrailer abrufbar, der damals nur eingeschränkt die Runde machte. Und die Isos? Diese geistern nach wie vor durch die Weiten des Netzes. Auch online ist eine Version spielbar. Wer noch genauer über die Geschichte nachlesen möchte, es gibt dazu einen tollen Artikel in der englischsprachigen Retro Gamer Ausgabe von Oktober 2020.
Lack und Leder als Orientierungshilfe
Der Name Thrill Kill ist bei den einzelnen spielbaren Akteuren durchaus Programm. Bondage & Co definitiv ein Thema. Gestützt durch den Umstand, dass die gesamte Entwicklungsabteilung von Paradox Development damals angeleitet wurde, sich beim Gamedesign tatsächlich an Lack & Leder Magazine und der zugehörigen Szene zu orientieren.
Ob das Spiel von EA je aus dem Keller geholt und ein Remake erfahren wird, daran darf gezweifelt werden. Punktuell haben andere Entwicklungen Thrill Kill überholt. Auch was die Gewalt anbelangt. Die absurde Mischung des Spiels bleibt für mich bis heute jedoch einzigartig.
Screenshots des Spiels



Das Aufmacherbild des Beitrags stammt von User Armdx077 (villains.fandom.com)
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