“Try to tackle” – Nintendo World Cup war unser Leben

Von Boris Kretzinger am
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Zum Beitragsbild: „Alles drin, was ihr zur Action braucht.“ Aber hallo! Die Box ziert ein Screenshot von Nintendo World Cup. Merkwürdig nur, dass der Familienvater glaubt, mit Select und dem Steuerkreuz irgendetwas bewirken zu können…

Ich interessiere mich nicht für Fußball. Kein Stück. Als meine Schulfreunde mich fragten, für welchen Fußballverein ich die Daumen drücken würde, hatte ich keine Ahnung – das ließ man mir aber nicht durchgehen. Also schaute ich in den Videotext, suchte nach einem Verein etwa in der Tabellenmitte und entschied mich, meine Schulzeit mit Basiswissen über diese Mannschaft durchzustehen.

Unglaublich also, dass es gerade ein Fußballspiel war, dass meine Freunde und mich viele Stunden vor den großen und den kleinen Bildschirm zog und uns unglaublichen Spaß bescherte: Nintendo World Cup.

Die putzig animierten und gemäß gängiger ethnischer Klischees überzeichneten Figuren rauften sich um den Ballbesitz, stolperten über steinige Bolzplätze oder schlitterten über Eisflächen. So ein Spiel hatten wir bis dahin noch nicht gekannt und es bleibt bis heute einzigartig in seiner Machart.

Flotter Vierer

Angefangen hatte es damit, dass ich mir zum Geburtstag 1992 im Neckermann-Geschäft ein NES aussuchen durfte. Meine erste Wahl wäre das Bundle mit Super Mario Bros. 3 gewesen, aber das redete mir die Verkäuferin erfolgreich aus. Stattdessen sollte es die Vier-Spieler-Version sein: Drei Spiele und vier Controller – was will ich denn bitte mehr? Auch meine Mutter schien von der Aussicht, dass ich mir vor der Flimmerkiste zumindest nicht alleine viereckige Augen glotzen würde, recht angetan.

Und so schleppte ich das gute Stück in einer gewaltigen Einkaufstüte und in einer gefühlt endlos dauernden Busfahrt heim. Kaum angekommen, musste auch gleich der treue C64 vor dem Fernseher in meinem Kinderzimmer der schicken neuen Konsole weichen- Der Geruch frischer Fernost-Elektronik von Big-N nach dem Auspacken liegt mir noch heute in der Nase. Ob Gameboy oder NES – die Kisten verströmten einen Geruch, der so unverwechselbar einheitlich war wie sonst nur das Innenraum-Duftbouquet von 80er-Jahre-Volkswagen.

Beim Durchblättern der Anleitung las ich, dass ausgerechnet ein Fußballtitel auf dem Modul war. Zunächst war ich recht skeptisch, doch die Neugier siegte schließlich: Ich musste es ausprobieren. Und siehe da: World Cup fesselte mich vom ersten Moment an. Die Titelmusik war so schmissig, dass ich sie wenige Wochen später auf Kassette aufnahm – zusammen mit vielen anderen Videospielmusiken mittels eines vor den Fernsehlautsprecher gehaltenen Mikrofons. Das ist aber eine andere Geschichte.

Jedenfalls hielt das Spiel, was die Musik versprach: Dynamik, Spaß, Unterhaltung. Zwei weitere regelmäßige Mitspieler waren schnell gefunden: das Geschwisterpaar im Nachbarhaus. Die beiden waren leidenschaftliche Fußballfans und Gameboybesitzer. Sie für eine Pokalrunde vor dem Fernseher zu gewinnen war leicht.

Eigentlich war Nintendo World Cup gar kein internationales Pokalspiel: Im japanischen Original, Nekketsu High School Dodgeball Club: Soccer Edition, geht es um einen Fußballcup zwischen dreizehn japanischen Highscoolmannschaften.

Für die NES-Lokalisierung musste das freilich geändert werden, um das Spiel auch für Gamer außerhalb Japans interessant zu gestalten. Zudem wurde die Unterstützung des neu entwickelten und 1990 veröffentlichten Four-Score Adapters implementiert, um bis zu vier Fußballverrückte gleichzeitig an den virtuellen Ball zu lassen.

Putzig sehen sie aus, die kleinen Pixelkameraden. Aber der Schein trügt: Hinter den harmlos dreinblickenden Augen steckt eine Menge Kampfgeist. (Bild: Boris Kretzinger)
Putzig sehen sie aus, die kleinen Pixelkameraden. Aber der Schein trügt: Hinter den harmlos dreinblickenden Augen steckt eine Menge Kampfgeist. (Bild: Boris Kretzinger)

Zum Ziel, dank Foulspiel

Was haben wir gelacht bei diesem völlig unorthodoxen Fußballkrieg, bei dem sich nur eine Frage in Bezug auf Fouls stellt: Umrempeln oder reingrätschen? In einem Strategiemenü trafen wir grundsätzliche Entscheidungen: Sollen unsere Jungs versuchen die Pille selbst reinzumachen, oder lieber zu uns passen, wenn sie den Ball haben? Soll der Gegner radikal umgepumpt oder geschont werden? Soll der Torwart mit im Feld spielen? Die Antworten waren klar: Ball immer abgeben, Gegner immer weghauen und der Torwart soll bloß hinten bleiben. Es ging rauh zu auf und vor der Mattscheibe.

Auch die Spielumgebung war hart: Rasenplätze waren nur etwas für Weicheier. Wir spielten am liebsten auf Eis, wo alle völlig unberechenbar umherrutschen und gefoulte Spieler teilweise bis an den Spielfeldrand glitten. Oder auf Asche, wo so viele dicke Steine herumlagen, dass man ständig darüber stolperte – sogar, wenn man gerade nicht im Bild zu sehen war. Hier fiel uns auch erstmals auf, dass einige der KI-Mitspieler so häufig über bestimmte Steine auf dem Spielfeld gelatscht waren, dass sie nicht mehr aufstanden. Sie lagen einfach so auf dem Spielfeld. Keine Sanitäter, keine Massagepause: Wen es zerissen hatte, war raus.

Der recht unscheinbare Startbildschirm. (Bild: Boris Kretzinger)
Der recht unscheinbare Startbildschirm. (Bild: Boris Kretzinger)

Schnell fanden wir heraus, dass man diese Art von K.O. auch durch gezieltes Umschießen (wurde in Matches gegen den einfachsten Gegner Kamerun sehr beliebt) oder häufiges Foulen erreichen konnte. So pervertierten wir das Spielkonzept: Statt Tore zu schießen verlegten wir uns abwechselnd darauf, so viele Spieler aus der gegnerischen Mannschaft umzunieten, wie die kurzen fünf Minuten einer Halbzeit es erlaubten. Und warum da aufhören? Warum nicht auch die eigenen Teamkameraden umbolzen?

Zack! Die Kerls machten große, teilweise verheulte Augen und stürzten um, nur um kurz darauf wieder aufzustehen und an ihren Stammplatz zurückzulaufen, als sei nichts gewesen. Als hätten sie keine Erinnerung daran, dass wir sie gerade brachial umgenietet hatten und noch immer schussbereit genau vor ihnen stünden. Selbst schuld. Rums! Auch die Soundkulisse war durchgepeitscht: Das einzig realistische waren die kurzen Stöhner bei der Ballannahme: «Mpf». Schüsse klangen eher wie eine zischende Rakete. Wenn man jemanden umschoss, glich das Geräusch eher dem Bombeneinschlag aus Blue Max: «Krontsch». Superschüsse, die man am sichersten über Fallzückzieher triggerte, veranstalteten eine Klangkulisse, die irgendwo zwischen Ufo und Sirene lag.

Kurzum: Es herrschte beinahe komplette Anarchie, die im virtuellen Gerangel zu Viert vor einem Tor ihren Höhepunkt fand: Flackernde Sprites und ständige Fouls, die erst durch das harte Durchgreifen des KI-gesteuerten Torwarts beendet wurden, der solcherlei Schabernack in seinem Strafraum nicht lange duldete und alles umschlug. Wer das Pech hatte, vor dem Abstoß wieder aufzustehen und nicht schnell genug weg zu kommen, bekam durch den Ball noch einen mit auf den Weg.

Verkannter Chipsound

Hinter dem schmissigen Titelstück auf Gameboy und NES steckt Kazuo Sawa. Während er mit Renegade 1986 für das NES einen eher durchschnittlichen musikalischen Einstieg lieferte, ist er vielen NES-Spielern womöglich durch den Soundtrack zu The Battle of Olympus bekannt.

Mit den rasanten Soundkulissen zu River City Ransom und Nintendo World Cup hatte er jedoch zu einem Sound gefunden, der sich auch in Mega Man Titeln hervorragend gemacht hätte. Crash ‘n’ the Boys: Street Challenge schlug 1992 noch einmal in dieselbe Kerbe, bevor er sich dem SNES zuwandte, wo er unter anderem beide Popolous-Teile sowie Ultima VI: The False Prophet vertonte.

Japaner mit Brille, Spanier mit Hut

Der Spaßfaktor des Spiels wurde vor allem durch die witzigen Figuren geprägt: Die japanischen Spieler haben mandelförmige oder mangamäßige Augen (einer sogar eine nerdmäßige Brille), die Jungs aus Kamerun dagegen große Knopfaugen. Die Deutschen sind schweinchenrosa und heißen Günther oder Klaus – wie auch sonst. Bei der Gameboy-Version gingen die Entwickler sogar noch weiter: Sie verpassten den Spaniern kleine Hüte und erweiterten die Mannschaftsliste beispielsweise um die UdSSR, deren pixelige Repräsentaten allesamt sehr grimmig dreinschauten.

Auch in anderer Hinsicht bediente das Spiel Klischees: Deutschland und Argentinien waren die stärksten Mannschaften. Ihre Spieler liefen besonders schnell, die Superschüsse waren quasi unhaltbar für jeden anderen Torwart. Am unteren Ende der Nahrungskette kämpften Kamerun oder Japan. Während dieses Schwierigkeitsgefälle bei der NES-Version noch erträglich war, traten die unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Stärken der Mannschaften auf dem Gameboy viel gnadenloser zutage. Bis ich mit den Spaniern endlich Weltmeister wurde und breit grinsend die Jungs mit Hut auf dem Siegertreppchen stehen sah, brauchte es viele, viele, viele Anläufe. Die Codes dafür habe ich heute noch – zu viel Energie habe ich in dieses Unterfangen gesteckt, als dass ich den Zettel jemals hätte wegwerfen können.

Was den Reiz des Spiels bis heute für mich ausmacht: Es nimmt den Fußball und sich selbst nicht ernst. Alles hat einen unverwechselbaren Charme und wartet mit einem kleinen Augenzwinkern auf, sodass es selbst einem Fußballignoranten wie mir gefallen muss. Zusammen mit den beiden Nachbarn spielte ich unzählige World-Cup-Sessions, dank Dialogkabel auch mit viel Spannung draußen am Gameboy. Ich verbinde eine tolle Erinnerung an viele schöne Stunden mit ihnen und World Cup – auch das macht das Spiel für mich zu einem ganz besonderen Stück subjektiver Videospielgeschichte.

Und übrigens: Die putzigen und stets gewaltbereiten Figuren feierten einen zweiten Spielehit mit Street Gangs, das es 1991 nach Europa schaffte, mir aber bis vor einigen Jahren unbekannt blieb. Hätte ich damals davon gewusst – der Titel wäre mit Sicherheit auf einer meiner Wunschlisten gewandert.

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