Triggerwarnung: In diesem Text geht es um den Tod insbesondere von Kindern.
Schon von weitem konnte sie das Haus zwischen den Bäumen sehen. Das Haus, welches so viele Erinnerungen beherbergte und noch mehr Geheimnisse. Seit vielen Jahren war Edith Finch nicht mehr hier gewesen. Doch als letzte lebende Nachfahrin der Familie Finch gehörte ihr nun dieses Anwesen.
Dem Weg durch den Wald weiter gefolgt erhob sich das Haus, das eigentlich mehrere Häuser in einem war, vor Edith. Eine Mischung aus Bedrohlichkeit und Geborgenheit ging davon aus. Alles, was Edith bei sich hatte, war ein kleiner Schlüssel, von dem sie nicht wusste, welche Tür er öffnen würde. Auf dem Weg zur Haustür kam sie an den Beeten vorbei. Alles machte den Eindruck, als wären die Bewohnerinnen dieses Hauses nur kurz weg und würden gleich wiederkommen.
Wie Edith erwartet hatte, war der Schlüssel, den sie bei sich trug, nicht der für den Haupteingang. Suchend ging sie um das Haus herum und fand eine Seitentür mit eingebauter Hundeklappe. Nachdem auch der Versuch erfolglos blieb, diese Tür zu öffnen, war der Weg durch die Klappe der einzige ins Haus hinein. Edith wunderte es nicht. Seit jeher musste das Haus auf verschlungenen Pfaden erobert werden und manche Türen waren ihr bis heute verschlossen geblieben.
Nachdem sie sich durch die Klappe gezwängt hatte, stand Edith in der Küche. Auch hier war noch alles so, wie sie es damals zurückgelassen hatte, als sie das Haus Hals über Kopf verlassen hatte. Auch die anschließenden Räume machten den gleichen Eindruck auf sie.
Seit wievielen Jahren war niemand mehr hier gewesen? Überall standen Bücher und Kartons herum. Als ob die Menschen, die dort gewohnt hatten, mit einem Fingerschnippen verschwunden wären. Wenn Edith darüber nachdachte, war es eigentlich auch so gewesen. Als sie damals das Haus verlassen hatte und ihre Uroma ein letztes Mal gesehen hatte. Edie, die letzte Hüterin des Finch-Anwesens und der Finch-Familie.
Die Familie Finch war, wie auch dieses Haus, keine normale Familie. Weniger der Realität zugewandte Menschen würden sagen, die Familie Finch sei verflucht, und wenn man die Finches fragen könnte, würden sie sicher zustimmen.
Odin, der Erste der Familie Finch, war damals aus seiner Heimat Norwegen in dieses Land gekommen. In der Hoffnung, dem Schicksal zu entfliehen. Doch dem Schicksal konnte man auch fern der Heimat nicht entkommen.
Edith erkundete die Räume gleichzeitig als Fremde und als Bewohnerin, die jeden Winkel kannte. Immer weiter führte sie das Haus in sein Innerstes, in seine Geheimnisse, die es seit Generationen in sich aufnahm.
Eines dieser Geheimnisse fand Edith im Tagebuch von Molly Finch. Mehr aus Spaß versuchte Edith den Schlüssel am Schloss des Tagebuches. Natürlich passte er und natürlich war es nicht nur ein normales Buch. Es war der Eingang in das Zimmer von Molly Finch. Ihr Zimmer wirkte, wie auch die anderen Räume, so, als wäre Molly nur eben eine Freundin besuchen.
Dabei war Molly schon lange fort. Sie wurde 1937 geboren und war die erste Tochter von Edie und Sven Finch. Da jedoch die Nachfahren der Finch-Familie nicht vom Glück gesegnet waren, starb Molly schon im Alter von zehn Jahren. Das Haus aber hielt ihr Andenken am Leben.
Als Edith das Zimmer untersuchte, wirkte es wie Fügung, dass sie den Eintrag von Molly fand und darin etwas las, was Edith nicht verstand.
Molly war ohne Essen ins Bett geschickt worden. In der Nacht wachte Molly aber auf. Sie hatte einen unbändigen Hunger. So groß war der Hunger, dass sie die alten Essensreste ihres Hamsters aß. Doch das genügte ihr nicht. Sie brauchte mehr. Auf der Suche nach weiterem Essen öffnete sie ihr Fenster und war plötzlich eine Katze.
Als Katze folgte Molly einem Vogel durch die Äste und über die Dächer des Hauses. Der Hunger trieb sie voran und den Vogel in die Enge. Mit dem finalen Sprung war Molly dann aber keine Katze mehr. Sie war jetzt eine Eule auf der Jagd nach Beute. Zwei Hasen waren ihr aber immer noch zu wenig. Also wurde sie zum Hai auf der Jagd nach Robben. Doch auch das reichte Molly nicht. Sie wurde zu einer riesigen Schlange an Bord eines Schiffes, dass die Besatzung eine nach dem anderen auffraß. Der Hunger aber blieb unbändig.
Wieder an Land führte sie der Weg durch die Kanalisationen, bis sie schließlich aus einer Toilette herauskam. Es roch nach Nahrung und auf einmal war sie wieder in ihrem kleinen Zimmer. Molly war wieder Molly. Aber etwas war unter ihrem Bett und es hatte Hunger.
Edith wusste nicht, was sie davon halten sollte. War das alles nur die Phantasie eines kleinen Mädchens oder steckte ein Funken Wahrheit darin? Zumindest schien es ihr nicht gänzlich unwahrscheinlich.
Auf dem Weg durch das Haus entdeckte sie weitere Geheimnisse. Weitere Geschichten, die ihre Vorfahren erlebten, und Schicksale, die die Familie Finch trafen und die das Haus in sich aufnahm und aufbewahrte. Edith kam es so vor, als wäre das Anwesen ein weiteres Familienmitglied, das unbemerkt von allen dort lebte und als Chronist der Familie Finch fungierte.
All diese Geschichten entdeckte Edith nach und nach und mit jedem weiteren Leben, was in diesen Wänden gelebt wurde, begann sie mehr und mehr daran zu glauben. Sie erlebte die Tragödien, die erlitten wurden. Sie erfuhr von Mollys Geschwistern. Barbara, ein gefeierter Kinderstar. Calvin, der unbedingt fliegen wollte. Von Walter, der sich so tief in das Haus zurückgezogen hatte, dass man ihn vergessen hatte. Nur das Haus vergaß niemanden.
So auch nicht die Tragödie, die Ediths Großvater Sam und seine Frau ereilte. Edith las davon in den Scheidungsdokumenten von Sam und Kay und erfuhr so, was aus Gregory wurde und wie kurz sein Leben war.
Gregory war noch ein Baby. Als die Tragödie seinen Lauf nahm, saß Gregory in der Badewanne. Er spielte friedlich mit seinen Spielsachen und war glücklich in seiner Welt. Seine Mama nahm er kaum war, als sie ihn aus der Wanne holen wollte. Dass das Telefon klingelte registrierte er genauso wenig. Doch seine Mutter ließ ihn noch weiter in der Badewanne. In Gregory’s Welt hüpfte sein Spielzeugfrosch immer höher und je höher er sprang, desto mehr Freunde brachte er für Gregory mit. Da war Familie Quietscheente und der riesige blaue Wal. Sie alle kamen zu ihm. Wie toll!
Der Wal half dem Frosch noch höher zu springen. Immer höher hinaus aus der Wanne auf den Beckenrand und noch weiter. Weiter zum Hebel, der noch mehr Wasser in die Badewanne brachte. Das Wasser stieg und stieg, doch Gregory war in seiner Welt. Ebenso wie seine Mutter, die immer noch telefonierte.
Gregory wurde nur ein Jahr alt. Sam machte seiner Frau Kay nie Vorwürfe, aber sie konnten nicht mehr zusammen sein.
Das Schicksal meinte es auch weiterhin nicht gut mit Sam und seiner Familie. Auch Sams ältestem Sohn war kein langes Leben vergönnt. Er starb fünf Jahre nach seinem Bruder Gregory mit nur 13 Jahren. Nur Sams Tochter Dawn, Ediths Mutter, war ein längeres Leben möglich. Länger zumindest als das ihres Vaters. Er starb auf einem Jagdausflug mit Dawn. Er wurde 33 Jahre alt.
Je weiter Edith ihre eigene Familiengeschichte ergründete, desto mehr wurde ihr klar, wie wenig sie eigentlich über ihre Vorfahren wusste. Dabei war sie selbst von Schicksalsschlägen nicht verschont geblieben. Als jüngste von drei Geschwistern war Edith schon früh mit dem Tod in Verbindung gekommen. Ihr Bruder Milton starb, da war sie gerade einmal fünf Jahre alt.
Wie alle Tode in der Finch-Familie umgab auch Miltons Tod ein Geheimnis, das wohl nur das Haus kannte und sicher verwahrte. Milton wurde nur elf Jahre alt.
Ediths Bruder Lewis hatte der Tod seines Bruders besonders schwer getroffen. So sehr, dass er sich immer weiter in seine eigene Welt zurückzog. Was am Ende mit Lewis passierte, erfuhr Edith durch ein Schreiben von Lewis’ Therapeutin.
Um Lewis aus seiner Welt zu holen, besorgte seine Mutter einen Job in der Fischfabrik. Es war eine simple, eine monotone Arbeit. Und er erledigte sie in voller Zufriedenheit seines Arbeitgebers. Alle dachten sich, dass Lewis auf dem Weg der Besserung war.
Lewis verirrte sich jedoch immer weiter in seinen Gedanken. Einem Labyrinth aus dem es kein Entkommen gab. Die Arbeit in der echten Welt verrichtete er automatisch, doch er nahm sie kaum noch wahr. Seine Welt war wichtiger geworden. Sie war besser als die andere Welt. Hier war er der Held. Der der gewann. Menschen begeistern konnte, Länder eroberte und schließlich zum König seines Gedankenimperiums wurde. Lewis starb mit 22 Jahren.
Es sollte der letzte Tod sein, den das Anwesen in sich aufnahm. Nach dem Tod ihrer beiden Söhne wollte Ediths Mutter nicht mehr dort wohnen bleiben. Sie hatte zu viele Familienmitglieder verloren. Nur Ediths Uroma Edie weigerte sich standhaft, das Haus zu verlassen, und ging in die Geschichte des Hauses und der Familie Finch ein.
Sieben Jahre später stand Edith nun hier. Mit dem Gepäck der vergangenen Leben und dem Leben, das in ihr heranwuchs. Was würde sie ihrem Kind hinterlassen? Was würde sie dazu beitragen? Konnte ihr Kind unbelastet ins Leben starten? Was würde von Edith Finch bleiben?
Das Originalskript des Beitrags
Anmerkung von Videospielgeschichten: Lenny schreibt seine Texte handschriftlich, bevor sie in den Blog übertragen werden. Das finden wir so schön, dass wir hier das ursprüngliche Manuskript mit euch teilen möchten. Aus den Gedanken, durch die Hand in die digitale Welt – sozusagen „from Pen to Blog“. Für euch.
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