Nach 33 Jahren kehrte ich nach Bibione zurück, jenen Urlaubsort meiner Kindheit zwischen Venedig und Triest. Es schien als wäre keine Zeit verstrichen. Die Orange aber fehlte.
Stets im Schatten der nahegegenen Lagunenstadt Venedig, „La Serenissima”, entwickelte sich Bibione seit den 50ern zu einem Fixstern der Urlaubsoptionen für Leute mit dem Hang zu Scampi, Pasta und Automatenspielen.
Die Reihen an Restaurants waren unterbrochen von den kunterbunten Salae Giochi, den Spielhallen. Wenn einmal ein Bummel nach dem täglichen Strandbesuch zu lange dauerte, bog man kurzerhand in diese sagenumwobenen Hallen. Urlaub bedeutet schließlich auch, sich Neuem auszusetzen.
Neuigkeiten, Module und Broschüren: Analoges Internet
Eigentlich hatte man eine „Einkaufsliste” an Spielen im Kopf, die man gerne „in Echt” sehen wollte. Diese Liste wurde gefüllt durch die schönen Broschüren in den Spielepackungen, die kommende Neuerscheinungen ankündigten – wie ein Steam-Newsletter nur halt analog griffig und durchaus regelmäßig: mal brachte der Osterhase neue Intellivision-Module, dann der Namenstag, der goldene Stern auf einem Sachkundetest, der Geburtstag und auch das Christkind. Jedesmal fand sich ein buntes Heftchen darin. So entstand im Kopf des Intellivision-Nutzers ein substantieller Querschnitt des Modulangebots.
Beim Aufschlagen der edlen Werbematerialien stach einem eines gleich ins Auge: „Arcade” war das mot du jour. So wetteiferten die Amidars, Super Cobras und Tutenkamuns mit den Froggers, Donkey Kongs und Zaxxons. Oftmals waren briefmarkengroße Fotos der Originalspiele zu sehen, schön bunt und detailliert, der wackere Heimkonsolenspieler war aktiviert.
Am Stadtrand Wiens waren Spieleautomaten leidlich verfügbar, Let’s Plays gab es nicht und Online-Spielautomaten-Datenbanken lagen noch in weiter Ferne. Es musste damals direkt erlebt werden; die Sommerferien vermochten verlässlich einiges wieder aufzuholen, was man im Schuljahr verpasste, in den Salae Giochi würde man erweiternde Feldbeobachtungen durchführen.
Gottliebs Q*bert auf dem Mattel Intellivision
Zunächst war man in der Spielhalle angetan von den Neuerscheinungen. Dass man ein gewisses Track and Field von Konami mit drei Knöpfen ohne Steuerknüppel kontrolliert war schlichtweg bahnbrechend. Oder Star Trek von einem feudalen Captain’s Chair aus. Auch das großzügig dimensionierte Discs of Tron stand in Bibione, bei dem Spieler tatsächlich in eine andere Welt eintreten, um richtig zu spielen – mit einem leuchtenden Neon-Joystick, wohlgemerkt, der direkt dem Master Control Programm entwendet schien. Doch dann ein wohlvertrautes Meckern im Eck der einen Sala: „@!#?@“
Ein alter Bekannter in Mitten von Bibione!
Dieser Freund war der knuffige Q*bert, ähnlich einer Orange mit kleinen Füßchen, großen Augen und einer noch größeren Nase. Und immer was zu meckern, wenn er ein Leben lassen muss. Der Spielverlauf des von Warren Davis für Hersteller Gottlieb entwickelte Programm verfolgt die Abenteuer des Titelhelden, der einer Welt aus Würfeln, den englischen „cubes“, bunte Farben schenkt.
Gottliebs Q*bert in der originalen Spielhallen-Fassung
Das Einfärben ist in der isometrischen Ansicht leichter getan als gesagt, mit einem beherzten Sprung auf eine Fläche – die über, unter und neben Q*bert liegen kann – verändert sich die Färbung momentan. Später muss mehrmals auf dieselbe gesprungen werden, um die passende Farbe – die das Programm pflichtbewusst im linken Bildschirmeck vorschreibt – auf die Würfeloberfläche anzubringen. Eigentlich ganz einfach, oder? Nun, Q*bert meckert nicht ohne Grund bei einem Fehlverhalten des scheiternden Spielers.
Q*bert ist nicht allein auf seiner bunten, isometrischen, eigentlich escherschen Welt. Sein Bestreben, die „cubes” gekonnt einzufärben durchkreuzen Curly, eine gewitzte purpurne Schlange, und die Monstrositäten Ugg und Wrong-Way mit wenig Gutem im Sinn. Während Curly wie Q*bert über die Oberseite der Würfel hüpft, hantelten sich Ugg und Wrong-Way geschickt über die Seitenflächen der der Würfel empor, strebsam auf der Jagd nach Q*bert. Die einen oder anderen herunterpurzelnden roten Bälle erschweren der großnasigen Orange zusätzlich den Fortschritt, ebenso wie die grünen Plagegeister Slick und Sam, die von oben auf das Spielfeld heruntertropfen. Mächtig was los in der Isometrie.
Die spannende Beziehung zwischen einer Orange, einer Schlange und garstigen Fantasiewesen verlangt nach einer skurill-übertriebenen Darstellung. In der Tat prangt auf der goldenen Parker Bros.-Schachtel der Intellivision-Portierung eine herzhaft lustige Illustration, die alle Spielelemente rund um Q*bert wiedergibt – was bei der Intellivision-Umsetzung auch im Groben nicht so schlecht gelingt.
Geprägt von dieser wackeren Intellivision-Version näherte ich mich quasi als Kenner dem wohlvertrauten Ausruf @!#?@. Zu meinem Erstaunen bewegten sich dort nicht die Pixel-Orangen und -Schlangen sondern im Verhältnis zur mir bekannten Technik quasi lebensecht die Comic-Figuren der Spielepackung, mit Augen, Haaren, Zähnen und Zungen, so, wie sie Designer Warren Davis geschaffen hatte. „Wer das spielt, der spielt einen Comic!” dachte ich mir sprachlos, eilte schnell aus der Sala zu den Eltern um Schmartes zu organisieren: „Da, komm‘ mit, schau‘ doch, weißt Du, was das ist?!? Das muss ich spielen!”
Klar erkennen auch die Eltern die antropromorphe Orange: „Aber Andreas, das haben wir doch zuhause”. Nach den bestärkenden Schulterklopfern bleibt meine rechte Hand noch einige Zeit an der Konsole des Automaten. Im Attract Mode springen Q*bert, Curly, Ugg, Wrong-Way, Slick und Sam nur so dahin, dass es eine Freude ist. Ohne Kleingeld in den Taschen entferne ich mich langsam von Gottliebs erfolgreichstem Automaten, meine Hand gleitet langsam vom Gerät. 33 Jahre später sollte es aber anders sein!
33 Jahre sind eine lange Zeit, aber Q*bert geht einfach immer. Heute ist der liebenswürdige Held Eigentum von Sony Entertainment, aber zweifelsohne wird in „meinem” Sala Giochi „mein” Automat noch zu finden sein.
Videospielgeschichte im Schatten der Gegenwart
Die schön beleuchtete Freiluftpromenade Bibiones strotzt nur so vor gelassener Fröhlichkeit. Die Menschen, jung und alt, sind entspannt und froher Dinge, einzig ein schwarzer Fleck stört die muntere, vergnügte Gesamtkomposition: ein schweres Schloß sperrt die einstigen Erinnerungen ein, hält das früher bunte, laute, hektische Treiben in den vier Wänden gefangen, ein Zeitloch inmitten vom Bezirk Venezia.
Denn auch wenn längst das letzte Licht ausgeschaltet wurde, so erkennt man bei genauerem Hinsehen Automaten in der Dunkelheit!
Der berühmteste Vertreter der automatenreichen Unordnung hinter verschlossenen Türen ist zweifelsohne Puck Man, jene Vorversion des als Pac-Man bekannten Klassikers. Doch kenne ich nicht den da, der gerade zu diesem Automaten geht und ein Jetton einwirft? Momentan erfüllen die verschlossene Halle Emotionen und Farben. Nicht straßenseitige Reflexionen täuschen die Augen, strahlend holt die Vergangenheit die Wahrnehmung ein, ein Gedicht aus Tabak und Scampi hängt als Aroma der adriatischen Spielhalle in der Luft. Nicht mehr Glas verspürt die Hand, mit der man sich auf die Scheibe der eigentlich erstarrten Sala stützt, es sind in Gedanken die lustigen Aufkleber des Q*bert Automaten, das wohlvertraute Klackern des Sticks in den Ohren. Dann ruft jemand einen Namen, die Sala verschwindet im Treiben der Sommernacht.
Auch wenn Q*bert an diesem Abend nicht von Würfel zu Würfel springt, so flackern unzählige Erinnerungen in meinen Augen. Das Taschengeld, das hoffnungslos zu wenig ist, die Spielhallenbesitzerin, die sich lautstark über den Sand an den Waden der Besucher mockiert – aber nicht laut genug, um den fürchterlichen Sinistar verstummen zu lassen. Oder die berauschenden Explosionen, die wieder einen Spieler in Gyruss mitgerissen haben. Sand an den Füßen vergeht, diese Erinnerungen nicht.
Q*bert war nicht mehr in Bibione. Keine Orange, kein Curly, kein @!#?@. Dafür Jar-Jar Binks auf der Strandliege.
Schon spülen mich die Wellen der Nostalgie zurück auf den Strand der Gegenwart. Meine Badeschlapfen stehen noch da. Immerhin. NIMM UND BENUETZE BADESCHLAPFEN MIT ADRIA. SCHREIBE POSTKARTE AN Q*BERT.
Schreibe einen Kommentar