Sonnenuntergang auf der Kanal-Route. Langsam neigt sich der aufgeheizte Tag dem Ende. Die sanften Hügel der im Norden angrenzenden Umgebung von City 17 werden durch die späten Sonnenstrahlen des Nachmittags in warme Farbtöne gehüllt.
Egal, ob ich zu Fuß oder mit dem Luftkissenboot unterwegs bin: überall, wo ich nicht gerade ein Gefecht gegen die Combine austragen muss, lohnt sich für mich ein andächtiges Verharren in der wundersamen Welt von Half-Life 2.
Spätestens im Kapitel „Wassergefahr“ wird mir die beeindruckende Schönheit der Landschaft vollständig bewusst. So verlassen und beklemmend die Orte auch wirken mögen, sind sie doch von einer großen Weite und vergegenwärtigen mir, wie diese Welt vor dem barbarischen Sieben-Stunden-Krieg ausgesehen haben muss.
Orte aus der Zwischenwelt
In meiner Erinnerung sehe ich Fischer in ihren Booten, die auf nahegelegenen Seen ihren verdienten Lebensabend genießen und höre die fröhlichen Stimmen von Kindern, die auf den grünen Wiesen der Vorstadt spielen. All das ging für immer verloren, als die Combine in weniger als einem Werktag alles vom Menschen Erschaffene erbarmungslos zerstörten.
Mit der gefühlskalten Nummerierung der Städte nahmen sie unserer Generation die Vergangenheit und beschworen so den von ihnen angestrebten Untergang unserer Zivilisation. Aussichtslosigkeit bewohnt seither das Land, das ich durchstreife. Der letzte Hoffnungsschimmer ist die Rebellion. Eine kleine Gruppe befreundeter Idealisten, die sich immer wieder gegen das erbarmungslose System auflehnt.
Es ist offiziell nie bestätigt worden, ob sich die realen Vorbilder der Schauplätze von Half-Life 2 in Estland, der Ukraine, Bulgarien oder Russland befinden. Dennoch ist es allgemein wenig umstritten, dass die Architekturen, Alltagsgegenstände und Landschaften im Spiel deutlich vom Baltikum und vom östlichen Europa geprägt sind.
Die städtischen Umgebungen spiegeln viele Einflüsse des osteuropäischen Neoklassizismus der Vor- und Nachkriegszeit wider. Die Bauwerke wurden an vielen Stellen mit den modernen Strukturen der Combine verwoben, sodass sich eine befremdliche Mischung aus alter und futuristischer, oder sagen wir lieber nicht-irdischer, Bauweise ergibt.
Diese visuelle Welt ist unter der Leitung des Designers Viktor Antonov entstanden. Antonov, der übrigens in Sofia geboren wurde, hat Half-Life 2 mit seiner Vision einen fantastischen und unverkennbaren Look gegeben.
Willkommen, willkommen in City 17. City 17 bedeutet mir so viel, dass ich meinen Verwaltungssitz hier bezogen habe; in der von unseren Gönnern zur Verfügung gestellten Zitadelle.
Dr. Wallace Breen
Das Stadtzentrum von City 17 ist hauptsächlich von Funktionalität und Kälte geprägt. Die systematische und blockartige Bebauung ist auf die zweckmäßige Unterbringung der bevormundeten und überwachten Bürger ausgerichtet. Sie bietet keinen Spielraum für Fantasie oder Träume. Selbst die Spielplätze liegen brach und werden schon lang nicht mehr von den Kindern benutzt. Allerorten finde ich im Spiel verlassene Gebäude und Plätze, so wie sie in der Regel nach dem Zusammenbruch eines Systems entstehen.
Es reizt mich, immer wieder in Seitenstraßen zu blicken, um zu entdecken, welche Alltagsszenen sich dort wohl abspielen. Ein tieferer Einblick wird mir aber oft verwehrt, weil die Combine die meisten Gassen mit meterhohen Energiefeld-Sicherheitsbarrieren unzugänglich haben. Sobald ich mich diesen Sperren nähere, werde ich von fliegenden Kameras fotografiert, die meinen Aufenthaltsort in das Netzwerk des Combine-Systems einspeisen. So kann ich nur sehen und wahrnehmen, was für meine Augen bestimmt ist.
Für mich, einem Kind der 1980er Jahre, schafft bereits die Einreise nach City 17 eine erzählerische Parallele zum Kalten Krieg zwischen West- und Osteuropa. Das militante Auftreten der Combine Overwatch hinter den gesicherten Stahlzäunen des Regimes weckt unangenehme Erinnerungen an die Geister vergangener Tage. Als Staatsorgane der DDR unseren grasgrünen VW-Bus am deutsch-deutschen Grenzübergang Gudow-Zarrentin an der Transitautobahn Hamburg-Berlin nach unerlaubten Waren durchsuchten.
Große und schwenkbare Spiegel wurden unter das Auto gefahren und unsere ganze Familie in den frühen Stunden eines grauen Novembermorgen zum Aussteigen und Entfernen vom Auto gezwungen. Die einseitige Stille meiner Eltern verunsicherte meine kindliche Wahrnehmung. Das Wort führten ausschließlich die Grenzposten. Jede verbale Intervention wurde als Angriff verstanden. Daraus resultierte das Schweigen von Mama und Papa; wie ich natürlich erst viel später begriff.
Friedliches Ravenholm
Ähnlich beunruhigend wie mein frühkindliches Erlebnis mit den Staatsorganen der DDR war mein erster Besuch der Minenstadt Ravenholm. Es gibt für mich im ganzen Spiel keinen zweiten Ort, der den Verfall durch das zerstörerische Tandem Combine-Breen und den unwiederbringlichen Niedergang des menschlichen Schaffens deutlicher thematisiert.
Ravenholm beantwortet die Frage, wie unsere Welt am Ende des Raubzuges der Combine aussehen würde.
Obwohl es sich um einen unheimlichen und brutalen Ort handelt, spüre ich bei meinen Besuchen in Ravenholm immer auch ein wenig Melancholie. Das mag vielleicht an meiner Empathie für die Menschen liegen, die sich hinter den dort hausenden Zombies verbergen. Oder daran, dass Ravenholm auf gewisse Art und Weise ein friedlicher Ort ist.
Denn der Kirchenmann Vater Grigori (erneut eine östliche Namensanleihe und zusätzlich ein biblischer Verweis auf das Buch Daniel, in dem ein namensgleicher Wächter oder Engel vorkommt) kämpft hier im Auftrag des Friedens einen nicht endenden Kampf gegen die gottlosen Kreaturen der Unterwelt. Er wird seinen eindeutig religiös motivierten Kampf niemals aufgeben. Dies färbt sein Wirken tröstlich und macht Ravenholm zu einem Gleichnis des immerwährenden Gefechts zwischen Gut und Böse. Einem Ort, an dem wir zu gleichen Teilen gefährdet und beschützt sind.
That’s the old passage to Ravenholm. We don’t go there anymore.
Alyx Vance
Jenseits der städtischen Gebiete oder Orten wie Ravenholm, beispielsweise auf dem Highway 17, kann ich der trostlosen Atmosphäre des Untergangs dann endlich ein wenig entfliehen. Hier kann meine Seele wieder freier und unbeschwerter atmen, wenn ich meinen Blick auf die Küste und das unendliche und friedliche Meer schweifen lasse.
Die traumhafte Küste
Die Küstenstraße, die mich von der Minenstadt zum ehemaligen Hochsicherheitsgefängnis Nova Prospekt führt, steht in einem spürbaren Kontrast zur menschenverachtenden Bauart der großen Stadt.
Vom erhöhten und geschwungenen Straßenverlauf kann ich auf den feinen Sand des Strandes herabschauen, der von den immer wiederkehrenden Wellen des Meeres erfrischt wird. Ich verspüre in diesem Moment den Wunsch, aus meinem Buggy auszusteigen und am scheinbar endlosen Strand spazieren zu gehen, so wie ich es im wohlverdienten Urlaub machen würde.
Nur die Abwesenheit anderer Menschen und alltäglicher Situationen erinnert mich immer wieder an die Entrücktheit der Welt, in der ich mich tatsächlich befinde.
An den Stellen, wo das Begehen des Strandes für mich zur Aufgabe wird, wie beispielsweise im Kapitel „Sandlöcher“, schafft das Spiel erneut die Notwendigkeit, mit der Umgebung zu interagieren und auf diesem Wege eine direkte Verbindung zwischen Half-Life 2 und meiner wirklichen Welt herzustellen.
Ich muss Ziegelsteine zum Beschweren von Holzwippen einsetzen oder explosive Benzinfässer kurzerhand in todbringende Waffen verwandeln. Mit großer Vorsicht balanciere ich über die auf dem Sand liegenden Holzbretter, um die angriffslustigen Antlions nicht zu wecken. Ich bin gezwungen, mit dieser schönen und verwirrenden Welt zu verschmelzen. Sie wird für mich zur Ersatzrealität. Objekte bekommen ein Gewicht und Distanzen werden zu messbaren Grenzen.
Die offensichtliche Namensanleihe des am Highway gelegenen Ortes New Little Odessa, einer Siedlung unseres Widerstandes, schafft einen geographischen Bezug zur wirklichen ukrainischen Metropolregion am Schwarzen Meer. Auch die Verwendung des lateinischen Wortes „Prospekt“ im Spiel (der Name Nova Prospekt kann mit „Neue Aussicht“ übersetzt werden) schafft eine Verbindung zum östlichen Sprachraum.
Betrachten wir die generelle Ähnlichkeit der Küste im Spiel mit unserer Welt, so wird uns auch hier wieder deutlich, warum uns Half-Life 2 so berühren mag. Dass diese Welt existiert, ist vorstellbar. Und das ist aus meiner Sicht eines der Geheimnisse des Spiels. Half-Life 2 nimmt mich mit auf eine Reise, in der ich mich wiedererkenne und deren endgültiges Ziel mir dennoch unbekannt ist.
Zweifellos haben sich die Künstler beim Erschaffen des Half-Life 2-Universums nah an der Vorlage der Realität orientiert. Das wird auch an den Plakaten deutlich, die in der Stadt an den Mauern hängen. Hier werden beispielsweise Autos (in der Form eines DDR-Trabant) angepriesen. Auch finden sich überall Werbeposter für verschiedene Veranstaltungen in kyrillischer Schrift.
Von Skodas und Eisenbahnen
Im weiteren Verlauf des idyllischen Highway 17 (der Name ist ohne Zweifel an City 17 angelehnt) stoße ich auf zahlreiche russische und osteuropäische Autowracks. Manche dieser Fahrzeuge habe ich schon einmal in den Medien gesehen, andere aus nächster Nähe.
Unter den Blech-Boliden befinden sich viele real existierende Automodelle, wie beispielsweise:
- Das Skelett eines russischen AZLK-2140 „Moskwitsch“
- Ein verlassener russischer PKW ZAZ-968 „Zaporozhets“
- Ein zerstörter tschechischer Skoda LIAZ 706
- Ein brennender, aus Tschechien stammender AVIA 31A
Außerdem treffe ich auf einen deutschen VW Golf II (den ein guter Schulfreund von mir besaß) und einen Trabant Kombi 601S. Letztere rollten in Scharen über den heimischen Röhrenbildschirm, als die unmenschliche Berliner Mauer 1989 fiel und die Menschen in den Westen Deutschlands strömten. Natürlich in dem Glauben, auf der Reise in ein gerechteres System zu sein.
Einen weiteren technischen Bezug zur Wirklichkeit schafft der Personenzug, mit dem ich am Anfang des Spiels nach City 17 einreise. Denn dieser Zug basiert auf der russischen Diesel-Zugserie DR1, die ab den 1960er Jahren in Lettland gebaut wurde. Er begegnet mir ein weiteres Mal im Kapitel „Ein denkwürdiger Tag“, wo ich das stählerne Gefährt als Sprungbrett zur Überbrückung einer Eisenbahnlinie nutzen muss.
Der imposante und schnelle Razor Train, den ich später auf der großen Eisenbahnbrücke in der Nähe unseres Stützpunktes Bridge Point sehe, verdeutlicht noch stärker, wie minimalistisch und modern die von den Combine verwendete Technik tatsächlich ist. Sein Design ist auf das Wesentliche reduziert und seine kompromisslose Formgebung ist dafür gedacht, störende Elemente auf den Gleisen einfach aus dem Weg zu rammen.
Die in der Welt von Half-Life 2 verwendete Technologie begeistert mich auch aufgrund ihres schlüssigen Industriedesigns. Die mir vertrauten Gegenstände fügen sich nahtlos in die fiktive Technologie des Combine-Regimes ein. So entsteht eine neue Welt, die ich als fremd und zugleich bekannt erfahre.
Eine glaubwürdige Welt
Die Tatsache, dass Valves Soundgenie Kelly Bailey viele Titel und Soundelemente des ersten Half-Life-Spiels auch in der Fortsetzung wiederverwendet hat, schafft eine vertonte Konstante zwischen beiden Werken. Die stimmungsvollen Musikstücke des Komponisten fügen sich dabei nicht nur ideal in das künstlerische Gesamtkonzept des Spiels ein, sondern prägen es maßgeblich.
Kühle, treibende, düstere und außerirdische elektronische Klänge formen die Wahrnehmung der Umgebung und geben dem Erlebnis Half-Life 2 eine geheimnisvolle und fast mystische Tiefe.
Das spiegelt sich auch in den Titelnamen des Soundtracks wider. Die Stücke heißen „Broken Symmetry“, „You’re Not Supposed To Be Here“ oder „Zero Point Energy Field“. Sie versetzen mich beim Hören immer wieder in eine andere Dimension. Eine Dimension, die mir nicht bekannt ist, die aber mit der mir bekannten zu verschmelzen begonnen hat. So konnten sich Tracks wie „Slow Light“ oder „Triage At Dawn“ nachhaltig in meinem Gedächtnis verankert.
Marc Laidlaw, der geistige Vater der Story, fasst in einem Interview von 2010 zusammen, was auch mich so stark an dieses Spiel bindet. Für Laidlaw, der seine Leidenschaft für Videospiele nach eigener Aussage durch fantastische Titel wie Myst, Thief, Heretic oder Hexen entdeckt hat, stand bei der visuellen Philosophie von Half-Life 2 das „Schaffen einer glaubwürdigen Welt im Vordergrund“.
The right man in the wrong place can make all the difference … in the world.
The G-Man
Zweifellos haben Antonov, Laidlaw, Bailey und das gesamte künstlerische Team bei Valve dieses Ziel erreicht und einen zeitlosen Videospielklassiker geschaffen, den ich immer wieder spielen möchte und niemals vergessen kann.
Bildergalerie
HALF-LIFE 2: HINTERGRÜNDE
Endstation City 17
Der Bahnhof, in dem Gordon nach seiner Ankunft in City 17 aussteigt, findet sein reales Vorbild in der Budapest Western Railway Station von 1877.
The Wasteland
Hinter dem Begriff „Wasteland“ (dt. Ödland oder Einöde) verbirgt sich die Umgebung von City 17. Dazu gehören beispielsweise die Kanal-Route, die Küste und der Highway 17. Die Verbindung vom Wasteland zur Stadt wird durch die Eisenbahn gewährleistet, die ausschließlich von den Combine genutzt wird.
Birkutgrad
Vor der Invasion durch die Combine trug City 17 den Namen Birkutgrad. Dominiert wird die Stadt durch die riesige Zitadelle, in der sich das Büro des abtrünnigen Verwalters, Dr. Wallace Breen, befindet.
Neue Aussicht
Nova Prospekt (dt. „Neue Aussicht“) ist ein ehemaliges, blockartig gebautes Gefängnis. Die Vorlage ist das berüchtigte Alcatraz in der Bucht von San Francisco.
Straßenbahnen
Ursprünglich sollten in City 17 auch Straßenbahnen fahren. In frühen, nicht-offiziellen Maps können diese noch gefunden werden. Die Idee wurde allerdings nicht in die Verkaufsfassung übernommen.
Unsere Wohltäter
Die Stadt, auf die man gegen Ende des Spiels aus der Zitadelle herabsehen kann, ist ein Satellitenfoto von Brooklyn (New York).
Quellen
- Half-Life 2: Raising the Bar: Official Strategy Guide, Prima Games, ISBN-10: 0761543643, ISBN-13: 978-0761543640
- Half-Life 2: The Kotaku Review (auf kotaku.com)
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