Jeder stirbt

Avatar von Christian Gehlen

Lesedauer: 5 Minuten

Vor genau 15 Jahren, im Jahre 2006, veröffentlichte Introversion Software ein Spiel namens Defcon. Untertitel: Everybody Dies. Die britischen Entwickler schafften es später mit Prison Architect zu Weltruhm, Defcon versank ein wenig im Treibsand der Computerspielgeschichte. Dabei lohnt sich zum 15jährigen Geburtstag auch heute noch ein Blick auf das Spiel, das auch aktuellen Anforderungen noch gerecht wird.

Um Defcon zu verstehen, ist zunächst ein Sprung ins Jahr 1983 vonnöten. Im Herbst 1983 meldete das Computersystem in einer geheimen russischen Militärbasis den Abschuss einer Atomrakete von einer US-Basis. Ein Spionagesatellit verkündete den Beginn der Apokalypse.

Der Spiegel hatte im gleichen Jahr schon mal ausgerechnet, was ein globaler Atomkrieg in Zahlen bedeutet: Rund 5000 Sprengköpfe würden in dichtbesiedelten Gebieten in Nordamerika, Europa und Asien einschlagen, 1124 Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern ausgelöscht. 750 Millionen Tote, 340 Millionen Verwundete. Dann meldeten die russischen Computer noch den Abschuss dreier weiterer amerikanischer Atomraketen.

Doch der diensthabende Oberst Stanislaw Petrow traute der Technik nicht und schickte entgegen der Vorschriften keine russischen Atomraketen zum Vergeltungsschlag los. Ein paar Minuten später bestätigte sich seine Skepsis: Fehlalarm. Der Satellit hatte sich wohl von speziellen Wolkenformationen und ungünstig reflektiertem Sonnenlicht täuschen lassen. Erst fast zwei Jahrzehnte später erfuhr die Welt von dieser Geschichte und wie haarscharf sie an einer thermonuklearen Vernichtung vorbeigeschrammt war.

In Deutschland hatte ein Jahr zuvor die Angst vor Atomwaffen die Menschen auf die Straßen getrieben. Am 10. Juni 1982 versammelten sich über eine halbe Million Menschen auf den Bonner Rheinwiesen, um anlässlich des Gipfeltreffens der NATO in Bonn gegen den NATO-Doppelbeschluss von 1979 zu protestieren. Der besagte, dass mit Atomsprengköpfen bestückte Raketen (Pershing II und BGM-109 Tomahawk) in Westeuropa installiert werden sollten. Damit wollte die NATO die sowjetische Stationierung von atomaren SS-20-Raketen kontern. Ein berühmter Slogan aus dieser Zeit war zum Beispiel „Petting statt Pershing“. Der kalte Krieg war auf dem Höhepunkt, das atomare Wettrüsten war auf dem Zenit.

Das waffenstarrende Gegenüberstehen zweier globaler Supermächte, die wie zwei Cowboys nur darauf warten, bis der erste zwinkert, wurde vielfach kulturell verarbeitet. 1983 kam beispielsweise John Badhams Film War Games in die Kinos. Badham thematisierte die Gefahr eines irrtümlich ausgelösten Atomkrieges im Rahmen eines Teenager-Abenteuerfilms (ohne von den zeitgleich stattfindenden Ereignissen in der sowjetischen Raketenbasis zu wissen). Der Film wurde zum Kassenschlager und blieb besonders wegen seiner eindringlichen Darstellung des atomaren Krieges in Erinnerung: Auf einer wandgroßen Weltkarte fliegen Atomraketen hin und her, bis die Künstliche Intelligenz dahinter zum einzig logischen Schluss kommt: „Ein seltsames Spiel. Der einzig gewinnbringende Zug ist, nicht zu spielen.“

War Games selbst war ganz klar vom Automatenklassiker Missile Command inspiriert. Der Film selbst wurde popkulturell in den folgenden Jahrzehnten immer wieder zitiert, doch es sollte bis 2006 dauern, ehe die Indie-Entwickler von Introversion ein vernünftiges Spiel zum Film schufen.

Defcon inszeniert den Atomkrieg als Strategiespiel: langsam, unheimlich und beunruhigend. Ziel ist es, die gegnerische Zivilbevölkerung möglichst komplett auszulöschen. Es ist ein Echtzeit-Strategiespiel ohne Einheitenproduktion, Ressourcensammlung oder Technologiebaum-Upgrades.

Gespielt wird auf einer Weltkarte im Vektorgrafik-Stil der 1980er, welcher frappierend an War Games erinnert. Die Spieler wählen und positionieren ihre Streitkräfte zu Beginn des Spiels: Radarstationen, Raketensilos und Lufwaffenstützpunkte zu Land, Jäger und Bomber zu Luft und Schlachtschiffe, Flugzeugträger und U-Booter zu Wasser. Mit fortlaufender Spielzeit bewegt sich die Verteidigungsstufe unaufhaltsam von Defcon 5 zu Defcon 1. Ab Stufe 3 kann der Spieler mit Flugzeugen das gegnerische Territorium aufdecken und seine Einheiten finden. In Defcon 1 werden die Atomraketen abgeschossen, um ihren tödlichen Auftrag zu erfüllen.

Keine Hoffnung: Westküsten-Metropolen im atomaren Fadenkreuz. (Bild: Christian Gehlen)
Keine Hoffnung: Westküsten-Metropolen im atomaren Fadenkreuz. (Bild: Christian Gehlen)

Städte sind Punkte auf der Landkarte. Werden sie getroffen, verschwindet der Punkt unter einem ultraweißen Fleck. Eine schnöde Textmeldung gibt das Ergebnis bekannt, beispielsweise „London getroffen. 7,2 Millionen Tote“. Nach und nach nimmt die Anzahl der gezeichneten Bögen auf der Weltkarte zu, jeder steht für eine Atomrakete, die ihr Ziel ansteuert. Je nach Spielerzahl ist ihre Zahl so groß, dass die Umrisse der Kontinente von ihnen aufgefressen werden.

Und dann nimmt die Zahl der weißen Flecken überhand. „Sao Paulo getroffen. 6,3 Millionen Tote.“ – „Bombay getroffen. 3,4 Millionen Tote.“ – „Dar es Salaam getroffen. 2,3 Millionen Tote.“ Jede dieser schmucklosen Textmeldungen schnürt dem Spieler die Luft ab, setzt das Kopfkino in Gang und die Furcht wächst vor den Geschossen, die noch über die Weltkarte fliegen. Jede verlorene Million Menschen bringt dem Spieler einen Minuspunkt, jede vernichtete Million bringt zwei Pluspunkte. „Shanghai getroffen. 2,7 Millionen Tote.“ Es gibt keine Explosionen in Defcon. Keine Schreie. Keine Feuer. Keine Trümmer. „Teheran getroffen. 2,1 Millionen Tote.“

Defcon ist grausam, kalt, brutal. Und gewissenlos realistisch. Das muss diese moderne Kriegsführung sein, von der sie alle reden. Anonymes Töten. Anonymes Vernichten. Everybody dies! Der Sieger ist die Seite mit den meisten Überlebenden. Am Ende des Spiels steht das Nichts. Der letzte Krieg der Menschheitsgeschichte. Während Ego-Shooter sich in realitätsnaher Grafik klassischen Kriegshandlungen widmen und das Spieler emotional weitestgehend kalt lässt, bewirkt Defcon mit seinem Minimalismus das genaue Gegenteil und kommt wie ein Schlag in die Magengrube.

Dabei spielt auch die Musik eine außerordentlich große Rolle: Alistair Lindsay und Michael Maidment haben eine melancholisch-depressive Musikbegleitung komponiert, die allein einem schon das Blut in den Adern gefrieren lässt. Dunkle, pathetische Flächen, durchsetzt von einzelnen Soundeffekten wie dem Flüstern aus einem irrealen Funkgerät. Düster dahingetupfte Pianoklänge verblassen vor alles verschlingenden, schwarzen Ambient-Wolken. Plötzlich reißt ein lauter Sirenenton das Wabern auseinander: irgendwo wurde eine Atomrakete abgeschossen. Unheilvolle Chorgesänge. Mitunter erklingt im Hintergrund das Schluchzen einer Frau. Oder eines Kindes. Dann wird aus Unterhaltung purer Horror.

Die Hölle bricht los. (Bild: Christian Gehlen)
Die Hölle bricht los. (Bild: Christian Gehlen)

Dieses Spiel gehört zu den emotional schwersten überhaupt. Kampfflieger, die ihre Basen zum Erkundungsflug verlassen, nur um Minuten später abgeschossen zu werden. Bomber, die über den Ozean fliegen und niemals zurückkehren. U-Boote, die ihre Raketen abfeuern, bevor sie zerstört werden. Dutzende von Interkontinentalraketen rasen über die Arktis, bestimmt für verdammte Städte. Die Angst des Spielers, wenn der Sirenenton erklingt. Der Schwarm von Atomraketen im quälend langsamen Anflug auf die wehrlosen Ziele.

Ein YouTube-Nutzer hat seine Emotionen, die er beim Spielen von Defcon erlebt hat, so verarbeitet: „Der europäische Kampfpilot fliegt über den Mittelmeerraum, um einen afrikanischen Stealth-Bomber abzufangen. Er feuert seine Raketen, und ein Blitz in der Ferne zeigt den Abschuss des Bombers an. Als er umkehrt, um in Italien zu landen, weist ein viel größerer Blitz auf den Tod von vier Millionen Menschen in Kairo hin. Er fliegt über das Mittelmeer zurück, noch mehr Blitze erscheinen am Horizont. Er bemerkt, dass es keinen Landeplatz in Rom gibt, weil Rom nicht mehr existiert. Plötzlich bekommt er eine Warnung auf sein HUD und fast zeitgleich geht sein Bomber in Flammen auf, von russischen Boden-Luftraketen getroffen. Er kracht irgendwo in Griechenland in einen Wald. In der Ferne brennt Athen im atomarem Feuer. Er krabbelt aus seinem zerstörten Jet. Er schaut auf, sieht eine atomare Interkontinentalrakete aus Afrika, die eine Radarstation in Bulgarien zu vernichten versucht. Er hört die Geräusche von keuchenden Motoren in der Ferne. Er klettert auf einen Baum und kann eine Panzerdivision erspähen, die vorwärts kriecht. Dann schaut er auf, sieht den Blitz einer russischen Interkontinentalrakete. In Sekundenbruchteilen ist er tot, zusammen mit der gesamten Panzerdivision und dem Wald. Als der unbesiegbare Kameramann in den Himmel entschwebt, kann man die Raketen sehen, die auf ihre Ziele, Städte in Flammen, das Ende der menschlichen Zivilisation regnen lassen. Die Kamera entfernt sich weiter. Als die Kamera den Mond passiert, kann man nur schwache Flocken von Licht auf der Erde sehen. Und da die Kamera weiter und weiter wegfliegt, sieht die Erde aus, als hätten Menschen die Oberfläche nie betreten.
Spieler 3 hat das Spiel gewonnen.“

Defcon gibt es heute noch auf Steam, es kostet nicht viel – für etwas mehr als zehn Euro gibt es Spiel und Soundtrack. Ziemlich wenig für eine der einprägsamsten Erfahrungen der Computerspielegeschichte. Es ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wozu das Computerspiel als Medium in der Lage ist. Ein Spiel, das sich nicht in Spielspaßprozenten messen lässt. Das fast völlig unbekannt ist und in seiner künstlerischen Bedeutung für die ganze Branche gar nicht genug gewürdigt werden kann.

Jeder stirbt. Und wohl nie tat es so weh wie in Defcon.

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TobiAndre

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2 Antworten zu „Jeder stirbt“

  1. Avatar von André Eymann

    Wow, was für ein Text Christian. Sehr interessant! Beim ersten Lesen sind mir viele Gedanken durch den Kopf gegangen. Das liegt wohl auch daran, dass ich ein Kind der 1980er Jahre bin und in Deinem Beitrag viele konkrete Bezüge enthalten sind, mit denen ich mich unmittelbar verbunden fühle. Der Kalte Krieg, WarGames, Missile Command, der Ost-West-Konflikt im Allgemeinen.

    Ich kenne das Spiel nicht, finde aber Deine Beschreibung höchst spannend. Die nackte Mechanik, das „aufrechnende“ Grauen und die visuelle Umsetzung sind wirklich schauerhaft. Wenn man darüber nachdenkt, sind Spiel und Thema natürlich hochaktuell. Die Bedrohung ist natürlich auch heute vorhanden und eine „anonyme“ Art der Kriegsführung weltweit etabliert, was man nicht zuletzt an der fortschreitenden Entwicklung der Drohnen sehen kann.

    Zwischen den Zeilen kann ich in Deinem Text ebenfalls viel lesen. Eine starke pazifistische Haltung scheint deutlich durch und trägt Deine Zeilen wie eine Warnung. Deshalb möchte ich Dir doppelt danken: zum einen für die Erinnerung an „Defcon“ und dann für die Haltung die in deinem Beitrag steckt. Eine Haltung die auch mir sehr wichtig ist und für uns alle wichtig bleibt.

    Tobi
  2. Avatar von Tobi

    Danke für deinen Beitrag, Christian.
    Ich finde es interessant und erschreckend zugleich, wie du das Szenario beschreibst, welches uns schon so lange wie ein Schatten begleitet. Relativ unwichtig dabei ist wohl, welche Staaten man in die ‚Platzhalter‘ einsetzt, das Ergebnis würde in jedem Fall unglaublich schrecklich und verheerend für alle sein. Das machst du in deinem Beitrag sehr gut deutlich. Und auch – wie du es ja auch angesprochen hast – dass Spiele nicht immer eine Grafikorgie benötigen, um ein nachhaltiges und einschneidendes Spielerlebnis zu schaffen.

    Andre