Ich stolperte vor kurzem zufällig über „My Friend is a Raven“ bei Steam. Wahrscheinlich war es die verstörende Bleistift-Papercut-Visualisierung, die mich gefesselt hat. Die Beschreibung versprach kurzweilige Unterhaltung für einen Abend – nicht länger – und kompakte Spiele schätze ich mittlerweile sehr. Der Titel ist kostenlos und die Entscheidung dafür somit ein Leichtes.
„My Friend is a Raven“ versetzt uns in eine nicht näher definierte Epoche des Verfalls.
Unser Protagonist ist Lutum. Er könnte aber genauso gut auch der unglückselige Gregor Samsa aus Franz Kafkas Verwandlung sein, denn Lutum ist ein anthropomorphes Insekt. Zumindest sieht es so aus, er könnte aber auch nur eine Maske tragen, wie es die Ärzte zu Zeiten der Pest taten.
Wir lernen ihn in dem Moment kennen, als er ein letztes Mal in seine geliebte, doch bereits längst verlassene Wohnung zurückkehrt. Die Angst, die Stadt könnte bald fallen, treibt ihn um. Er ist hier, um ein letztes Mal mit dem Raben zu sprechen, ihn zu überreden.
Die wenigen Räume sind düster und drückend. Das liegt zum einen am aparten Grafikstil, zum anderen am Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Eine Wucherpflanze hat sich der kompletten Wohnung ermächtigt und kriecht überall an den Wänden hoch. Auf dem Boden, auf dem Tisch, überall liegen Federn und aus dem Kühlschrank läuft verdorbene Flüssigkeit.
Wir bewegen uns durch die morbide gewordene Wohnung, findet einige Gegenstände. Schließlich entdeckt Lutum vor der Balkontür im Schlafzimmer einen kleinen Brief. Der enttäuschte Absender hat eine Mahnung an Lutum hinterlassen. Der Brief ist ein Hinweis, der schließlich zu einem Flashback führt. Zurück in die Situation, wie sie sich kennengelernt haben, Lutum der Mensch, der nun keiner mehr ist und er, der Rabe. Wir erfahren, welches Band Lutum mit dem Raben verbindet.
Im Hier und jetzt weiß Lutum, dass der Rabe erscheinen wird, sobald er sich ihm bei Sonnenuntergang auf dem Balkon zeigt. Also treten wir hinaus und tatsächlich, nach wenigen Augenblicken erscheint der Rabe. Sie begrüßen sich überaus förmlich, plaudern fast. Ihr Dialog ist poetisch, würdevoll und stolz. Und es wird schnell klar, dass sich Lutum das Gehör des Raben verdienen muss; denn der ist nicht gut auf Lutum zu sprechen.
Wir erfahren, dass die letzten Ereignisse Lutum einen großen Fehler bereuen lassen. Er ist hier, um Vergebung zu erhalten, und der Rabe ist das einzige Wesen, das ihm diese Vergebung gewähren kann.
Tatsächlich ist Vergebung das zentrale Thema von „My Friend is a Raven“. Als spielende Person versuche ich herauszufinden, ob sich Lutums letzter Wunsch erfüllen lässt. Das Spiel hat insgesamt vier verschiedene Enden, wobei nur eines das Gefühl vermittelt, ein „guter“ Ausgang der Geschichte zu sein. Jeder Spieldurchgang dauert kaum länger als fünf Minuten, sodass die zentrale Frage nach spätestens einer knappen halben Stunde aufgelöst wird.
Was an dem Spiel so nachhallt, sind die Parallelen zum echten Leben, die wohl jeder von uns kennt. Die quälenden Fragen, wenn man irgendwann eine falsche Entscheidung getroffen hat; wenn man etwas aus tiefstem Herzen bereut: Was wäre gewesen, hätte ich mich damals anders entschieden? Kann ich etwas tun, um diesen Fehler zu korrigieren und wenn ja, was? Und der Schock der Ohnmacht, wenn man eben keine Absolution erhält; das Nicht-verstehen-Können (oder -Wollen?), egal was man zur Reue und Buße zu tun bereit ist.
„My Friend is a Raven“ weckt Wehmut und lässt nachdenklich zurück. Für Spiele wie dieses liebe ich das Medium.
Welche Spiele, oder welche Stellen in einem Spiel, haben dich über Reue, Versagen und Ohnmacht nachdenklich gemacht?
Schreibe einen Kommentar