Jetzt, wo die besinnliche Zeit des Jahres wieder in vollem Gange ist, möchte ich uns mental in die Zeit der 1980er und 1990er zurückversetzen, in der die meisten von uns noch (kleine) Kinder waren; eine Zeit, in der die Vorfreude auf Weihnachten groß und die Sehnsucht nach dem großartigsten Spielzeug der Welt noch größer war.
Genauer gesagt, führe ich uns in die Heiligabende unserer Kindheit zurück, an denen man im Wohnzimmer vorm Familien-Röhrenfernseher sitzend auf die Bescherung wartet, während man eigentlich schon seit Stunden, ach was sag ich, Tagen heimlich auf die noch eingepackten Geschenke geiert und wie ein konsumgeiles Stierbaby mit den Hufen scharrt.
Die Stunden dehnen sich wie eine Doppelstunde Mathe vorm langen Wochenende, aber immerhin wird man nicht von schlechtgelaunten Pädagogen angemotzt – und mit diesem tröstlichen Gedanken ist das Warten irgendwann tatsächlich vorbei.
Ich weiß nicht, wie man bei euch früher die Bescherung eingeleitet hat, aber bei uns in Süddeutschland klingelt das Christkind irgendwann ein Glöckchen und es geht los: Mit der Bescherung – und mit den 5 Phasen des weihnachtlichen Elends.
Phase 1: Leugnen
Die weichen Geschenke ohne Karton werden von mir gekonnt ignoriert (die Erfahrung schreit „Frotteeschlafanzüge“) und ich stürze mich direkt auf die einzige konsolengroße und kitschig verpackte Schachtel.
Oh Mann. Monatelang wurde gejammert, gefeilscht, gebettelt und dann ist es endlich so weit. Das Geschenkpapier wird aufgerissen, das krumpelige Geschenkbandknäuel so weit geworfen, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Siegerurkunde bei den Bundesjugendspielen verliehen bekommen hätte. Jetzt habe ich mich endlich durch die Deko zum Karton durchgegraben.
Ich schweife währenddessen schon ein bisschen in meine Tagträume ab: Ich bin zwar nicht die erste in der Klasse, die so ein Ding hat, aber diese Konsole wird dort trotzdem meinen Status mindestens verdoppeln. Die anderen Kinder werden sich darum streiten, wer bei mir übernachten darf. Ich werde so viel üben, bis ich als Super Mario RICHTIG gut bin. Meine Freundinnen und ich werden SO tolle Nachmittage zusammen haben, mit meinem lang ersehnten, supercoolen, seltsam hohl klingenden…
… Äh, „Zelda Mega Drive“…?
Bitte WAS?! Das kann nicht sein!
Phase 2: Zorn
Es ist vielleicht ein Paradebeispiel für First World Problems. Aber: Es ist ein weltweit bekanntes Phänomen unserer Generation. Zwar nicht empirisch belegt, aber unzählige Memes über traurige, traumatisierte Kinder der 80er und 90er zeigen, dass ich nicht die Einzige war, die dank unkundiger Erwachsener statt mit der gewünschten Spielekonsole plötzlich mit einem obskuren chinesischen Plagiat unterm Christbaum saß. Ja, First World Problem, aber für eine Kinderseele wirklich dramatisch enttäuschend.
Es klingt zwar undankbar, aber wenn wir mal ehrlich zueinander sind: Kein Mensch der Welt wünscht sich einen scharfkantigen Handheld-Klon namens „Entertainment Baby “ ohne Steckplatz, dessen gesamter weltweiter Umsatz auf den Schultern schnäppchenjagender Großeltern lastet. Da können mich die 1000 Games, die das Gerät auf dem internen Speicher anbietet, nicht gerade trösten.
Phase 3: Verhandeln
Trotz allem setzt mein Gehirn wieder ein. Tapfer versuche ich die Tränen der Enttäuschung wieder herunterzuschlucken, bevor jemand etwas bemerkt, und würge schnell ein Goldene Himbeere-würdiges „Danke“ heraus. Mein Mantra: Es hat ja keiner böse gemeint.
Außerdem.. nach einigen Minuten machen mich die Lobeshymnen über die unendlichen Möglichkeiten des Geräts, in der Font „Papyrus“ auf den Karton gedruckt, und meine stark ausgeprägte Verzweiflung dann doch irgendwann mürbe.
1000 Spiele müssen, rein rechnerisch betrachtet, einfach viel abwechslungsreicher sein als ein einziges Spiel, auch wenn mir vielleicht im Gegenzug ein lizensierter Sonic the Hedgehog keine Albträume bereitet hätte. Je länger die Verpackung studiert wird, desto überzeugender wirken die ekstatisch agierenden Kinder auf der Schachtel auf mich und desto mehr Freude kommt in mir auf. Ich finde mich nicht nur langsam mit der Tatsache ab, sondern freunde mich wirklich mit dem Gedanken an, eine echt gute Zeit mit meinem brandneuen, klappernden „Super Nintengo“ zu verbringen, der verdächtig danach klingt, als ob schon etwas von der Platine abgebrochen wäre. Hey, 1000 Spiele sind 1000 Spiele! Wer braucht da schon CE-Zeichen?
Mir ist klar, dass wir bestimmt Wochen daran sitzen werden, alle Games durch- oder zumindest anzuspielen, drum legen wir noch in den Winterferien los. You go girl. Das werden die besten Ferien ever!
Spiel für Spiel taste ich mich mit einem Geschwister und/oder Cousin meiner Wahl durch die angebotenen Games und habe – zugegeben – Spaß.
Ein kurzer Einblick in das Spieleverzeichnis:
- Tanks (Battle City ohne Copyright. Irritierend für uns Kinder ist nur, dass man gar nicht tanken muss)
- Jump (Ein – wie der Name sagt – Jump’n‘Run, das keinem von uns Kindern so richtig Spaß gemacht hat, weil es viel zu schwer war. (Anmerkung aus dem Jahr 2002: Ich habe erst jetzt bei meinen Recherchen herausgefunden, dass es sich um „Jet Set Willy“ gehandelt haben muss))
- Ping (Pong mit nur 6 Levels. Viel zu kurz und viel zu leicht, aber vielleicht sind wir einfach nur besonders gut?)
- Space Invaders (Mein Vater berichtet, dass er das Spiel früher gespielt hat. Das KANN ja wohl gar nicht sein!)
- Snack Man (Der zugegeben beste PacMan-Klon)
- Breakout (À la Atari)
- Explosion (Sehr gut kopiertes Bomberman – leider mit viel zu wenig Levels)
- Pinball (Ebenfalls ein Klassiker, der keinem weh tut)
Wieso hab‘ ich mich eigentlich so aufgeregt? Bisher ist alles in Ordnung und wir haben sogar ein paar kurzweilige Stunden verbracht. Wir klicken also frohen Mutes weiter, auf der Suche nach weiteren guten Games – immerhin liegen da noch 992 vor uns.
Wir blättern durch das Inhaltsverzeichnis, öffnen noch weitere einigermaßen charmante Spiele und blättern gespannt weiter. Irgendwann stutze ich irritiert und blättere weiter… immer schneller.
Ich blättere, klicke und öffne so lange Dateien, bis ich die Realität nicht mehr leugnen kann und mein Urvertrauen in die Menschheit (und die Mathematik) bis ins Mark erschüttert wird:
Die Spiele wiederholen sich.
Sie wiederholen sich!
Phase 4: Tiefe Enttäuschung
Je weiter man im Verzeichnis der Spielebibliothek voranschreitet, desto abstruser werden die Spielenamen. Zuerst hätten wir die erste Weiterentwicklungsstufe: „Super Tanks“, „Super Ping“, „Super Explosion“ (you get the idea). Im nächsten Wachstumszyklus stoße ich auf „Mega Snackman“ und all seine Mega-Kollegen, später finde ich „Power Pinball“ und Konsorten, danach stolpere ich über „Wild Breakout“ und „Macro Invaders“.
Die Namen werden zwar abstruser, aber nach dem Laden zeigt sich, dass es sich weiterhin um die gleichen 15 Spiele handelt. Manchmal sind die Level geshuffelt, mal sind die Farben verändert, aber es sind und bleiben die immergleichen, billigen, dummen Spiele, die wir schrill kommentierend durchblättern.
Ich kann es nicht glauben. Die glücklichen Kinder auf der Verpackung… war das etwa gar nicht echt? All die Versprechen von Spaß und guter Zeit… alles Lügen? Verdammt!!!!
Phase 5: Akzeptanz
Und so liebe Kinder, erfuhr ich das erste Mal, was die Redewendung „Achterbahn der Gefühle“ eigentlich so bedeutet. Nach heftiger Enttäuschung und kurzer Erleichterung brach mein geschundenes Kinderherz in 1000 kleine Teile – wobei ich ja nun weiß, dass diese Zahl sehr dehnbar zu sein scheint.
Das Beitragsbild ist rein fiktiv – ein „Entertainment Baby“ hat hoffentlich nie ein Kind enttäuscht, sondern ist rein meiner Phantasie und Photoshop entsprungen. Aber: Diese ominöse, albtraumhafte Konsole meiner Kindheit gab es tatsächlich, auch wenn ich mich nicht mehr an den richtigen Namen erinnern kann. Ich kann mich jedoch noch sehr gut entsinnen, dass die Optik sich sehr stark am Sega Mega Drive orientierte und meine Familie das ungeliebte Ding in den nächsten Jahren immer mit in den Sommerurlaub genommen hat, um es dort in der Küche meiner Oma an den Fernseher anzuschließen (denn außer Strom und fließend Wasser gab es dort nämlich nichts an technischen Annehmlichkeiten) – denn „wenn das Teil kaputt geht, ist es ja nicht schlimm“.
Und so kam es auch: irgendwann im Jahr 1995 habe ich das Gerät zum letzten Mal gesehen. Keiner kann sich mehr erinnern, was genau damit geschah – aber der Nachmittag, an dem wir kreischend und entsetzt durch die Spiele blätterten, wird für immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. 😀
Ich hoffe, ihr hattet auch ein bisschen Spaß mit dieser eher verschwommenen Anekdote aus meinem Leben – bitte erzählt mir von euren Erfahrungen, falls euch der (groß)elterliche Sparsinn auch mal erwischt hat und ihr deshalb 6 Monate mit einem kaum erkennbaren, sehr peinlichen Super Mario auf dem Schulranzen herumirren musstet.
Schreibe einen Kommentar