Die NASA twittert soeben, der unerschütterliche Mars Rover hätte die nächsten dutzend Millimeter auf dem Weg zum Aeolis Mons geschafft – mein Dreitagebart knirscht männlich, denn ich lächle milde über dieses Ereignis, das sich gerade mal neun Monate von der Erde entfernt zugetragen hat.
Plötzlich ein schrilles Warnsignal, gleißend-bunte Anzeigen tanzen über meine schnittige Schutzbrille: ein neues Artefakt einer 700 tausend Jahre alten Kultur verspricht der Bordcomputer meines verlässlichen Scoutcraft, das mich zig-tausende Lichtjahre jenseits der Milchstraße zu einem legendären Ort in eine weit entfernte Vergangenheit gebracht hat: Willkommen im Jahr 1985 und herzlichen Glückwunsch dem Computerspiel-Klassiker Koronis Rift zum 30-jährigen Jubiläum.
Was hatte man in den frühen 1980ern als Computer- und Videospieler nicht schon alles an Abstraktion über sich ergehen lassen. Mit einer gehörigen Portion guten Willens bildete man sich ein, auf dem Schirm zu erkennen, was findige Texter und Illustratoren auf Packungen und in Anleitungen zu vermitteln versuchten: Schlösser, Drachen, Welten, Raumschiffe, Abenteurer – der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt, im Gegensatz zu jenen typisch groben Pixelmassen, die der Spieler zu kontrollieren gedachte. Was für ein Moment also, da 1985 Koronis Rift in den 64KB großen Speicher geladen wurde.
Das Ladebild erscheint auf dem Schirm, begleitet vom sonoren Schnurren der Diskettenstation.
Man sieht ein Gefährt auf Raupen, einen Laserblitz, eine böse, fliegende Untertasse, zerklüftete Landschaften: verantwortungsvoll federn die Entwickler den Schock der drohenden kognitiven Dissonanz durch eine verpixelte Annäherung an die Schachtelillustration ab, suggerieren eine Spielewelt mit den überschaubaren Mitteln der 8-Bit Computer, die das eigentliche Programm erstens nicht so detailliert, zweitens nicht in Echtzeit bewegt und drittens schon gar nicht von mitten im Geschehen darstellen wird. Und was soll es denn schon anderes sein, als ein Shoot-Em Up, Erinnerungen an Moon Patrol werden wach.
Koronis Riftwar einfach „echt“ und ist es heute noch, eine Welt, die der Spieler verstehen lernen musste, um zu überleben.
Andreas Wanda
Doch immerhin steht da bescheiden im Bildschirmeck „Lucasfilm Games“, lau weht doch eine Brise Kinospektakel zwischen dem bereitgestellten Glas Milch und dem Teller Schokoplätzchen durch, als die Diskettenstation verstummt…
…eine reißerische Musik schnalzt aus den Lautsprechern, die eilig den staunenden Computerspieler wohlwollend zum Helden krönt. Der Spieler findet sich wie von Zauberhand versetzt im Cockpit des Scoutcraft wieder: mehrere Kontrollmonitore synchronisieren sich und der Schriftzug Koronis Rift beansprucht schmuck in Orange und Rot schraffiert die Bildschirmmitte.
Viele Anzeigen und Symbole, die meisten noch nicht befüllt oder ausgegraut, kündigen eine Komplexität jenseits der High Score Liste an, schließlich dreht sich alles um die große Sage vom Koronis Rift, einem längst vergessenen Ort, wo die „Ancients“, eine Gruppe von 13 außerirdischen Völkern, ihre Technologie und Waffen zu testen pflegten. Besagte 700.000 Jahre später leben die Ancients weiter in wahnwitzigen Legenden von unglaublichen Technologien und noch mächtigeren Waffen.
Wenngleich die Waffentests die von Gräben („rifts“) zerklüftete Oberfläche des Planeten Koronis für Ewigkeiten verstrahlt und unbewohnbar gemacht haben, so waren die Ancients zumindest weise genug, ihre technologischen Errungenschaften von „Guardians“ bewachen zu lassen: jene fliegende, waffenstarrende Untertassen aus dem Ladeschirm, die nichts Gutes in den insgesamt 20 Rifts im Schilde führen.
Im letzten Graben, so deutet es das Manual schicksalsverheißend an, soll die Guardian Base errichtet worden sein, Fertigbauteil und so weiter, vielleicht reicht der Mut des Computerspielers aus, diese auch noch fein säuberlich abzutragen. Doch jetzt erst einmal den Feuerknopf betätigen, schon klinke ich mich samt Modular Planetary Surface Rover aus meinem im Orbit von Koronis kreisenden Scoutcraft aus: Die Schutzbrille sitzt, die warme Milch schmeckt, unsagbare technologische Schätze winken.
So manchen knallharten Weltraumplünderer bleibt das Schokoplätzchen trotz Milch im Halse stecken da der Rover flüssig auf die Oberfläche gleitet. Der Computerspieler findet sich mitten im Geschehen, umringt von Gebirgsketten.
FRAKTALER ZAUBER
Wer 1982 gelegentlich ins Kino ging, weinte nicht nur einer Schlüsselfigur des Star Trek-Universums nach, sondern sprach aufgeregt über den sogenannten Genesis-Effekt in Star Trek II – Der Zorn des Khan: in einer atemberaubenden Kamerafahrt über eine Planetenoberfläche sieht der ungläubige Kinogeher eine Welt sprichwörtlich entstehen.
Die Lucasfilm Computer Graphics Division, das spätere Pixar, setzte sogenannte Fraktalen ein, „gebrochene“ Werte, die gänzlich andere Gebilde als „ganze“ wie in allen geometrischen Formen erzeugen, die Gebirgsformationen nicht unähnlich waren. Der von Benoit Mandelbrot 1975 geprägte Begriff „Fraktalen“ erlangte durch Star Trek II große Bekanntheit in der Öffentlichkeit, nur wenige Jahre später machte Lucasfilm Games Mathematik in den eigenen vier Wänden „erlebbar“. Mehr über Fraktalen auf Wikipedia.
Unglaubwürdig bemüht man die Mikroschalter des robusten Competition Pro, mal links, mal rechts, es ist unfassbar, wie die Spielegrafik jene des Ladebilds um Längen schlägt, denn wir sehen uns in Echtzeit butterweich animiert auf diesen fernen Planeten um. Ehrfürchtig genießt man so die erste Fahrt über einen Hügel – im Hintergrund, sanft in Grautönen abgestuft – erheben sich weitere Gebirgszüge, vergessen sind Assoziationen zu banalen Geschicklichkeitstests wie Moon Patrol, denn ich sitze zweifellos in meinem Modular Rover – Mark IV, versteht sich – und werde jedes der zwanzig Rifts nach Reichtümern durchkämmen. Sagenhaft, wie die perfekt realisierte Ego-Perspektive das Kinderzimmer, wo gerade erst eben die Wickie-Bettdecke die schützende Hand auf ein Schulkind legte, zu einem hochtechnisierten Fahrzeug auf gefährlicher Mission verwandelt.
Aus einer gemütlichen Bergfahrt auf der Suche nach außerirdischem Enzian wird vorerst nichts, frech schneidet ein Guardian meinen Weg ab.
Entschlossenen Blickes ziehe ich das Fadenkreuz auf den Störenfried, eine Explosion wie in einer Duplo-Fabrik: bunt, klotzig, überaus zufriedenstellend. Schon ist der Weg frei zu einem „Hulk“, Fahrzeugüberreste, die ich wegen der hohen Strah-lung nur per Sonde erkunden kann. Kurze Zeit später finde ich mich wieder in meinem Scoutcraft und präsentiere stolz das Fundstück meinem Wissenschaftsroboter Psytech 7500, der mir wohlgesinnt tief in die Augen blickt: Ego-Perspektive, wo man auch hinsieht, keine blanken Optionsschirme, sondern ein allerliebst animierter Roboter, sein Laborrollband, das Güter aus dem Rover in das Lager des Scoutcraft transportiert und natürlich die geplünderten Technikmodule: Koronis Rift verpasst keine Gelegenheit, seine Geschichte bestmöglich zu inszenieren.
Das aktuelle Technik-Juwel ist kaum auf dem Rollband platziert, erkennt Psytech prüfenden Blickes, dass es sich um einen hochwertigen Laser handelt: ob ich ihn gleich zu Geld machen wolle, fragt der wissende Roboter per Textausgabe, aber ich möchte abwarten, lasse das Teil ins Lager rollen: Wenn das erste Fundstück schon im ersten Rift so wertig ist, was mag sich in den weiteren Schluchten noch verbergen?
Schnell schiebe ich mir die Brotkasten-ähnliche Konsole meines Rovers zurecht und kehre wagemutig auf die Oberfläche zurück.
Ein bunter Laserstrahl einer Guardian-Untertasse touchiert unsanft meinen Modular Rover. Blitzartige Reflexe schießen durch meine durchtrainierten Arme, die Ärmel meiner Jumpsuit lässig hochgekrempelt, doch die Schilde der Untertasse zeigen sich unbeeindruckt, der Traum vom reichen Weltraumhelden zerpixelt, die ernüchternde Rückkehr in ein Optionsmenü deutet Nachholbedarf an: Hätte ich doch bloß das Laser-Modul von vorhin gleich verbaut, schließlich habe ich mir – gegen Aufpreis beim Kumpel auf dem Planeten ums Eck – einen Modular Planetary Rover geleistet. So weit weg von zuhause gelten eben nicht nur die vertrauten Regeln der Feuerknöpfe…
NOAH FALSTEIN
Koronis Rift entwickelte der heute Leiter der Google Games Division, Noah Falstein. Kein geringerer als Ron Gilbert schuf die beeindruckende C64-Portierung des zweiten Fraktalspiels aus dem Hause Lucasfilm Games, das wie schon Rescue on Fractalus zuerst auf dem Atari XE/XL erschien, wurde in Europa von Activision publiziert, in den USA erschien das Fraktalgrafik-Spiel bei Epyx, den Schöpfern der Summer Games-Reihe.
Open World und Customization: Koronis Rift ist ein völlig unprätentiöser Pionier eines heute allgegenwärtigen Genres. Entwickler Noah Falstein zieht konsequent die phänomenale Ego-Perspektive durch, verabschiedet sich also bewusst vom damals typischen Spieler-Proxy, einer wackeligen Pixelgestalt, hält dem Käufer des Programms per Spieleschachtel sein Spiegelbild entgegen und lädt ein, den Rover zu besteigen und seine von klaren Regeln definierte Welt zu erforschen.
Der Entdecker wird durch ein umfangreiches Repertoire an außerirdischen Völkern und Technologien ständig belohnt und geschickt gelockt: es ist bekannt, dass jedes der dreizehn Völker ganze sieben Systemgattungen genutzt hat, aber „es existieren noch weitere, die erst identifiziert werden müssen„, so die Anleitung, und diese noch dazu in weiteren sechs Ausprägungen, dargestellt durch die Farben Rot, Orange, Gelb, Grün, Braun und Purpur. Eigentlich handelt es sich um „Frequenzen“, denn man habe es doch mit „Chromoquantisation“-basierter Technologie zu tun.
Koronis Rift bietet also auch diese griffige interne Logik, die einem das Gefühl von Technikwissen vermittelt – und damit dem wochenlangen Experimentieren keine Grenzen setzt, gleichzeitig die morgendlichen S-Bahnfahrten in die Schule oder Arbeit für unbedarfte Zuhörer noch kurioser gestaltete: während die einen mit Europes „Final Countdown“ am Walkman rocken, die anderen über die finsteren Thargoiden flüstern, so war es gut möglich, dass zwei Reihen weiter hinten über die Vorzüge eines grünen Lasers auf Rift 8 diskutiert wurde.
So „versteckt“ und nicht einfach plump auf die Packung gedruckt die Customization-Mechanik auch war, so prickelnd und spielentscheidend ist diese bewusste Assoziation zum eigenmächtigen Tunen, dem Umstand, dass der Spieler nicht einfach „Extrawaffen“ vorgeschrieben bekommt, sondern vollkommen eigenständig entscheiden darf, ob eine Waffe, eine Ausrüstung oder was auch immer in den Steckplätzen des Rovers verbaut werden, und sich diese je nach Kombination anders verhalten.
Laut Falstein finden sich in jedem Rift acht Hulks, also sind potentiell 160 Ausrüstungsgegenstände versteckt. Diese spieleigene Freiheit schafft Nähe zum fiktionalen Fahrzeug, zu diesem damals unglaublichen Realismus: dieser Rover gehört mir, dem Eigentümer dieser 5¼-Diskette / Kassette.
Nach Herzenslust kurve ich nicht nur schneidig über die hügelige Oberfläche, nutze diese auch gekonnt zur Deckung, sondern schraube wie es mir beliebt an meinem fahrbaren Untersatz herum, als wäre ich Han Solo höchst persönlich: „I made a few special modifications myself“ hört man sich stolz reden. Schließlich stellt man sich bald die Frage, was tun, wenn sich die leckeren Ancients-Bauteile im Lagerraum stapeln, weil mir die Steckplätze ausgehen? Lange vor Soundblaster, CD-ROM, 3D-Beschleuniger-Karten und Wasserkühlung konnte man auch auf seinem C64/Atari XL/XE, also natürlich im Modular Planetary Rover, nicht genug Erweiterungsschächte haben. Auch der Stratege ist gefragt.
30 Jahre ist es also her, da Koronis Rift in die Regale des Softwarehändlers geschlichtet wurde, in seiner schönen Science Fiction Packung ein Datenträger mit mehreren Dutzend Kilobyte bespielt, Datenmengen gerade mal so groß wie eine durchschnittliche E-Mail Signatur eines Unternehmens.
THE EIDOLON
Koronis Rift war Teil der zweiten Lucasfilm Games Veröffentlichungswelle, The Eidolon hieß das andere Spiel, das mit einer quasi „invertierten„ Fraktalgrafik die Illusion einer Tunnelerforschung in Echtzeit erzeugte.
In dem vom Charlie Kellner designten Spiel verirrt sich der Spieler in ein unheimliches Paralleluniversum von Kobolden und mehrköpfigen Drachen, nachdem man versehentlich ein mysteriöses Gefährt in Betrieb genommen hat – wie gut, dass der Spieler zumindest vorausschauend genug war, die umfassenden Eidolon-Notizen des Erfinders dieses Titelgebenden Geräts einzustecken. The Eidolon kann als erster „echter“ Ego-Shooter gesehen werden und das noch dazu auf überschaubar leistungsstarken 8-Bit Rechnern. Mehr zu The Eidolon im C64-Wiki.
Dennoch begeistert das so ungemein tiefgründige Spiel mit großem Langzeitspielwert: Wie ungewöhnlich jenes Programm aus dem Norden Kaliforniens war, lässt sich erahnen, wenn man bedenkt, dass damals ein Spiel gewöhnlich ein einzelnes Genre bedienen konnte: wer viel Handlung und Erzählung suchte, griff zum Text-Adventure, wer mal die Welt vor garstigen galaktischen Finsterlingen befreien wollte, lud ein Shoot-‚Em Up, sollte es Strategie sein, holte man sich eben ein Strategiespiel ins Haus.
Die Pionierleistung Noah Falsteins bestand bei der Entwicklung von Koronis Riftin der fast selbstverständlichen Verknüpfung von Handel-, Abenteuer-, Aufbau- und Action-Elementen in eine bis heute unglaubliche technische Umsetzung. Es war seiner Zeit sogar so weit voraus, dass sich der sonst so wortgewandte Heinrich Lenhardt geschlagen geben musste: „Gute Fraktal-Grafik, phantastische Animation, interessante Story, Action, Fliegen, Strategie, Ballern, Nachdenken…Ufff! […] Koronis Rift erfüllt so ziemlich alle Anforderungen, die ich an ein gutes Computerspiel stelle.“ (S. 113, Happy Computer Spielesonderheft 2/1986).
Keine Täuschungen mit Sprite-Skalierungen eines Skyfox von Electronic Arts, keine flache Einbahnfahrt eines Hang On von Sega, die alle mit banalen 2D-Spielereien bloß vorgaben, den Spieler in dreidimensionale Welten einzutauchen.
Als „3D“ noch dazu für genüssliches Abenteurern in isometrischen Spielearealen gehalten wurde, war Koronis Rift einfach „echt“ und ist es heute noch, eine Welt, die der Spieler verstehen lernen musste, um zu überleben und sich zu bewähren. Und da ist es wieder: ein gelber Laserblitz eines Guardian-Schiffes bemüht meine geschickt gewählten gelben Schilde.
JENSEITS DER FRAKTALEN: POINT & CLICK
Nach Rescue on Fractalus, Koronis Rift und The Eidolon wurde es merkbar still um den mathematischen Zauber. Skalierungsalgorithmen wurden für Noah Falsteins P. H. M. Pegasus (1986) und Lawrence Holland’s Strike Fleet (1988) weiterentwickelt, sowie auch im ersten Grafikadventure von Lucasfilm Games, der Adaptation des gleichnamigen Films, Labyrinth.
In Labyrinth kann der Spieler seine Figur sanft skalierenden in die Ferne und in den Vordergrund zurück steuern. Aber von fraktalen Welten keine Spur. Wie David Fox Andreas Wanda per Twitter mitteilte, hatte man an Fraktalen das Interesse verloren, in der Tat wurden bei Lucasfilm Games nebst kernigen Simulationsprogrammen die ersten wahren Point & Click Abenteuerspiele vorbereitet, Maniac Mansion und Zak McKracken, die 1987 und 1988 erscheinen würden.
Der schmucke neue Laser, den mir Psytech 7500 handverlesen und fachmännisch verbaut hat, tut seine Pflicht. Zufrieden nippe ich an meinem Milchglas, als die bunten Pixelbrösel wie Confetti vom Koronis Himmel regnen. Aber was ist das? Just in diesem Moment twittert NASA aufgeregt, man hätte jeden Kontakt zum Mars Rover Curiosity verloren – ob es sich beim Koronis Rift doch um den guten alten Aeolis Mons auf dem Mars handelt? Psytech 7500 weiß bestimmt eine Antwort wessen Brösel ich gerade eben goutierte.
Während die Überreste des vermeintlichen NASA-Rovers gemächlich auf dem Fließband in Psytechs Labor einrollen, möchte ich die Auszeit nutzen, um mich bei Noah Falstein und seinem Team zu bedanken für ein Spiel, das so auch 2015 hätte erscheinen können, denn es bot Spielmechanik und -tiefe, die sprichwörtlich aus der Zukunft kamen.
Zweifellos wird es die 700.000 Jahre alten Ancients überdauern, mein geliebtes Koronis Rift.
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