In the beginning …
Anfang der Achtzigerjahre: Videospiele sind im Arcadebereich den Kinderschuhen entschlüpft, Pac-Man und Mario (noch heißt er offiziell Jumpman) aus Donkey Kong sind die ersten Stars. Die Games für den Heimbereich stecken allerdings aus entwicklungstechnischer Sicht noch mitten in diesen Schuhen.
In dieser Phase sorgen vermehrt die Textadventures von Infocom für Furore. Entgegen den gängigen Klischees muss man hier nicht liebeskranke Klempner über Gerüste laufen lassen oder zentnerweise Raumschiffe abschießen – nein, für diese Spiele wird noch nicht einmal ein Joystick benötigt. Nur die Tastatur, ein altersschwacher Fernseher und ein zerfleddertes Wörterbuch ´Englisch – Deutsch´ sorgen für stundenlangen Spielspaß. Abwechslungsreiche Handlungen, z. B. im Krimi, Sci-Fi- oder Fantasymilieu, gepaart mit intelligenten Rätseln, einem mächtigen Parser (jener Teil der Programme, der die Texteingaben des Spielers ´versteht´) und toller Aufmachung der Verpackungen bescheren diesen Programmen bald eine recht imposante Anhängerschar.
Für leise Kritik sorgt das Fehlen jeglicher Grafik sowie die manchmal sehr eingeschränkte Kommunikation mit anderen Charakteren im Spiel. Es gibt bereits wenige Versuche, dieses Genre mit Bildern aufzupeppen, beispielsweise durch „Mask of the Sun“ von Broderbund, welches durch seine Grafik eine tolle Atmosphäre aufbaut; leider sind Parser und Begleittexte nicht durchgehend überzeugend. „Asylum“ von Med Systems Software schafft es zu einer überregionalen Bekanntheit, ist aber letztendlich für damalige Verhältnisse zu unkonventionell, um mehr als eine Duftmarke zu setzen.
Dieser Mangel an Grafikadventures bringt pfiffige Geschäftsleute der US-Softwarefirma Spinnaker in einem Bostoner Vorort auf den Plan. Spinnaker, 1982 gegründet, ist bisher durch die Veröffentlichung von spielerischer Lernsoftware bekannt, kann also bereits etwas Erfahrung im Heimcomputersektor vorweisen. 1984 kapseln sie das Tochterunternehmen Trillium ab. Um Copyrightschwierigkeiten mit einem Buchverlag gleichen Namens zu umschiffen, erfolgt noch im selben Jahr die Umfirmierung in Telarium. Spieleveröffentlichungen gibt es unter beiden Firmennamen.
Randnotiz: Parallel gründet Spinnaker das Tochterunternehmen Windham, welches von vorneherein auf die Entwicklung von kindergerechten Adventures ausgerichtet ist. Bekannteste Veröffentlichungen: „Below the Root“, „Treasure Island“, „Alice in Wonderland“, „The Wizard of Oz“.
Vater des Gedanken ist der Wunsch
C. David Seuss, der Präsident von Telarium, veröffentlicht per Newsletter im selben Jahr sein Konzept in Sachen Adventures:
„I´ve been a player for years…It´s no fun when the story suffers from a distinct lack of plot and character development. I wanted real character interaction, a chance to encounter new worlds, deal with new situations. Instead, I often spent hours playing ´guess what word the parser is looking for´ and solving trivial puzzles….In each Trillium game, you are the main character. All the puzzles you encounter are ones that would be encountered if you were really there“.
Um dieses anspruchsvolle Ziel zu erreichen, werden zeitgleich verschiedene Schriftsteller kontaktiert und zur Mitarbeit an den Spielen überzeugt. Diese Vorgehensweise wird Telariums Markenzeichen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass es sich um namhafte Autoren handelt, die zum größten Teil weltweit bekannt sind.
In einem sehr kurzen Zeitraum werden 1984 nacheinander die ersten Spiele für die Plattformen Apple II, Commodore 64 und DOS veröffentlicht, nämlich:
- „Amazon“ (mitentwickelt von Michael Crichton, basierend auf seinem Roman „Congo“)
- „Dragonworld“ (nach dem gleichnamigen Roman von Byron Preiss und J. Michael Reaves)
- „Fahrenheit 451“ (mit Ray Bradbury wird von Telarium einer der prominentesten Sci-Fi-Autoren überhaupt verpflichtet)
- „Rendezvous with Rama“ (Arthur C. Clarke ist sicherlich nicht minder prominent)
- „Shadowkeep“ (Mix aus Rollenspiel und Adventure unter Mitwirkung von Alan Dean Foster)
Ob es taktisch und verkaufstechnisch klug ist, diese Programme mehr oder weniger in einem Zug zu veröffentlichen, mag dahingestellt werden. Heutzutage wäre so eine Strategie sicherlich undenkbar.
Die Adventures (den Ausreißer „Shadowkeep“ mal außen vor gelassen) zeigen im Aufbau einige Gemeinsamkeiten. Im oberen Drittel des Bildschirmes befindet sich die fast durchgehend ansehnliche Grafik, darunter der Text. Vor Beginn des Spieles kann ein Demo mit Erläuterungen zur Story abgerufen werden, während des Gameplays gibt es wenige spärliche Soundeffekte. Manche Spiele, „Rendezvous with Rama“ beispielsweise, enthalten kleine Arcade-Spielchen, über deren Sinn und Unsinn man streiten kann und soll.
Die Verpackungsaufmachung zum Aufklappen erinnert an ein Buch, ist sehr geschmackvoll mit zusätzlichen Grafiken, Fotos und Collagen aufgemacht und enthält eine umfangreiche Anleitung mit einer Liste der Wörter, die der Parser versteht. Dies ist sehr hilfreich und verhindert die ein oder andere Sackgasse. Andererseits wird deutlich, dass in dieser Hinsicht die Konkurrenz von Infocom nicht überflügelt werden konnte. Dazu ist der Parser nicht umfangreich genug, auch wenn eine exaktere Kommunikation mit anderen Charakteren im Spiel möglich ist, was ja eines der Hauptziele der Spielemacher darstellt.
Punkten können die Amerikaner definitiv in Sachen Spielatmosphäre, die neben der tollen visuellen Präsentation insbesondere durch die dichte Lyrik erreicht wird. Dies gibt Kritikern Nahrung, die bemängeln, dass es manchmal zu viel zum Lesen, aber zu wenig zum Spielen gibt, und mit der geringen Objektorientierung der Adventures hadern. Darüber hinaus sind insbesondere die Ladezeiten auf dem C64 sehr lang und stören mitunter erheblich den Spielfluss. Bemerkenswert ist der damalige Umfang der Spiele, „Fahrenheit 451“ z.B. nimmt für die C64-Version vier Diskettenseiten in Anspruch.
Der Zeit durchaus voraus
Die Handlungen der Programme sind fordernd und anspruchsvoll, was bei den mitwirkenden Stars der fantastischen Literatur kein Wunder ist. „Amazon“ ist von Crichton nach Motiven seines Romans „Congo“ gestaltet – das Intro der Überwachungsmonitore stellt eine kleine cineastische Sensation dar (im Kontext der Zeit betrachtet – nicht vergessen, wir befinden uns im Jahre 1984). „Fahrenheit 451“ erzählt die Geschichte des gleichnamigen Romans, allerdings nach seinem Ende als Sequel. Dieses war von Bradbury gewollt und auch exklusiv mitkonzipiert. „Shadowkeep“ gilt als erste Literaturadaption eines Computerspieles, lange vor Warcraft-Romanen oder ähnlichem. Und für „Rendezvous with Rama“ schrieb Clarke extra das Ende um.
Hier zeigen sich die beiden unterschiedlichen Vorgehensweisen bei der Spielerstellung. Entweder steuern die Autoren die Texte direkt bei, oder aber diese werden von Telarium in enger Abstimmung mit den Schreibern gestaltet. Begleitet werden die Veröffentlichungen von zahlreich geschalteter Werbung in den US-amerikanischen Printmedien, darüber hinaus gibt es sogar einige Merchandiseartikel wie Jacken und Shirts („Montag lives“) zu erwerben.
In Deutschland werden die Telariumprodukte im Frühjahr 1985 durch einen umfangreichen Bericht der Happy Computer bekannt, der „Fahrenheit 451“, „Rendezvous“ und „Amazon“ genauer unter die Lupe nimmt. Boris Schneider und Heinrich Lehnhardt machen aus ihrer Begeisterung für die Spiele keinen Hehl und schreiben einen sympathischen und begeisternden Artikel.
Im späteren Verlauf des Jahres 1985 werden zwei weitere Spiele herausgebracht: Zum einen „Perry Mason and the Case of the Mandarin Murder“ nach Motiven bzw. auf Grundlage der Bücher von Erle Stanley Gardner. Bei der Entwicklung dieses Programms kann der Autor nicht mehr behilflich sein, da er bereits 1970 verstarb. Zum anderen erscheint „Nine Princes in Amber“, basierend auf den ersten beiden Romanen des „Amber“-Fantasyzyklus von Roger Zelazny, der an dem Spiel auch mitwirkt.
Ähnlich aufgebaut wie die Vorgänger können Verbesserungen beim Parser ausgemacht werden. Insbesondere bei Perry Mason ist die Kommunikation mit anderen Charakteren in einem Umfang möglich, den es bis dato nicht gibt. Aufgebaut sind die Produkte nach bekanntem Muster: Verpackungen ansehnlich gestaltet, sehr schöne Grafiken, anspruchsvolle Texte, stimmige Atmosphäre – und auf dem C64 weiterhin quälende Ladezeiten.
Mehr Schein als Sein?
Bei genauerer Betrachtung kann insbesondere „Nine Princes“ aber nur bedingt überzeugen. Beworben werden nahezu vierzig (!) verschiedene Lösungswege und zehntausende verschiedener Spielsituationen. Hier merkt man wiederholt, dass die Ansprüche der Entwickler mit der damaligen, noch arg limitierten, Hardware kollidieren. Die Lösungswege unterscheiden sich nur minimal, je nachdem, wie und wen der statischen NSCs (Nicht-Spieler-Charaktere) man vorher angegrinst, angelächelt oder angespuckt hatte. Die Rätsel im Spiel sind oftmals eher globalerer Natur und haben weniger mit praktischen Problemen zu tun. „Perry Mason“ funktionierte da in nahezu allen Belangen besser und stellt vielleicht den Höhepunkt der Telarium-Schaffenskunst dar.
Auch diese Spiele kommen in der Kritik durch die Happy Computer (erneut Schneider und Lehnhardt) gut weg. Es ist nur schwer zu beurteilen, wie populär diese Spiele im deutschsprachigen Raum waren bzw. wie häufig sie verkauft wurden. Wenn man Schulhofgespräche sowie veröffentlichte Tipps und Komplettlösungen in den Videospielmagazinen als Indikator nimmt, hielt sich die Beliebtheit/Bekanntheit wohl arg in Grenzen. An den Plattformen wird es nicht gelegen haben, denn der Großteil der Spiele wurde für die damaligen gängigsten Systeme umgesetzt, nämlich wie bereits erwähnt für den C64, darüber hinaus für den Apple II, DOS, MSX (gerade diese Version imponiert grafisch besonders) und den Atari ST.
Das Ende
Und ganz abrupt endet hier auch fast die Geschichte von Telarium. 1986 erscheint der Krimi „The Scoop“ nach einer Romanvorlage von Agatha Christie. Die Präsentation wird verändert und erinnert dank einer direkt steuerbaren Figur an die Frühwerke von Sierra. Das Spiel verschwindet nahezu unbemerkt schnell wieder in der Versenkung, da es technisch arg überholt wirkt und kaum beworben wird.
Eine offizielle Pressemitteilung über das Ende von Telarium gibt es anscheinend nicht. Die Vermutung liegt nahe, dass nach Begutachtung der Bilanzen vom Mutterkonzern beschlossen wurde, das Baby sanft einschlafen zu lassen. Dieses geschieht 1987; es hat den Anschein, dass in dem Jahr auch das Ende von Windham besiegelt wurde. Weitere Spiele in Planung bzw. Entwicklung (Gerüchten zufolge unter Beteiligung der bekannten Autoren Philip José Farmer und Robert A. Heinlein) schaffen es nicht mehr bis zur Veröffentlichung. Spinnaker Software wird Mitte der neunziger Jahre letztendlich von SoftKey geschluckt.
Über die Gründe der Erfolglosigkeit von Telarium kann man nur spekulieren. Vielleicht waren die Spiele wirklich zu anspruchsvoll für damalige Zeiten, vielleicht gab es tatsächlich zu viel Text und zu wenig Spiel, vielleicht waren die Ziele bei noch nicht ausreichend leistungsfähiger Hardware zu hochgesteckt, die Produkte zu teuer, die Entwicklungskosten und die Honorare für die Autoren zu astronomisch…
Die Frage, welchen Einfluss die US-Amerikaner mit ihren Veröffentlichungen auf die Entwicklung des Adventuregenres ausgeübt haben, ist nicht leicht zu beantworten. Spätere Veröffentlichungen von anderen Szenegrößen der Sparte wie Magnetic Scrolls oder Legend zeigen keine sichtbaren Effekte. Vermutlich sind die Telarium-Spiele zu speziell und für eine weiterreichende Beeinflussung nicht bekannt und erfolgreich genug. An den guten Ideen und besonderen Inhalten wird es sicherlich nicht gelegen haben.
Durch die ersten Adventures von Lucasfilm/-arts (1986 „Labyrinth“, 1987 „Maniac Mansion“) mit ganz neuen Bedienungskonzepten beginnt schon bald eine neue Ära und der Schwanengesang der bis dahin gängigen Text-/Grafikadventures wird früher eingeläutet, als es manchem lieb ist.
In unserem Herzen lebt ihr weiter
Allein aufgrund der literarischen Konzepte hinterlassen die Veröffentlichungen von Telarium eine bemerkenswerte Spur in der Geschichte der Videospiele. Ein Anspielen lohnt sich immer noch jederzeit, besonders empfehlenswert sind „Dragonworld“ oder „Perry Mason“. Die Originale der Spiele sind zwar fast ständig bei eBay und Co. zu finden, haben mittlerweile aber einen stolzen Preis. Dank diverser Emulatoren sollte es jedoch kein Problem sein, diese tollen und ideenreichen Programme kennenzulernen. Und auf YouTube und weiteren Videoplattformen findet man genügend Stoff im Let´s-Play-Format. Probiert es aus und staunt, welche Wege die Videospielentwickler vor über 38 Jahren, also im Anbeginn der Zeit unseres Hobbys, ausprobiert haben.
Spielehistorie von Telarium/Trillium/Spinnaker/Windham
- Amazon (1984)
- Dragonworld (1984)
- Fahrenheit 451(1984)
- Rendezvous with Rama (1984)
- Shadowkeep (1984)
- Below The Root (1984)
- Nine Princes in Amber (1985)
- Perry Mason: The Case of the Mandarin Murder (1985)
- The Wizard Of Oz (1985)
- The Scoop (1986)
- Treasure Island (1986)
Weiterführende Links
- Telarium auf Mobygames
- Firmenportrait Telarium in der Wikipedia
- Firmenportrait Spinnaker in der englischsprachigen Wikipedia
Spielekritiken aus der Happy Computer
- Firmenportrait, Tests zu Amazon, Fahrenheit 451 und Rendezvous With Rama auf Kultboy.com
- Testbericht zu Perry Mason auf Kultboy.com
- Testbericht zu Nine Princes In Amber auf Kultboy.com
- Testbericht zu Dragonworld auf Kultboy.com
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