Immersion. Ja, es wurde viel darüber geschrieben und viel diskutiert. „Immersion beschreibt den durch eine Umgebung der Virtuellen Realität (VR) hervorgerufenen Effekt, der das Bewusstsein des Nutzers, illusorischen Stimuli ausgesetzt zu sein, so weit in den Hintergrund treten lässt, dass die virtuelle Umgebung als real empfunden wird. Ist der Grad an Immersion besonders hoch, wird auch von ‚Präsenz‘ gesprochen.“
Das sagt Wikipedia. Streng wissenschaftlich. Immersion, umgangssprachlich lässt es sich am ehesten mit „Eintauchen“ übersetzen, ist ein Mittel, das schon kulturwissenschaftlich im Kontaxt mit Filmen diskutiert und ergründet wurde. Nun sind also Computer- und Videospiele dran: In den 1990er-Jahren die ersten First-Person-Shooter als erste Gehversuche, den Spieler mittels eine Egoperspektive in die Welt hineinzuziehen. in den 2010er-Jahren nun also der aufkeimende Versuch, über virtuelle Realitäten die Verschmelzung zwischen Spieler und Spielfigur bis zur Perfektion voranzutreiben. Vor kurzem hatte Ferdinand Müller auf VSG in einem hervorragenden Text das Phänomen der Immersion bei Computer- und Videospielen zu ergründen versucht.
Dabei fiel auf: Immersion in Computer- und Videospielen aufzubauen, ist nur dann erfolgreich, wenn die Bestandteile des Spiels sich zu einem immersiven Erlebnis summieren. Als elementarer Bestandteil von Computer- und Videospielen wird die Grafik des Spiels zum entscheidenden Beitrag stilisiert, ob und wie sehr ein Spiel immersiv ist. Dabei ist für grafische Immersion gar kein großer AAA-Bombast vonnöten, das beste Beispiel findet sich auf Sonys kostenlosem Playroom VR für das VR-Headset der PS4: das kleine Jump’n’Run Robots Rescue.
Was Sony hier an Plastizität und Immersion auffährt, ist phänomenal (Knuddelfaktor inklusive) und schlägt mühelos vermeintliche VR-Zugpferde, die 60 Euro kosten. Dieser Titel hätte ein abendfüllender Titel werden sollen, kein Mittagspausen-Spiel. Robots Rescue bietet keine allzu aufwändige Grafik, präsentiert sich unauffällig als 3D-Jump’n’Run, nutzt VR aber gnadenlos gut aus. Streift der Blick oben links in die Ecke, sieht der Spieler da noch eine kleine Plattform mit einem Goodie, die beim sturen Blick geradeaus entgangen wäre. Läuft der Spieler an zwei übergroßen Rädern vorbei, die pendelnd seinen Weg kreuzen (in der Absicht, Lebensenergie abzuzwacken), kann er, wenn er danach hinter sich schaut, diese Reifen von hinten sehen. Und entdeckt da einige Extras, versteckt hinter einem kleinen Vorsprung, die beim Vorwärtslaufen nicht sichtbar waren.
Zur Immersion trägt aber noch eine weitere, zentrale Spielkomponente entscheidend bei: Der Sound. Die Musikstücke und Soundeffekte können ein Spiel, das grafisch noch nicht einmal auf VR ausgelegt ist, zu einem immersiven Erlebnis machen lassen.
Braucht Immersion also überhaupt VR-Brillen und grafischen 3D-Bombast?
Sind nicht simpelste musikalische Begleitstücke schon geeignet, den Spieler trotz krümeliger Grafik in den Bann zu ziehen? Sein Spielerlebnis auf ein derart immersives Level zu heben, dass Wikipedia schon von „Präsenz“ sprechen würde? Und falls ja – welche Leistung muss Videospielmusik erbringen, damit der Spieler maximal eintauchen kann?
In den Kindertagen der Computer- und Videospielmusik gab es keine eigenen Komponisten. Der Programmierer (ja, es war damals wirklich nur ein einzelner Mensch, der ein komplettes Spiel erstellte) schuf die Sounds zum Spiel selbst – eher als Begleitung oder schmückendes Beiwerk. Das hatte bestenfalls unterhaltenden Charakter, doch wer das fiepende Gequäke eines PC-Speakers noch kennt, muss selbst die unterhaltende Komponente anzweifeln. Erst mit wachsendem Speicherplatz, vor allem mit Einführung der CD als Datenträger Anfang der 1990er Jahre, wuchs die Bedeutung von Computer- und Videospielmusik als immersivem Element. Plötzlich war orchestraler Bombast in Spielen möglich, eigene Komponisten kümmerten sich um die Sounds zum Spiel. Der Faktor Unterhaltung trat in den Hintergrund, den Sounds und Musikstücken wurde es immer mehr zur Aufgabe, die Spielerfahrung zu unterstützen.
Ein erstes Beispiel ist der 1996 erschienene Capcom-Klassiker Resident Evil. Der hatte eingeschlagen wie eine Bombe und versprach mit 3D-Grafik und realistischer Soundkulisse interaktive Gruselerlebnisse auf höchstem Niveau. Schnell wurde klar, dass alle Lobeshymnen berechtigt waren – auch wenn sich kaum jemand darüber klar war, was Immersion überhaupt ist.
Recht zu Beginn den Spiels spaziert der Spieler mit seiner Figur einen langen Flur im Herrenhaus herunter, akustisch lediglich begleitet von unheilschwangeren Streicherklängen und den Geräuschen seiner eigenen Schritte, die über den Korridor hallen. Schon zuvor hat das Spiel es geschafft, mit verschiedenen Mitteln eine beeindruckend fesselnde Gruselatmosphäre aufzubauen. Umso stärker ist jetzt der Fokus des Spielers auf das Bildschirmgeschehen, auf den Korridor, durch den nur die eigenen Schritte schallen. Und wenn der Spieler sich an eine Wand begibt, um einen Schrank zu verschieben, passiert es.
Mit einem lauten Klirren springt im Rücken des Spielers ein Hund durch das Fenster in der Wand, zu den finsteren Streicherklängen gesellen sich mit einem Mal schrille Akkorde, die den eigenen Adrenalinpegel noch mehr pushen. Instinktiv flüchtet man nach links um die Ecke den Flur herab, nur um dann festzustellen, dass unmittelbar vor der eigenen Spielfigur ein zweiter Hund mit ebenso lautem Klirren durch ein weiteres Fenster in den Flur gesprungen kommt.
Heutzutage nennt man einen solchen Schockeffekt einen simplen Jumpscare, aber vor über zwanzig Jahren war es Grund genug, sich vor Schreck fast in die Hosen zu machen. Und was hat das jetzt mit Immersion zu tun?
Resident Evil schafft es bis zu diesem Punkt, vor allem durch reduzierte und äußerst realistische Akustik, den Spieler völlig zu vereinnahmen. Es gab von professionellen Sprechern eingesprochene Dialoge, welche die digitalen Alter Egos erfahrbarer machten und die Empathie beim Spieler steigerten. Es gab realistische Geräusche, so klingen die splitternden Fenster tatsächlich wie splitternde Fenster. Die komplette Bedrohung in dieser Szene wird durch eine minimalistische Musikuntermalung perfektioniert. Der Spieler wird in das Spiel eingesogen, erfährt diese Beklemmung und Bedrohung förmlich am eigenen Leib. Und obwohl bewusst ist, dass permanent Gefahr lauert und diese jederzeit hereinbrechen kann, sitzt der Terror in der oben genannten Szene punktgenau und reißt den Spieler mit. Hier wird man sozusagen Opfer der akustischen Immersion.
Ein zweites Beispiel veranschaulicht akustische Immersion als Element der Spieldynamik. Kurz gesagt: Rhythmus und Tempo von Musik können die Spielweise des Spielers beeinflussen. Das funktioniert in mehrere Richtungen; so kann beispielsweise passende Musik in Rennspielen das Gefühl von Geschwindigkeit unterstützen. Das Rennspiel F-Zero (1991, Super Nintendo) demonstriert das mit seiner durchgängig temporeichen Musikuntermalung, exemplarisch an der Strecke Big Blue.
Das 16 Bit-Spiel möchte Geschwindigkeiten von 400 km/h aufwärts glaubwürdig machen, hat grafisch aber nur sehr begrenzte Mittel. Der schnelle Techno-Soundtrack unterstützt diesen Versuch, glaubwürdig Geschwindigkeit zu vermitteln und treibt den Spieler in seiner Spielweise an, bezieht ihn also im Sinne der Immersion immer tiefer in das Hochgeschwindigkeitsgeschehen auf dem Bildschirm mit ein.
Es gibt aber auch den gegenteiligen Effekt: Wenn die Dynamik der Musik nicht zur beabsichtigten Dynamik der Spielszene passt, kann der Spieler auch gebremst werden. Ein schönes Beispiel bietet hier der PC-Titel Descent II von 1996. Während die MIDI-Musiken für sich gesehen einen eher ernüchternden und wenig dynamischen Eindruck hinterlassen, existieren in der CD-Fassung des Spiels von verschiedenen Heavy Metal-Bands eingespielte Audiotracks, die eine extrem antreibende und anpeitschende Wirkung auf den Spieler entfalten.
Veranschaulichung: ein Beispielsong der CD Audio.
Veranschaulichung: die MIDI-Fassung.
https://www.youtube.com/watch?v=WblTm2MLQ2A
Das 3D-Höhlenballerspiel entwickelt so eine ganz andere immersive Kraft als durch die vergleichbar bescheidenen Klänge der MIDI-Synthesizer.
Als drittes Beispiel sei ein eher allgemeines Phänomen betrachtet. Die akustische Kulisse eines Spiels kann auch dazu dienen, die Orientierung in einer Spielwelt zu erleichtern. Hierzu wird Musik an bestimmte Orte gekoppelt, die der Spieler dann zukünftig mit den entsprechenden Lokalitäten verknüpft. Ein ganz einfaches Beispiel findet sich unter anderem in zahllosen Rollenspielen oder Action-Adventures, die dem Spieler in Dungeons eine völlig andere Hintergrundmusik bieten als in der Oberwelt. Dort wiederum differenzieren die Spiele noch zwischen Gegenden mit potenziellem Feindkontakt sowie friedlichen Dörfern, wo dem Spieler keine Gefahr droht.
Andere Spiele melden durch einen Wechsel der Musik eine plötzlich auftretende Kampfsituation, die der Spieler lösen muss. Oder sie signalisiert eine herannahende Bedrohung in Form eines Feindes, vor welcher der Spieler aber noch fliehen kann.
Viertes Beispiel: Spiele, die über die Musik eine so intensive Immersion auslösen, dass der Spieler bis zur Physis darin versinkt. Prominentes Beispiel: Hotline Miami, 2012 für diverse Plattformen veröffentlicht. In knallbunter 8 Bit-Grafik rauscht der Spieler aus einfacher Vogelperspektive durch die Level und hat den simplen Auftrag, jedes gegnerische Sprite wie auch immer ins digitale Jenseits zu befördern. Mit der Gewaltdarstellung ist das Spiel nicht zimperlich, ruckzuck färben sich die Böden rot vom Blut. Während der Spieler versucht, die Standorte der Gegner auswendig zu lernen und jeden Level so schnell wie möglich zu absolvieren, stirbt er tausende Bildschirmtode (bei Hotline Miami tötet schon der erste Treffer). Der Spieler steckt also in dem Dilemma zwischen Ehrgeiz (möglichst kurze Zeit bis zum Ziel) und Sicherheit (bloß keinen Treffer kassieren). Als wäre das schon nicht genug, befördert eine dampfende Melange aus Techno- und Chiptunesounds den Blutdruck und Adrenalinlevel beim Spieler in ungeahnte Höhen.
Vom bloßen Betrachten eines Videos ist schwer zu erfassen, was Hotline Miami an Immersion leistet. Der Spieler ist von der ersten Sekunde hochkonzentrierter Teil der digitalen Welt, wird besonders durch den treibenden, anstachelnden Sound immer weiter ans Geschehen gefesselt. Jeder Schritt, jeder Schuss, jeder Gegner wird von perfekt ausproduzierten, hämmernden Beats und flirrenden Synthie-Sounds untermalt, die keine Ruhe aufkommen lassen und den Stresslevel nahezu sekündlich auf extreme Niveaus heben. Selbst die vermeintlich ruhigeren Stücke dienen nur dazu, den Spieler schnellstens in eine pixelige Gewaltorgie zu saugen und ihn permanent als Teil dieser blutigen Permadeath-Knochenmühle durchzuschütteln.
Auffällig ist dabei, dass es sich bei dem extrem hohen Niveau an Immersion bei Hotline Miami „nur“ um Begleitmusiken handelt. Es sind keine adaptiven Sounds, die durch bestimmte Aktionen im Spiel ausgelöst werden, keine bestimmten Umgebungen oder Aktionen zugeordneten Musikstücke. Es sind einfach nur hintergründig abgespielte Tracks, die immer wiederholt werden, sollte die Spieldauer die Länge des Stücks übersteigen.
Abschließend als fünftes Beispiel: Immersion durch Musik in Zwischensequenzen oder ähnlichen Einschüben. Hier sei wieder auf ein SNES-Spiel zurückgegriffen, namentlich Final Fantasy VI (in den USA Final Fantasy III). Marias Schloss ist in Feindeshand gefallen, sie selbst wird zur Hochzeit mit dem Besatzer Prinz Ralse gezwungen. Ihr Herz schlägt aber nach wie vor für Draco, an den sie sich mit einer Arie wendet, die (daher der Name) als Szene einer Oper durchgehen könnte. Folgend in der hervorragenden (inoffiziellen) deutschen Übersetzung.
Diese Szene ist insofern bemerkenswert, weil der Spieler hier (anders als bei Hotline Miami) nicht direkt durch die Macht der Akustik tief ins Spiel aufgenommen wird, sondern quasi auf einer Meta-Ebene den Verlauf der Spielhandlung weiter verfolgt. Ganz abgesehen von der ungeheuren dramaturgischen Wirkung dieser legendären Sequenz (für viele Gamer einer der größten Momente der kompletten Gaming-Historie) ist der Spieler komplett im Bann des Gesangs, gefesselt und fest eingenommen. Maria kehrt ihr Innerstes nach Außen und nimmt den Spieler emotional fest auf – diese außergewöhnliche Art der emotionalen Immersion ist bis heute bemerkenswert. Squares Entwickler hätten keinen besseren Weg finden können, um den Spieler tiefer und tiefer in die Story aufzunehmen und ihn Teil der Inszenierung werden zu lassen.
Fünf Beispiele, die zeigen, wie vielfältig Immersion über die Akustik eines Spieles sein kann und wie außergewöhnlich sie funktionieren kann. Es bedarf keiner Bombastgrafik, keiner millionenschweren Inszenierung von milliardenschweren Studios, an der richtigen Stelle muss lediglich der richtige akustische Reiz gesetzt werden, um den Spieler zu involvieren und (um im Wortlaut zu bleiben) völlig einzusaugen. Zahllose andere Beispiele aus anderen Epochen der Spielewelt würden diese These nur weiter bestätigen. Dass die Spiele-Soundtracks längst erwachsen werden und mit ihren großen Vorbildern aus Film und Fernsehen können, kann man an der stetig wachsenden Beliebtheit von kompletten Soundtracks ablesen – und an Konzerten, wo große Orchester arrangierte Spielemusik darbieten, wie am Beispiel von Donkey Kong Country.
Es bleibt zu hoffen, dass die Industrie diesen Weg weiter beschreitet.
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