Wer sich mit RPGs beschäftigt, wird im letzten Jahrzehnt (plusminus, wir verdrängen an dieser Stelle einfach mal, dass wir schon 2020 haben) wohl kaum an Mass Effect vorbeigekommen sein.
BioWare hat mit der Serie vieles richtig und einiges falsch gemacht, bietet den Spielern aber in jedem Fall unglaublichen Wiederspielwert und mindestens genauso viel Grundlage für Diskussionen: Welche Entscheidungen trifft man, was ist moralisch vertretbar, welchen Charakter nimmt man nur der Vollständigkeit halber mit und – ganz wichtig – welches Ende wählt man? Und was sagt das über die Spielerin oder den Spieler aus?
Dieser Entscheidungsfreiraum erlaubt der Spielerin oder dem Spieler, sich auszutoben, sich auszuprobieren und ist für mich nicht nur Projektionsfläche, sondern vor allem auch Spiegel. Ich versuche hier so gut es geht, spoilerfrei zu schreiben, aber das kann leider nicht zu 100 % gelingen. Außerdem habe ich Mass Effect nur auf Englisch gespielt, deshalb verzeihe man mir, wenn sich mal ein englischer Name einschleicht und ein englischer Begriff fällt. Aber immer der Reihe nach.
Mein Erstkontakt mit Mass Effect war nach einer ziemlich fiesen Trennung, wegen der ich einen Sommer lang nichts anderes tun wollte, als mich in meiner Dachgeschosswohnung einzuschließen und die Welt draußen zu lassen. Gesagt, getan, und weil es sonst doch recht schnell langweilig geworden wäre, hab ich mir eben mal ME angeschaut.
Wirklich gepackt hat mich das erste Spiel nicht, es war mehr ein Fall von einfach durchziehen. Am meisten hat mich Liara gestört, die so nett war, so wenig Angriffsfläche bot und allen immer so gefallen wollte, dass sie bei mir regelrechte Aggressionen ausgelöst hat. Virmire kam, und weil ich aus Versehen zu nett zu Kaidan war, konnte ich mich nicht gegen ihn entscheiden, also musste Ash da bleiben. Virmire ging. Und dann traf ich Vigil. Ich erinnere mich bis heute an die Gänsehaut, die ich während dieser Szene hatte, und es ist gut möglich, dass ich kurz aufstehen und umherlaufen musste, um die neuen Informationen zu verarbeiten.
Mit Mass Effect 2 begann das, was für mich heute zu den großen Liebesgeschichten zählt: Garrus und Shepard. Es gibt viele Gründe dafür, dass Garrus für mich der wichtigste Charakter im Spiel ist. Am schwersten wiegt jedoch, dass er immer ein Freund ist. Egal, wann Shepard sich für oder gegen ihn entscheidet, er ist immer auch ihr bester Freund, ihr Sicherheitsnetz und wehe dem, der sich am Ende von ME2 falsch entscheidet und Garrus in Gefahr bringt! Kaidan wurde trotz meiner Liebe zu Garrus in ME2 nicht abgeschossen, und ich habe ihn tatsächlich mein gesamtes erstes Playthrough mitgeschleppt. Seitdem bleibt er auf Virmire. Jedes. Mal.
ME2 stellte außerdem Jack vor, von der ich viel über Bitterkeit gelernt habe (ein Hoch auf ihre Storyline aus ME3!), und Samara, die einfach so diese Zeile raushaut, welche damals meine Prinzipien über den Haufen geworfen hat, und über die ich bis heute nachdenke. Neben diesen vielen kleinen Schauplätzen gibt es da natürlich noch den Illusive Man und Cerberus, die man fast schon als Nationalisten bezeichnen könnte, die die Frage nach „Wir“ und „den Anderen“ aufwerfen. Auch wenn das Spiel in dieser Hinsicht nicht so viele Freiheiten lässt, wie ich es mir gewünscht hätte, denkt man doch über das allgemeine Konzept nach, das die Basis für Organisationen wie Cerberus bildet und positioniert sich durch die Dialogoptionen. Oder positioniert Shepard, wenn man die eigene Person denn so sehr von dem Spielerlebnis trennen kann.
Über die Frage nach der Menschlichkeit von EDI und Legion lässt sich bald ein ganzes Buch schreiben, aber auch diese Fragen stellt das Spiel sehr gekonnt, bringt die Spielerin oder den Spieler spätestens am Ende dazu, sich zu entscheiden: Mensch oder Maschine? Für mich läuft es immer auf Verrat hinaus, aber dazu vielleicht ein anderes Mal mehr.
Und die Moral von der Geschicht? Ein „Richtig“ gibt es nicht.
Man merkt schon, dass ich zu vielen Charakteren eine recht persönliche Bindung aufgebaut habe. Mein erstes Playthrough ist jetzt gut sechs Jahre her und seitdem habe ich die Trilogie einige Male durchgespielt, allerdings nie groß etwas anders gemacht. Ich nehme in Unterhaltungen immer die Paragon-Option (es sei denn, man kann die Reporterin schlagen, die nervt), Garrus ist immer mein MVP und ich wähle immer dasselbe Ende.
Sechs Jahre später stelle ich allerdings auch fest, dass ich Liara eigentlich recht gerne mag, dass ich die Person mag, zu der sie im Laufe der Spiele wird. Aktuell versuche ich, Garrus links liegen zu lassen und Liara drei Spiele lang als Love Interest beizubehalten. Es fällt mir nicht leicht, aber mal sehen, wo das noch endet. Eventuell nehme ich dieses Mal sogar ein anderes Ende.
Meine Moralvorstellungen waren vor sechs Jahren anders, radikaler, als sie es heute sind, und so kann ich heute dem Spiel auch mehr Flexibilität zugestehen und mehr Grauzonen zulassen. Jack hat ein Recht darauf, bitter zu sein, und ein Recht darauf, darüber hinauszuwachsen. Und vielleicht wird Garrus in Zukunft Sidonis auch mal erschießen dürfen. Das Spiel – oder eher: Mein Spielerlebnis – ist über die Jahre hinweg gewachsen, hat sich verändert, wenn ich mich verändert habe und genau darin liegt die Magie, die Mass Effect (wie einige andere Spiele auch) für mich hat: Man trifft immer wieder dieselben Charaktere, und doch sind sie immer wieder neu. Man trifft sich irgendwie selbst immer wieder, und ist trotzdem nie die Gleiche.
Das ist natürlich arg philosophisch und man soll PC-Spiele auch einfach nur genießen dürfen. Mich interessiert trotzdem, ob ihr auch ein Spiel habt, das euch so geprägt hat und das ihr immer wieder spielen könnt. Und wenn das Spiel sogar Mass Effect ist – ohne wen verlasst ihr die Normandy auf keinen Fall? Schreibt’s mir in die Kommentare, ich würde mich freuen!
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