Jenseits des Hudson River liegt der New Yorker Vorort Garrison. Hier leben fast nur die Cops vom NYDP. Es ist schon dunkel, als dort in einer kleinen Bar Sheriff Freddy Heflin seinen Feierabend damit verbringt Zigarette rauchend an einem Flipperautomaten zu stehen.
Im Dot-Matrix-Display des Tisches spielt sich eine wilde Verfolgungsjagd ab, Schüsse fallen, ein Wagen überschlägt sich und geht in Flammen auf. Dann greift Heflin entschlossen zum Pistolenabzug an der Flippervorderseite und erledigt einen der bewaffneten Ganoven mit mehreren stakkatoartigen Schüssen.
Zurück auf dem Spielfeld springt die polierte Stahlkugel von den beiden Slingshots von links nach rechts hin und her, landet auf dem linken Flipper von wo aus der Sheriff sie wieder in die obere Tischhälfte bugsiert. Hier warten Bumper, Fallziele und Rampen schon darauf, für viele Punkte getroffen zu werden. Als das Spiel endet, will sich Heflin Münznachschub besorgen, doch der Cop Gary „Figgsy“ Figgis kann seinen Dollarschein nicht wechseln.
Also versucht Heflin stattdessen sich etwas Kleingeld aus einer Parkuhr vor der Bar besorgen. Er öffnet den randvollen Automaten und als die Vierteldollarmünzen versehentlich zu Boden prasseln, steht Figgsy erhaben in der Tür und konstatiert, es gäbe „zwei Arten von Menschen auf dieser Welt: Flippertypen und Videotypen“. Freddy gehöre zu den Flippertypen, so sagt er.
Mit dieser Szene beginnt der 1997 erschienene Kino-Thriller COP LAND. Was genau Ray „Figgsy“ Liotta mit seiner Ansprache an „Sheriff“ Sylvester Stallone richtet und ob sie in dieser Form auch der Wahrheit entspricht, muss wohl ein jeder für sich selbst entscheiden. Fest steht aber, dass zumindest eine strikte Trennung von Flipper- und Videospiel schon seit dem Erscheinen der ersten kommerziellen Telespiele in dieser Form nicht existiert. Denn bereits 1978 holt Atari das zu dieser Zeit populäre Flipperspiel auf den Bildschirm, zu Hause und in der Spielhalle.
Es gibt zwei Arten von Menschen auf dieser Welt: Flippertypen und Videotypen.
Cop Land (1997)
Während die besagten „Flippertypen“ seit diesen frühen Tagen nicht müde werden zu betonen, dass nur der echte physikalisch existierende Flippertisch als die reine Pinball-Lehre zu betrachten sei, schießen die „Videotypen“ unbeeindruckt ihre Kugeln vor ihren Computern und Konsolen über den Schirm. Dabei ist die zuletzt genannte Gruppe in aller Regel auch offen dafür, gerne einmal eine Kugel an einem „richtigen Tisch“ zu spielen. über die Jahre hinweg ist im Bereich der Video Pinballs eine beachtliche Zahl an virtuellen Tischen erschienen und besonders durch den stetigen technischen Fortschritt stehen diese Spiele seit einiger Zeit wieder hoch im Kurs.
Ich selbst bin seit den frühen Achtzigern sowohl von klassischen Flippertischen, als auch von Videospielen begeistert, sodass ich vor ca. zwei Jahren mehr oder weniger per Zufall tief in die Materie Flipperspiel – ob analog oder digital – eingetaucht bin. Für mich persönlich verwischt dabei die Grenze zwischen dem einen und dem anderen immer wieder gerne. Eine Konstante haben die beiden Disziplinen jedoch gemeinsam: Die Kugel erzählt eine Geschichte.
Szenenwechsel: Als ich 2011 im abendlichen Neonlicht eines kleinen Zeitschriftenladens in London für £4,99 Ausgabe 85 des Fachmagazins RETRO GAMER kaufe, kann ich noch nicht ahnen, dass ich mit diesem Betrag ebenfalls das Ticket in eine längst vergangene Epoche der Spielkultur gelöst habe. Auf Seite 36 beginnt in besagtem Magazin ein Bericht aus der „The Making Of …“-Reihe, die sich in dieser speziellen Ausgabe mit der Entstehung von SONIC SPINBALL für SEGAs MEGA DRIVE auseinandersetzt.
Auf der Zugfahrt zurück nach Deutschland hatte ich die Gelegenheit mich ausführlich mit diesem und den anderen Artikeln des britischen „award winning“-Magazins auseinanderzusetzen und – wie der Zufall es so will – ich hatte das Spiel sogar in meinem PLAYSTATION-3-Regal zu Hause. Das Gameplay des 1992 erschienenen Titels zitiert stark das klassische Spielprinzip eines Flippertisches und vermischt sie mit den bekannten Elementen von SEGAs Jump’n’Run-Helden Sonic.
Der blaue Igel rollt und springt wie eine Kugel durch die unterschiedlichen Levels, wird von den Flippern hoch nach oben geschossen, prallt dort von den Bumpern ab, sammelt wertvolle Ringe auf und erfüllt so bestimmte Ziele, die den Zugang zur nächsten Spielebene ermöglichen. Durch SONIC SPINBALL stellte sich für mich während der wilden Jagd nach Trophäen und neuen Highscores ein regelrechter Flashback ein und ich erinnerte mich an meine ersten Begegnungen mit den Flipperspielen aus meiner Kindheit.
In dem saarländlischen Dorf in den Wäldern am Rande der Republik wo ich aufgewachsen bin ging ich mit meinem Vater manchmal in die alte Dorfkneipe auf der anderen Straßenseite, um ein paar Runden am Kicker zu spielen. Dort saßen vielleicht zwei oder drei Herren mittleren Alters am Tresen und diskutierten mit der kräftigen Frau hinter der Theke das aktuelle Tagesgeschehen und die politischen Zusammenhänge der frühen achtziger Jahre aus ihrer eigenen dörflichen Perspektive zu einem Glas Bier.
Ich hingegen schaute mich mit meiner Flasche Fanta in der Hand dort etwas genauer um, denn außer dem schönen Kicker standen im rustikalen Dunst dieses Etablissements noch einige andere Unterhaltungsautomaten herum, an deren genaue Titel ich mich heute leider beim besten Willen nicht mehr entsinnen kann. Was ich jedoch noch erinnere: Es handelte sich definitiv um einige Telespielautomaten und ein paar Flippertische. Thematisch wurde wohl eine Auswahl an Weltraum-, Wildwest- und Zauberei-Abenteuern geboten.
Bunte Lichter in dunklen Ecken, der unverkennbare Kneipengeruch, fremdartige elektronische Sounds die sich mit dem Klirren der Gläser und den Stimmen der Gäste zu der typischen Geräuschkulisse verweben, die die für diese Zeit so typische Spielkultur in den deutschen Gaststatten prägt.
Wenn wir beim Fußballspielen in der E- oder F-Jugend am Samstag siegreich vom Platz gehen konnten, gingen wir wie es echte Helden eben tun unter der Leitung unseres Trainers zum Mezzo-Mix-Trinken aus dem stilechten Stiefel in eine weitere Kneipe unseres Dorfes. Dort wurde nicht nur der Sieg gefeiert – es wurden Duplo- und Hanuta-Sticker getauscht, aktuelle Popmusik von den Schallplatten aus der Jukebox gespielt und so weiter.
Und auch in dieser Kneipe stand wie selbstverständlich ein Flipperautomat. Die Mofafahrer von der Currywurstbude hinten an der Bushaltestelle hatten hier bestimmt schon mal eine Mark oder zwei eingeworfen und in ihren Lederjacken den ein oder anderen Punkterekord aufgestellt. Ein solches Glück war uns damals leider nicht beschieden. Das Taschengeld war für solche Abenteuer einfach zu knapp. Aber ein paar von uns Jungs studierten den Tisch mit leuchtenden Augen ganz genau. Wir malten uns in unserer Fantasie einfach aus wo die Kugel genau entlang rollen musste, damit es besonders im wirklichen Spiel besonders gut liefe.
Aber so intensiv die Auseinandersetzung mit diesem Automaten auf diese Art und Weise auch gewesen sein muss: Ebenso wie bei den Tischen in der anderen Dorfkneipe kann ich heute nur darüber spekulieren wie der genaue Titel des Tisches gelautet hat.
Egal ob Telespiel-Automaten oder Flippertische, eine große Gemeinsamkeit überschattete die Leidenschaft zu diesen Geräten in meiner Kindheit und Jugend: Geldmangel. Ich konnte mir immer nur vorstellen, wie es sich anfühlen würde auch tatsächlich all die fernen Welten zu bereisen, die auf den bunten Gehäusen der jeweiligen Spiele zu bestaunen waren. Eine ganze Welt voller Gefahren und Abenteuer wartete da draußen aber es gab nicht die geringste Chance auch an diesen teilhaben zu können.
Und selbst wenn ich mir über Wochen beispielsweise zwei Mark zusammengespart hätte, so wären diese innerhalb von wenigen Sekunden wieder verloren gewesen.
Manchmal sah man wenn man riesiges Glück hatte jemanden, der sich kurz zum Vergnügen drei Kugeln für eine Mark leistete und eintauchen wollte in die Welt aus Licht, Geräusch, Farbe und Fiktion. Meist blieb es bei einem kurzen Vergnügen. Meine zwei Mark waren dann doch besser beim Zeitschriftenhändler nebenan in ein Comicheft und ein Colaeis investiert.
Ich habe mich nach meinen SONIC-SPINBALL-Session aufgemacht, um die Flipperwelt, die ich als Kind erlebt habe etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Genau wie beim Wiederentdecken von klassischen Telespielkonsolen und alten Arcadeautomaten gab es auch im Reich der Flipper nicht nur viel Interessantes zu entdecken: Das zeitlos geniale Gameplay dieser Unterhaltungsgeräte macht einfach einen riesengroßen Spaß!
Einen wesentlichen Teil meiner Auseinandersetzung mit den verschiedenen Tischen habe ich mit Flippersimulationen für aktuelle Systeme zu verdanken. Gerade im Bereich der Simulationen echter Spielhallen-Hits der Marke Silberkugel können sich Pinball-Fans über einige hochkarätige Umsetzungen für viele verschiedene Plattformen freuen. Die Flipperspezialisten der FarSight Studios von Jay Obernolte bauen die besten Flipper der Marken Williams, Bally, Gottlieb und Stern für iPad, Playstation und andere Systeme detailgetreu nach.
Einen anderen Weg beschreiten Zen Studios aus Ungarn. Sie entwerfen seit einigen Jahren Videospielflipper für’s Wohnzimmer, die die nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der digitalen Unterhaltung nutzen und mit dem solidem Flipperspiel von früher verbinden. Hochinteressant sind auch die Ur-Videospiel-Flipper, die schon direkt zu Beginn des Telespielzeitalters programmiert werden. Auch unter ihnen befinden sich bereits Simulationen echter Tische nach dem Vorbild der Spielhallen und Kneipen. Zu guter letzt habe ich meine Aufmerksamkeit nicht nur den klassischen und aktuellen Flippersimulationen gewidmet, sondern mich auch das Glück gehabt, echte Flippertische in meiner Umgebung zu entdecken und dort ein paar Kugeln abziehen zu können.
Zunächst möchte ich jedoch die virtuellen Pinball-Urgesteine beginnend in den späten Siebzigern vorstellen.
VIDEO PINBALL
Bereits 1978 kommt man bei Atari auf die Idee das Pinball-Prinzip als Telespiel-Idee umzusetzen. VIDEO PINBALL ist eine Heimkonsole, die keine austauschbaren Datenträger kennt, sondern ihre drei verschiedenen Spieltitel als festen Bestandteil in sich integriert hat. Auch nutzt das Gerät keine externen Controller: Alle Steuerelemente für BREAKOUT, BASKETBALL und PINBALL sind direkt an der Konsole selbst zu finden. Drei verschiedene Ausführungen von VIDEO PINBALL erscheinen. Der ersten Version folgt eine weiße Variante, Sears produziert noch eine weitere unter dem Namen PINBALL BREAKAWAY.
Im selben Jahr kommt noch Ataris Spielhallen-Umsetzung VIDEO PINBALL in die Arcade. Wie damals üblich spielt der Automat im Vergleich mit der Heimversion in einer komplett anderen Liga. Im Cabinet befinden sich ein 3D-Spielfeld mit Bumpern und LEDs, an seinen Seiten sitzen Flipperbuttons und vorne am Gehäuse findet man einen echten Plunger zum Abziehen der „Kugel“.
VIDEO PINBALL ist der Beweis, dass die Mischung aus Flipper und Telespielautomat funktionieren kann. Das Artwork fasziniert mit klassischem Tischdesign der Siebziger und besticht mit dem Flair moderner Unterhaltungstechnik unter dem Einsatz von floureszierendem Schwarzlicht. Ataris VIDEO PINBALL steht 1978 direkt am der Schwelle, wo die analoge Welt endet und das aufregend neue digitale Zeitalter beginnt.
Das Cartridge für die 2600-Konsole von Atari entsteht 1980 unter der Leitung von Bob Smith. Auch hier stehen Elemente echter Flippertische im Zentrum des Spielprinzips: Flipper, Plunger, Bumper und Spinner – alles ist bereits da! Gespielt wird natürlich mit dem Joystick der Konsole, was der Heimversion von VIDEO PINBALL mehr Telespiel-Haptik angedeihen lässt, als seinem Spielhallen-Pendant.
Das Atari-Roll-Over rundet stilsicher das typische 2600-Design des Spielfelds ab. Da die „Kugel“ nur relativ selten in Kontakt mit den Flippern kommt, ist das „Nudgen“ (leichtes Anstoßen des Tisches) hier essentiell für hohe Punktzahlen. Hierzu drückt der Spieler die Feuertaste und bestimmt die Richtung des Stoßes mit dem Stick.
RASTER BLASTER
Im Jahr 1981 schreibt der Apple-Angestellte Bill Budge mit seinem Titel RASTER BLASTER einen Meilenstein des virtuellen Pinballs für den Apple II, den er via BudgeCo selbst veröffentlicht. Untypisch für diesen Computer kann Budge neben dem realistischen Tischdesign auch in technischer Hinsicht punkten: Auf einem soliden Fundament aus schneller Grafik und akkurater Kollisionsabfrage entfaltet sich authentischer Flipperspaß für zuhause.
Im darauffolgenden Jahr bringt Budge mit seinem PINBALL CONSTRUCTION SET bereits den nächsten Top-Hit des Genres. Ab sofort können Besitzer von Apple II, Atari 800 und Commodore 64 ihre eigenen Flipper am Bildschirm zusammenbasteln und spielen. Dabei ist Budge selbst wenig fasziniert von seinen Spielen, seine Leidenschaft gilt hauptsächlich dem Programmieren. Den Wert seiner Arbeit beweisen zahlreiche Auszeichnungen: Das PINBALL CONSTRUCTION SET hat seinen festen Platz GameSpy’s „Hall Of Fame“, das US-Magazin Softalk wählt RASTER BLASTER zum „Most Popular Program of 1981“.
DAVID’S MIDNIGHT MAGIC
Den Höhepunkt der „First Wave Of Home Computer Pinball Games“ programmiert David Snider 1982 für Brøderbund Software. Das Gameplay seines DAVID’S MIDNIGHT MAGIC orientiert sich stark an Steve Ritchies Kult-Tisch BLACK KNIGHT von 1980. Allerdings zitiert die Software nicht das düstere Mittelalter-Thema der Vorlage, sondern bedient sich beim Design in der poppigen Farbpalette der achtziger Jahre.
Inhaltlich geht David Snider jedoch keine Kompromisse ein: Eine lebendige und dynamische Ballphysik, zwei Spielebenen, Multiball-Action und sogar BLACK KNIGHTs „Magna Save“-Feature machen DAVID’S MIDNIGHT MAGIC zu einem Traum für Freunde des virtuellen Flipperspiels auf Apple-, Atari und Commodore-Rechnern.
NIGHT MISSION
NIGHT MISSION von Bruce A. Artwick kommt 1983 und versteht sich als Antwort auf Bill Budges Klassiker RASTER BLASTER. Das Spiel wird von subLOGIC veröffentlicht und findet statt im Setting des größten Hits dieser Firma: FLIGHT SIMULATOR II. Als Markenzeichen dieses virtuellen Tisches gilt der sogenannte „FIX-Modus“ der es dem Spieler erlaubt 38 verschiedene Variablen und Parameter selbst zu kalibrieren. Neben der Anzahl der Kugeln lassen sich z.B. die Neigung des Tisches und der Rückschlag der Bumper von Hand einstellen. Auch in Puncto Ballphysik und Spieltiefe kann NIGHT MISSION überzeugen.
BUMPER BASH
1983 als Spectravideo Game Cartridge veröffentlicht setzt BUMPER BASH auf Ataris 2600 auf Paddle-Steuerung. Wie einige andere Spiele des Herstellers wird dieses Video-Pinball-Modul nur in Kanada veröffentlicht und ist dementsprechend selten in der Neuzeit zu finden. Spielerisch wird guter Durchschnitt geboten, die exotischen Kontrollen bringen Profis allerdings gehörig ins Schwitzen: Die Bumper werden nicht über den Feuerknopf aktiviert, sondern via Rechts- bzw. Liksdrehung. Die Richtungseingabe der Slingshots ist obendrein spiegelverkehrt.
SPINBALL
Auch auf dem hochformatigen Vectrex-Bildschirm wird hinter kultiger Folie geflippert und zwar mittels des 1983 erschienenen Moduls SPINBALL. Mit vielen klassischen Pinball-Elemente wie Drop Tragets, Spinner und Bumper ausgestattet zeigt SPINBALL, wie Pinball in Vektorgrafik aussieht. Unbarmherzig zeigt sich die Tilt-Toleranz dieses systemexklusiven Spiels: Ein (sprichwörtlicher) Huster reicht oft schon für die traditionelle rote Karte im Spiel. Innovativ ist der aktiverbare „Ball Splitter“, der bei Berührung durch Teilung der Kugel den Multi-Ball-Modus startet.
Auch den Folgejahren reißen die Veröffentlichungen um die virtuelle Silberkugel nicht ab. Nintendo kombiniert in seinem schlicht PINBALL betitelten Werk von 1985 bewährte Videospiel-Elemente a la BREAKOUT auf drei Bildschirmen mit klassischem Pinball. Das nicht mit David Sniders Werk zu verwechselnde MIDNIGHT MAGIC von Atari wird zwar 1984 bereits programmiert aber der große Videospiel Crash sorgt dafür, dass sich seine Veröffentlichung bis ins Jahr 1986 verschiebt.
In Deutschland schreiben Hans Georg Berg und Gabi Kittner ihr PINBALL WIZARD, dass sie 1987 via Kingsoftfür den Amiga veröffentlichen. Jenseits des ärmelkanals stehen daraufhin die beiden ersten echten Flippersimulationen in den Startlöchern. Die Software-Schmiede RARE setzt neue Maßstäbe und bringt 1990 erstmals einen echten Flipper aus Amerikas-Pinball-Hauptstadt Chicago als ROM-Cartridge auf den Bildschirm: Barry Ourslers PIN*BOT und ein Jahr später Steve Ritchies HIGH SPEED.
An die Simulation echter Tische knüpfen FarSight Studios im Jahr 2004 an. Ihre erste Sammlung historischer Flipper trägt den Titel PINBALL HALL OF FAME: THE GOTTLIEB COLLECTION und bringt hochkarätige Flipper des altehrwürdigen Herstellers Gottlieb auf Spielkonsolenrund um Playstation 2, Xbox und den GameCube.
Es handelt sich bei dieser Collection um die ersten Gehversuche der FarSight Studios, deren nächste Flipper-Sammlung im Jahr 2008 ganz im Zeichen des Herstellers Williams steht. Bessere Ballphysik und schnelleres Gameplay sind die Indikatoren für die ansteigende Qualität der Tischsimulationen, vor allem aber machen die Williams-Tische mit ausgefeiltem Gameplay und hervorragendem Design einen starken Eindruck auf mich, als ich zum ersten Mal die Disc in das Laufwerk meiner PLAYSTATION 3 schiebe.
Viele der darauf enthaltenen Titel erinnern mich an das Gefühl, das die Flipper, die ich aus meiner Kindheit kannte, bei mir ausgelöst haben. Wunderschöne Lichteffekte, eine geniale Soundkulisse und die typisch abstrakte Flipper-Spielmechanik funktionieren heute noch genauso gut wie damals und zaubern echtes Pinball-Flair auf den HD-Fernseher. Zudem erlauben die Collections der FarSight Studios über ihre gelungene Präsentation ein tieferes Eintauchen in die Materie. Man lernt die unterschiedlichen Handschriften von Pinball-Design-Legenden wie Barry Oursler, Pat Lawlor, John Popaduik, Steve und Mark Ritchie und dem 2014 verstorbenen Python Anghelo kennen und bekommt interessante Informationen aus der Geschichte der Flipperkultur.
Für das optimale Pinball-Vergnügen sorgen FarSight Studios allerdings ab 2012 mit ihrer PINBALL ARCADE. Neben Gottlieb- und Williams-Tischen sind nun auch einige Flipper von Stern und dem Branchen-Urgestein Bally enthalten.
Circa 40 Tische (Tendenz steigend) laden auf iPad, Playstation 3 und 4, PC etc. zur Erkundung einer vergangenen ära des Spielvergnügens ein, die man einfach erlebt haben muss, wenn man auf good old fashioned Gameplay der Marke Highscore und Hochspannung steht. Vom Sixties-Oldie CENTRAL PARK über den Kult-Tisch GORGAR bis zu den All-Time-Classics TWILIGHT ZONE, THEATRE OF MAGIC und MEDIEVAL MADNESS reicht die Bandbreite, die sich nach den eigenen Vorlieben zusammenstellen lässt.
Lässt man sich auf die PINBALL ARCADE ein kommt man oft aus dem Staunen nicht mehr heraus, mit welchen Tricks und mit welch sagenhafter Kreativität man in Chicago im goldenen Pinball-Zeitalter zu Werke gegangen ist, um einerseits grenzenloses Spielvergnügen zu präsentieren und den Leuten ihre Münzen aus der Tasche zu ziehen. Neonröhren (CIRQUS VOLTAIRE) , Magnet-Flipper (TWILIGHT ZONE), ins Playfield eingelassene Mini-Spielfelder (BLACK HOLE) und natürlich Dot-Matrix-Displays, Rampen, Bumper, Captive Balls, Drop Targets, Sink-Holes, Roll-Over, etc. laden immer wieder ein eine neue Highscore aufstellen zu wollen und sich mit Freunden und Bekannten zu messen.
Die ungarischen Macher der Zen Studios (ZEN PINBALL, PINBALL FX) verfolgen eine ähnliche Philosophie wie FarSight Studios. Dennoch nähern sie sich dem Flipperspiel auf modernen Rechnern aus einer anderen Richtung. Sie wollen keine echten Tische simulieren, sondern interpretieren deren Essenz ganz und gar neu unter den Vorrausetzungen, die nur im Virtuellen möglich sind und eben nicht auf echten Tischen.
Animierte Figuren, die teilweise mit der Kugel interagieren, Shoot-Em-Up-Mini-Games, das Spiel mit der Schwerkraft – die Kreativität der Entwickler konnt offenbar keine Grenzen. Der eigentliche Clou ist aber, dass sich die Zen-Tische immer anfühlen, als würde man wirklich an einem echten Flipper in der Kneipe spielen. Sogar wenn wie in INFINITY GAUNTLET das Spielfeld komplett auf den Kopf gestellt wird, was in der Realität natürlich nicht klappen würde oder in MARS sich die Schwerkraft kurzzeitig verabschiedet, immer versprüht ein Zen-Titel ein nachvollziehbares Flipper-Flair.
Neben den Zen-Original-Tischen (Tipp: EPIC QUEST mit seinem genialen Humor und einzigartigen Rollenspiel-Elementen) warten Marvel- und Star-Wars-Lizenz-Pins darauf entdeckt, gespielt und geliebt zu werden. Viele Gameplay-Zitate dürften für Kenner echter Tische für ein wissendes Schmunzeln sorgen. Zen Studios zeigen: Echte Gameplay-Klassiker sterben nie und taugen – auch neu zusammengesetzt – immer wieder zur gepflegten Auseinandersetzung.
Ganz besonders über die Software der FarSight Studios habe ich persönlich die Welt der Flipperautomaten kennengelernt und unzählige Stunden mit Forschen, Probieren und Spielen verbringen können. Echte Tische habe ich bis Mitte 2013 allerdings keine gesehen. Beim Kurzurlaub in der Eifel bin ich dann eher per Zufall über einen ELVIRA AND THE PARTY MONSTERS und einen PIRATES OF THE CARRIBEAN gestolpert – Meine ersten echten Kugeln an die ich mich konkret erinnern kann.
Ein paar Wochen später spricht mich mein Zahnarzt vor einem Routine-Check auf die Fotos an, die ich auf einer Social-Media-Seite im Internet neben besagten ELVIRA-Flipper zeigen. Er berichtet, er habe vor einiger Zeit in meiner Heimatstadt Saarbrücken selbst einen Tisch in einer kleineren Flipper-Werkstatt gekauft, deren Showroom manchmal für Besucher geöffnet würde. So konnte ich Anfang des Jahres 2014 bei meinem Besuch bei PINBALL DREAMS in Saarbrücken nicht nur bei der Restauration von Klassikern vom Schlage eines CIRQUS VOLTAIRE, MONSTER BASH oder TERMINATOR 2 zusehen sondern auch stundenlang bei geöffneter Coin-Door Freispiel-Credits triggern und in aller Ruhe die vielen Tische der Werkstatt ausprobieren.
Vielen Dank dafür an Henrik Maurer (Geschäftsführer) und Thomas Altmayer (Technik). Nach diesem Besuch und der damit verbundenen Horizonterweiterung habe ich mich noch weiter umgesehen und festgestellt, dass deutschlandweit ein großes Angebot an öffentlichen Flipper-Spielstätten besteht, die meistens an den Wochenenden nach dem 1-mal-Eintritt-alles-auf-Freispiel-Prinzip zum Abtauchen in die goldene Pinball-ära einladen.
FREDDY’S PINBALL PARADISE in Echzell bietet 160 Flipper aus sechs Jahrzehnten auf einer Fläche von 600 Quadratmetern, das Flippermuseum Schwerin und der FOR AMUSEMENT ONLY e.V. in Seligenstadt machen sich ebenfalls stark für stilechtes Flippern im ganz großen Stil. Für die richtige Punktzahl kann man bis zum Besuch schon mal in der PINBALL ARCADE von FarSight Studios üben.
Aber so sehr ich die Spielerfahrung an physikalischen Flippern mag und schätze – meine persönliche Verbindung zum Hobby ist in der Gegenwart der Videopinball für’s Wohnzimmer. Die eingangs gestelte Frage nach „Videotyp oder Flippertyp“ beantworte ich für mich also mit ersterer Alternative.
Neben Platzgründen, die wohl jeden echten Flipperfan nach einiger Zeit des Sammelns ins Grübeln bringen ist eine Sammlung echter Tische im Hobbykeller auch mit einem nicht ganz unerheblichen organisatorischen und finanziellen Aufwand verbunden; technisches Know-How für Wartungs- und Instandhaltungsfragen muss ebenfalls vorausgesetzt werden. Zwar fehlt beim Video Pinball letztlich die haptische Erfahrung, die für viele ein zentraler Punkt ihrer Flipperleidenschaft ist, aber ich kann besten Gewissens behaupten, dass die genialen Designs altehrwürdiger Pinball-Designer auch auf dem Bildschirm ihre ungebrochene Faszination entfalten.
Kein Flipperspiel gleicht dem anderen.
Karsten Heilmann
Darüber hinaus ermöglicht die digitale Simulation ein Eintauchen in die Materie in den eigenen vier Wänden, wie ich sie mir eigentlich immer schon gewünscht habe. Im Vergleich zu traditionellen Videospielen ist hier wirklich jedes Spiel und jede Partie neu und besonders. Kein Flipperspiel gleicht dem anderen. Die Steuerung ist denkbar simpel und dennoch schwer zu meistern.
Es macht immer wieder auf’s neue Spaß sich am Feierabend oder am Wochenende ein paar Minuten weiter in einen Tisch hineinzuarbeiten, neue Strategien zu entwerfen und so wieder ein bisschen über sich selbst hinauszuwachsen. Wenn man obendrein noch auf eine gut gefüllte Freundesliste auf dem Gerät seiner Wahl zurückgreifen kann, kommt auch auf der Couch waschechte Wettkampfstimmung wie in der Kneipe auf.
Wer also glaubt im Bereich Retrogaming schon alles zu kennen und sich neue Entdeckungen wünscht, wem moderne Spiele zu kompliziert für die knappe Freizeit sind oder wer sich noch schemenhaft an die alten Flipperautomaten der Kindheit erinnert und diese Erinnerungen mit Spielspaß aufleben lassen möchte, dem kann ich das Hobby Videopinball nur empfehlen.
Links
- Datenbank mit allen erschienenen Tischen, Ranking und vielen Fotos.
- Datenbank für alle wichtigen Fachbegriffe zum Thema Flipper.
- Pinball Arcade für alle modernen Hardware-Systeme (auch XONE) (FarSight).
- Zen Pinball 2 bzw. Pinball FX 2 (Zen Studios).
- Flipper-Blog des österreichischen Journalisten und WASD-Autors Robert Glashüttner mit Artikeln und sehr guten Tutorial-Videos.
Schreibe einen Kommentar