Als ich in den frühen 2000er-Jahren zum ersten Mal Matt Damon als Jason Bourne über den TV-Bildschirm hetzen sah, raufte ich mir schockiert die Jahre. Gut, ich war auch noch ein kleiner Bub am unteren Ende der Pubertät – in so einer Phase rauft man sich dauernd die Haare. Trotzdem war ich mir meiner Sache sicher: “Jason Bourne ist ja wohl ein elendig dreistes Plagiat!”
Um das zu beweisen, muss man sich nur die Eckpunkte der Handlung anschauen: Ein athletischer Kerl wird aus dem Meer gefischt, kann sich an nichts erinnern – nicht mal an den eigenen Namen – und entdeckt im Rahmen einer spannenden Agentengeschichte, dass er einst zu einer sinistren Verschwörung gehörte. Die Amnesie befreit ihn von der eigenen Unmoral: Plötzlich kämpft die Hauptfigur für die Wahrheit.
Ziemlich genauso sieht die Handlung des frankobelgischen Comics XIII aus, der seit über 30 Jahren von den Abenteuern eines amnesie-geplagten Agenten erzählt. Hatte Jason Bourne da wirklich dreist geklaut? Die Wahrheit entpuppte sich als ernüchternder Dämpfer für mein junges Ego: Robert Ludlums Buchvorlage zu Bourne erschien tatsächlich vier Jahre früher als der erste Band von XIII (also 1980 vs. 1984). Ich hatte mir nicht nur (mal wieder) umsonst die Haare gerauft – nein, der Plagiatsvorwurf ging genau in die andere Richtung. Der Schöpfer von XIII, Jean van Hamme, erhielt sogar Todesdrohungen, weil er sich so munter bei der Bourne-Vorlage bedient (auch wenn er diese Inspiration von vorn herein beim Namen genannt hatte).
Ein ganz schöner Schlamassel. Aber aus Sicht eines Videospielers könnte mir dieses ganze Urheber-Fiasko eigentlich herrlich egal sein: Denn für uns behält XIII immer die Nase vorn. Der Grund ist schnell erklärt: Der Comic XIII brachte 2003 nämlich einen der innovativsten und besten Shooter seiner Zeit hervor – und um dessen grandiose Ideen soll’s mir heute gehen.
Grandiose Ideen, die keiner kaufen wollte
Die Anekdote meines haare-raufenden Teenager-Ichs sollte eigentlich auch nur illustrieren, was für eine leidenschaftliche Verbindung ich Anfang der 2000er für XIII aufgebaut hatte. Und das lag beileibe nicht an der Comic-Vorlage (die hatte ich gar nicht gelesen), sondern an der wunderbaren Spielumsetzung: XIII erschien im November 2003 für alle gängigen Plattformen seiner Zeit, also PS2, Gamecube, Xbox und PC. Entwickelt wurde das Ganze von Ubisoft Paris – ob man hier bewusst auf der Hype-Welle von Jason Bournes Kinofilm mitsurfen wollte, kann ich nicht im Nachhinein nicht beantworten.
Sollte dieses Kalkül allerdings existiert haben, dann ging die Rechnung nicht auf. Trotz hervorragender Kritiken floppte das Spiel an der Kasse, und bekam nie die Fortsetzung, die Fans verdient hätten. Wie das erste Prey fällt XIII in die Kategorie: Wunderbar innovativer Shooter, den irgendwie keiner kaufen wollte. Sei’s drum: 15 Jahre später scheren wir uns nicht mehr um Verkaufszahlen und können ganz ungeniert die tollen Ideen auf ein Podest stellen: In einer etwa siebenstündigen Kampagne muss der gedächtnislose XIII (aka Jason Fly) eine Verschwörung aufdecken (und aufhalten), die ihm den Mord am US-Präsidenten anhängt.
Wie es sich für einen Ego-Shooter gehört, wird bereits kurz nach Spielbeginn scharf geschossen: XIII kommt gerade wieder zu Bewusstsein, nachdem eine liebreizende Baywatch-Mitarbeiterin ihn aus dem Meer gefischt hat – und prompt wird die Dame von feindlichen Assassinen erschossen. XIII schnappt sich, was er in die Finger kriegen kann – Messer, Stühle, Schusswaffen – und schlägt zurück. Das eigentliche Shooter-Gameplay ist dabei gar nicht das, was die Innovation in XIII auszeichnet.
Mehr als ein Shooter
Wenn man ganz nüchtern an die Sache herangeht, dann spielt sich XIII im Prinzip so, wie man es von einem Shooter in der Doom-Wolfenstein-Tradition erwartet: Mit Sturmgewehr, Pistole, Armbrust und Scharfschützengewehr ballere ich mich durch enge und weite Spielabschnitte, ziele auf Köpfe und sacke Lebensenergie und Panzerung ein. Aber sich nur auf diese Dimension zu konzentrieren, verfehlt den Kern der Sache. Für mich persönlich gibt es drei große Aspekte, die XIII zu einem ganz besonderen Spiel machen.
Nummer Eins: Die Story. Leser, die schon mal auf der GameStar.de über meine Artikel gestolpert sind, wissen vielleicht, dass ich nie müde werde, über den Mangel an guten Geschichten im heutigen Triple-A-Geschäft zu meckern. Wenn ich während derlei Kritik wehmütig in die Vergangenheit blicke, dann denke ich dabei an Spiele wie XIII.
Dass XIII auf einer Comicvorlage basiert, kommt der Geschichte natürlich zugute. Aber Ubisoft trifft hier darüber hinaus die richtige Entscheidung, viel Budget in die Inszenierung dieser Geschichte zu stecken. Mit David Duchovny und Adam West holt man sich große Schauspielernamen ins Synchronsprecher-Boot, außerdem punktet das Spiel mit diversen Zwischensequenzen, cleveren Rückblenden, einem stimmigen Skript, pfiffigen Dialogen und, und, und. Von Anspielungen auf Wilhelm Tell über Bild-im-Bild-Montagen erweckt XIII den Eindruck, dass hier wirklich talentierte Leute an der Handlung gewerkelt haben.
Es sind die kleinen Dinge …
Das Spiel steckt voller Details, die man beim ersten Durchgang kaum bemerkt. Man schaue sich nur den raffinierten Anfang an: Ein Held mit Amnesie wird von einer schönen Frau gerettet – der Spieler kann sich instinktiv mit der Hauptfigur identifizieren, weil sie genauso wenig weiß, wie man selbst. Und gleichzeitig spielt XIII mit unserer Erwartung, dass die junge Dame eine tragende Rolle spielen könnte (vielleicht in einer Liebesgeschichte) – nur um sie in der nächsten Sekunde durch Assassinen umbringen zu lassen.
Ich mag da zu viel reininterpretieren, aber XIII packt mich emotional innerhalb von einer Minute, wo andere Spiele noch nach einer Stunde hinterherhecheln. Ich weiß nicht, wer ich bin, aber diese Assassinen knöpfe ich mir vor. So vermeidet das Spiel, dass der eigentlich recht ausgelutschte Gedächtnisverlust zu arg in die Schublade oller Erzählrequisiten rutscht.
Kommen wir zu Nummer Zwei der grandiosen Dinge in XIII: Dem einzigartigen Look. Das Spiel kann man guten Gewissens als zum Leben erwachter Comic bezeichnen. Der Cel-Shading-Look sorgt mit seinen dicken Umrandungen und vollen Farben nicht nur dafür, dass XIII auch heute noch schick aussieht, er simuliert auch Tinte und Kolorierung der Comic-Vorlage. Doch damit nicht genug: Diese Idee eines Comicspiel-Hybriden wirkt sich auch spielerisch aus. Während der sporadischen Schleichpassagen hört man die Schritte nahegelegener Wachen nicht nur, man sieht sie auch in den typischen Comic-Geräuschworten »Tap, tap, tap«. Das kann sich Jason Fly natürlich zunutze machen, um wie mit einem optischen Sonar die Position der Feinde auszumachen.
Anderes Beispiel: Wenn eine Rakete neben uns aufschlägt, zieht sich nicht nur ein »Kaboom« über den Bildschirm – auch der komplette Bildschirm wackelt, sodass ich als Spieler an den dicken weißen Rändern meiner Ansicht erkenne: Ich blicke die ganze Zeit durch ein Comic-Panel. Schießt man einem Gegner mit der Armbrust in die Rummel, fliegen drei kleine, sequenzielle Panels ins Bild, die wie drei Frames eines Daumenkinos nochmal die letzte Sekunde des armen Gegners illustrieren. Aber genug der Beispiele – kommen wir zum wichtigsten Punkt.
Pulp Fiction
Nummer Drei: In XIII lebt die Pulp Fiction. Also nicht der Film von Quentin Tarantino, sondern die klassischen Abenteuergeschichten der 1910er- bis 1950er-Jahre. Das mag den meisten Lesern herzlich egal sein, aber ich persönlich liebe diese alte Ära wilder Fantasy-, Raumfahrer- und Agenten-Stories, die ihren Fans einen simplen, aber aufregenden Eskapismus-Rausch in die Hand drückten. Heutzutage haben sich diese alten Perlen in neuen, komplexeren Erzählformen aufgelöst, aber die frankobelgischen Comics bleiben bis heute ein wackeres Idyll bunter Piraten-, Science-Fiction- und Agentengeschichten im direkten Erbe von John Carter, Doc Savage, den Amazing Stories und Thrilling Spy Stories.
Was für die Comicvorlage gilt, bleibt natürlich auch im Spiel vorhanden: Hier hat man wirklich gelungene Popcorn-Unterhaltung einer vergangenen Ära auf dem Bildschirm, frei von der (an sich ja tollen) Komplexität eines John Le Carre, dafür gewürzt mit coolen Charakteren, einer Liebesgeschichte, vermummten Verschwörern und wilden Verfolgungsjagden.
Unterm Strich bleibt natürlich die Shooter-Spielmechanik das Herzstück des Spiels. Dass ich hier kaum darauf eingegangen bin, liegt nicht daran, dass die Ballereien schlecht sind – ganz im Gegenteil: Ich klammere diese Aspekte aus, weil sie so sauber und kurzweilig funktionieren (mit einigen Abstrichen beim Schleichen). Dass XIII ein äußerst runder Shooter ist, haben die Reviews bereits vor 15 Jahren festgehalten. Ich wollte hier die Aspekte zum Vorschein bringen, die XIII im Vergleich zu anderen Spielen einzigartig machen – aber am Ende komme ich wohl auf demselben Fazit heraus wie die Kritiker von einst: Spielt dieses Spiel. Ihr bereut es nicht.
Schreibe einen Kommentar