Meine ersten Erinnerungen an Videospiele beginnen im Polen der 1980er-Jahre. Es war das Jahrzehnt, in dem das Kriegsrecht in Polen verhängt wurde und Panzer durch die Winterlandschaft fuhren. Es war auch das Jahrzehnt, in dem einige Lebensmittel rationiert gegen Lebensmittelmarken zu bekommen waren und in dem zum Ende des Jahrzehnts eine Hyperinflation die Bevölkerung zu unglücklichen Millionären machte. Es war aber auch eine Zeit des politischen Umbruchs und eine Zeit der Videospiele. Dies ist meine persönliche Erinnerung an eine bunte Kindheit mit 8-Bit Heimcomputern und Videospielen im sonst eher grauen Polen.
Fangen wir ganz von vorn an, indem ich mich kurz vorstelle. Ich heiße Bartosz und wurde 1982 in der polnischen Hafenstadt Gdingen (polnisch Gdynia) geboren. Damals hieß die Republik Polen noch Volksrepublik Polen (Polska Rzeczpospolita Ludowa, kurz: PRL).
Einige der hier beschriebenen historischen Ereignisse habe ich natürlich nicht oder nur indirekt mitbekommen, denn ich war ja noch ein Kind. Mit fünf Jahren spielte ich meine ersten Videospiele und mit sechs Jahren hatte ich das erste Mal Zugang zu einem 8-Bit Heimcomputer. Damals, es muss so um das Jahr 1988 herum gewesen sein, bekamen mein fast acht Jahre älterer Bruder und ich einen Atari 65XE von unserer Mutter geschenkt.
Ein Wunderwerk der Technik
Unser Atari 65XE kam aus einem Laden, der sich Pewex nannte – in etwa vergleichbar mit den Intershops der DDR. Einkaufen konnte dort jeder, der harte Währungen mitbrachte: Amerikanische Dollar, Britische Pfund oder Deutsche Mark waren gerne gesehene Gäste, Polnische Zloty dagegen gar nicht. Für Normalsterbliche waren diese Läden also theoretisch unzugänglich. Aber es war es nicht völlig unmöglich Zlotys in Fremdwährungen einzutauschen.
Das Gerät besaß eine mit 1,77 MHz getaktete CPU, 64 KB RAM und ein Datasette-Laufwerk. Angeschlossen an einen Röhrenfernseher, den Neptun D 505. Das war übrigens eines der ersten in Serie hergestellten Farbfernsehgeräte der Danziger Elektronik-Werke Unimor. Farbe gab es allerdings erst mal trotzdem nicht, alle Spiele waren schwarzweiß. Erst einige Wochen später brachte ein kleiner technischer Umbau des Fernsehers durch einen Fachmann endlich Farbe ins Spiel.
Eigentlich wie im Westen, nur etwas anders
Wann immer wir Zeit hatten und unsere Mutter es uns erlaubt hatte, zockten wir: River Raid, Moon Patrol, H.E.R.O., Monztezuma’s Revange, Boulder Dash, Defender, Popeye, Spy VS Spy, Missle Command, Zorro und wie sie alle hießen.
Auch wir im Ostblock zerstörten Joysticks zu den Summer Games. Mit dem Unterschied, dass wir ihn in der Regel irgendwie selber wieder flicken und anschließend vorsichtiger damit umgehen mussten. Erlitt ein Joystick einen Totalschaden, so konnte das durchaus eine Weile dauern, ehe man wieder einen neuen bekam. So eine Anschaffung war vergleichsweise teuer und stand bei den Eltern auf der Prioritätenliste sehr weit unten.
Da gab es Zeiten, wo in der Misswirtschaft Planwirtschaft zum Beispiel das Klopapier plötzlich zur Mangelware wurde und man sich mit Zeitungen aushelfen musste. Oder wo man im tiefsten Winter in einer Warteschlange bis nach draußen vor dem Bäcker oder Fleischer stand und trotzdem nichts bekam. Das meine ich mit Prioritäten.
Vor dem Atari genossen wir als einziges Videospiel innerhalb der eigenen vier Wände Nu Pogodi der Firma Электроника (Elektronika), ein Game&Watch-Clone aus der Sowjetunion. Im Grunde ähnelte das Gerät stark dem originalen LCD-Spiel von Nintendo, nur gab es in der sowjetischen Ausführung einen kleinen Hasen und einen bösen Wolf, statt Mini Maus und Micky Maus. Das Ziel des Spiels war in beiden Fällen gleich: Eiersammeln, während diese immer schneller aus den vier Hühnerställen rollten.
Im Osten war Nu Pogodi so etwas wie der sowjetische Ersatz für die Cartoons des Westens. Statt Asterix und Obelix hatten wir Kajko i Kokosz. Mein Bruder und ich besaßen auch eine Art Carrera Autorennbahn. Genau genommen war es eine Prefo Autorennbahn aus der DDR. Unser Vater arbeitete dort und brachte sie eines Tages mit. Auch hatten wir echtes Lego – wenig, aber immerhin. Unsere Kindheit hatte also durchaus einige Farbnuancen im sonst eher grauen Polen.
Die süße Sünde
Vor dem Atari 65XE und dem Game&Watch-Clone hatte ich mit fünf Jahren das erste Mal Kontakt mit Videospielen. Damals gab es in Gdingen einen kleinen Arcade-Laden, mein Bruder und ich gingen regelmäßig hin. Genau genommen fast jeden Sonntag, wenn uns unsere Mutter in die Kirche schickte und uns etwas Geld für die Kollekte mitgab.
Ich mag mich irren, aber ich erinnere mich nicht sehr oft in dieser Kirche gewesen zu sein. Es sei denn das war dieser Ort, an dem es Defender, Missle Command und diesen abgefahrenen Flipperautomaten gab, den die älteren Jungs regelmäßig auseinander genommen hatten.
Der HERR möge es uns verzeihen: Der kleine Laden lag nun mal auf dem Weg zur Kirche und war nur halb so weit entfernt. Zudem war der liebliche Ruf der Sünde deutlich süßer, als der melancholische Gesang vor und das gesalzene Geplänkel an der Kanzel.
Auf dem Rückweg brachte mein Bruder mir dann immer bei, was ich gleich zu Hause sagen sollte, eine Kurzform dessen, was der Pfarrer diesmal angeblich erzählt hätte. Alles natürlich frei erfunden. Das war nur für den Fall, dass wir gefragt werden wie es in der Kirche gewesen sei. „Und denk daran, wenn wir gleich da sind: Kein Wort wo wir wirklich waren, sonst nehme ich dich das nächste Mal nicht mit!“ Gott bewahre, natürlich nicht!
Wo kommen all die schönen Spiele her?
Damals kamen die Spiele für den Atari alle von den Freunden meines Bruders. Oder von den Freunden der Freunde meines Bruders. Oder mindestens noch ein weiteres Mal um die Ecke. Er hatte viele Freunde und Bekannte. Manchmal durfte ich mit, dann war ich bei den coolen Jungs dabei. Sie rauchten und fluchten, wenn die Eltern nicht Zuhause waren, während sie Spiele von mehreren Datasetten auf eine andere Datasette kopierten. Das Thema „Raubkopien“ war für mich damals schlicht und einfach noch gar nicht existent. Inwieweit die älteren Jungs darüber Bescheid wussten, dazu kann ich nichts sagen.
Zu Hause wurden die neuen Spiele dann ausprobiert. Das heißt, wenn vorher alles gut gegangen ist. Manchmal machten die hoffnungslos abgenutzten Bändern einem einen Strich durch die Rechnung. Das viele Kopieren über recht einfache Kassettenrekorder mit zwei Kassettendecks vermochte die Qualität nicht unbedingt zu steigern. So konnte das Laden eines solchen Spiels schon mal im Daten-Nirwana enden und zu einer ganzen Menge Frust führen.
Manchmal brachte mein Bruder von Freunden ausgeliehene Bänder mit nach Hause, die er dann selber im heimischen Kassettenrekorder kopierte. Er war es auch, der mich in das Geheimnis des Schreibschutzmechanismus bei den Audiokassetten einweihte: Ist die Kunststofflasche an der Kassette noch vorhanden, ist die Kassette bespielbar. Ist die Lasche herausgebrochen, dann natürlich nicht mehr. Klare Sache, das verstand sogar ein Kind! Aber hatte man Klebeband, so konnte man schreibgeschützte Kassetten wieder bespielbar machen. Er erklärte mir auch die Sache mit dem Vorlaufband und in welches Kassettendeck welche Kassette musste.
Und damit fingen meine Probleme an
Natürlich war ich neugierig und wollte Spiele selber kopieren, so wie die großen Jungs. Ich nahm einfach eine der vorhandenen Datasetten und da ich keine leeren Kassetten besaß, eine von den originalen Musik-Kassetten von meiner Mutter. Nach einer Weile des Rumprobierens verstand ich, dass das so nicht klappen konnte.
Originalkassetten haben ja keine Laschen, also musste Klebeband her, was ich jedoch nicht fand. Ich riss von irgendwo etwas Papier ab, formte daraus eine kleine, zusammengepresste Kugel und stopfte diese in die Kassette, dort wo einst die Plastiklasche gewesen war. Das hatte ich so bei meinem Bruder mal beobachtet. Und was soll ich euch sagen? Es funktionierte und ich war sehr zufrieden mit mir. Jedenfalls bis meine Mutter am nächsten Tag Musik hören wollte. Es erklang Julio Iglesias:
Amor
Amor
Amor
Nacio de ti
Nacio de mi
De la esperanza
Amor
Amor
Am—Pieeeeeeeeeeeeeeep Frrrrrrt Tut Tuuuuut Tut Tut Piep Tut Pieeeeeep Frrrrrrrt Piep … .
Man riss den guten Julio einfach gewaltsam aus seinen Liebesbekundungen und ich bekam den bis dato vermutlich schlimmsten Ärger meines noch recht jungen Lebens.
„Sag, du willst Computerprogrammierer werden“
Ich war noch ein Kind und verstand natürlich gar nichts von dem, was sich technisch vor mir abspielte. Mein Bruder sagte eines Tages zu mir: „Wenn dich mal jemand fragt, was du später einmal werden willst, sag: Computerprogrammierer“. Warum? Vermutlich war es die damals aufflammende Begeisterung für Computer. Ich vertraute blind auf meinen großen Bruder. Kam diese Frage tatsächlich auf, endete es jedoch immer damit, dass er mir dabei helfen musste zu sagen, was ich angeblich später einmal werden will.
Der Begriff war für mich einfach zu abstrakt und zu allem Übel auch noch zu lang. Computer waren für mich strombetriebene Geräte mit sehr vielen Knöpfen, die eine Art Trickfilm zum Leben erweckten und mich das Geschehen steuern ließen. Es war bunt, es machte tierisch Spaß, es war einfach da und es war einfach wundervoll! Aber Computerprogrammierer … ?
Was macht denn überhaupt so ein Computerprogrammierer? Ich hatte ihn manchmal beobachtet, wie er einige Zeit vor dem Atari saß. Abwechselnd las er etwas in einer Computerzeitschrift, vermutlich dem Bajtek, dann drückte er irgendwelche Tasten. Geduld war für mich, wie vermutlich für jedes Kind, ein absolutes Fremdwort. Das viele Drücken der vielen Tasten dauerte mir einfach zu lange und schien weder ein Ende zu nehmen noch irgendwelchen Sinn zu ergeben. Wenn es keinen Joystick erforderte, dann war es einfach langweilig! Manchmal fluche er etwas. Immer dann, wenn etwas nicht klappte oder wenn ich ihm wieder dazwischen gequatscht hatte. „Wann spielen wir wieder River Raid?“ „Dauert das noch lange?“ „Mir ist langweilig, ich will wieder spielen!“
Man muss zu überzeugen wissen
Eines Tages war es dann soweit. Er hatte – gefühlt Stunden, realistisch betrachtet aber höchstens einige Minuten – etwas in die Tasten gehauen und dann war da plötzlich dieser horizontale Regenbogen über den ganzen Bildschirm. Er schien animiert zu fließen.
„So was machen Computerprogrammierer“, sagte er mir dann. „Wenn du ein guter Programmierer bist, dann kannst du auch deine eigenen Spiele bauen.“
„Meine eigenen Spiele bauen?“
„Ja, wie River Raid oder Montezuma.“
Von da an hatte er mich! Ich wusste zwar noch nicht wie, aber jetzt wollte ich wirklich Computerprogrammierer werden!
Die Zeit des Umbruchs
Ende der 80er, Anfang der 90er begann es in Polen politisch zu brodeln. Die Inflation im Land schoss wie eine Rakete in den Himmel. Das machte irgendwann 10.000 Zloty Münzen und 2.000.000 Zloty Scheine möglich. Die zuvor verbotene Solidarność, ein unabhängiger und selbstverwalteter Gewerkschaftsbund, der 1980 aus einer Streikbewegung entstand, wurde nach Gesprächen mit der kommunistischen Führung am 5. April 1989 wieder offiziell anerkannt.
Am 4. Juni 1989, fanden in Polen die ersten teilweise freien Parlamentswahlen statt. Es kam zum ersten politischen Umbruch und mit der Zeit ging auch die Inflation deutlich zurück. Ende 1990 wurde Lech Wałęsa, der Vorsitzende der Solidarność, zum polnischen Staatspräsidenten gewählt. Die wirtschaftliche Lage blieb jedoch weiterhin schwierig und erschien manchen Menschen als ausweglos.
Irgendwann in dieser Zeit der Umbrüche ließen sich meine Eltern scheiden. Nicht nur wirtschaftlich, auch familiär war die Zeit nun schwierig geworden. Während meine meine Mutter einen Neuanfang wagen wollte, zog es mein Bruder vor bei meinem Vater zu bleiben. Er hatte dort seinen großen Freundeskreis und mochte dies nicht aufgeben. Ich zog also mit meiner Mutter nach Deutschland. Dies war zugleich auch das Ende meines Atari-Zeitalters, zumindest vorerst.
Und heute?
Es dauerte mehr als 30 Jahre, bis ich wieder einen Atari XE besitzen sollte. Genau genommen sogar zwei. Der eine ist ein hoffnungslos vergilbter Atari 130XE, der noch darauf wartet von mir restauriert zu werden. Der andere ist ein nahezu makelloser Atari 800XE. Ursprünglich waren beim 800XE die CPU und drei RAM-ICs defekt, aber inzwischen ist alles reparierter, restaurierter und zwischenzeitlich sogar erweitert worden. Alles ICs sind gesockelt, jeglicher Staub wurde beseitigt, sogar das Netzteil habe ich vorsichtshalber ersetzt.
Ich freue mich natürlich immer, wenn noch neue Spiele für den 8-Bit Atari erscheinen. Den größten Spaß machen aber natürlich immer noch die alten Klassiker. Wenn ich Montezuma’s Revange oder River Raid spiele, dann kommt häufig in mir das Gefühl meiner „alten Kindheit“ auf. Es ist schwer zu beschreiben, aber es fühlt sich noch immer so an, als würde ich auf den Fußboden neben meinem Bruder sitzen und zum Fernseher aufschauen. In solchen Momenten glaube ich manchmal sogar noch zu wissen, wie der Raum roch und wie sich der Teppich unter meinen Händen anfühlte, auf dem wir immer im Wohnzimmer saßen.
Zwar lade ich die Spiele von einer CF-Karte und nicht mehr von einer Datasette, aber ich besitze noch eine von den Kassetten aus meiner Kindheit und der Jugend meines Bruders. Es ist eine schwarze BASF Kassette. Seite A ist mit Atari-Spielen belegt, mit welchen kann ich allerdings nicht mehr sagen. Auf Seite B hatte mein Bruder einen Mix aus polnischen Punk-Bands zusammengemischt, vermutlich alles Lieder der späten 80er-Jahre.
Mein Bruder und ich leben 850 Kilometer voneinander entfernt, aber wir halten regelmäßig Kontakt zueinander. Und es kam wie es kommen musste, mein Bruder sollte recht behalten: Ich arbeite inzwischen als Programmierer. Ich bin kein besonders guter Programmierer, wie ich gerne hinzufüge, aber ich bin Programmierer. Oder Entwickler, wie es sich auch nennt. Und das verdanke ich meinem großen Bruder.
Noch etwas mehr Ostblock-Romantik zum Abschluss
Meine Mutter erzählten mir einmal, dass von der Beantragung unseres Telefonanschlusses in Polen in den 70ern, bis zur endgültigen Verlegung fast zehn Jahre verstrichen. Das Telefon gab es aber immerhin schon nach ca. drei Jahren. Keine Arme, keine Kekse. Keine Parteizugehörigkeit, kein Telefon.
Auch wenn seit dem einige Zeit vergangen war und die Anschaffung eines Atari Heimcomputers deutlich schneller vonstatten ging, die Zeiten in Polen wurden gegen Ende der 80er-Jahre nicht einfacher. Ich vermute daher, dass die Anschaffung eines 8-Bit Heimcomputers um das Jahr 1988 herum meine Mutter einige Abstriche gekostet haben müssen. Wofür ich ihr natürlich noch heute unsagbar dankbar bin!
Im Gegensatz zu dem arbeitenden Teil der Gesellschaft war die Ostblock-Romantik für mich als Kind keine Leidenszeit, wie man vielleicht vermuten würde. Wir hatten wenig, aber ich hatte nie das Gefühl, dass mir jemals irgendwas gefehlt hätte. Meinen Eltern, vor allem aber meiner Mutter sei Dank! Meine einzigen wirklichen Sorgen waren: Ein möglicher Atomkrieg und dass es zu wenig Trickfilme im Fernsehen gab. Zumindest eine dieser Sorgen ist inzwischen vom Tisch.
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