Ein Bart… Verdammt! Wo bekomme ich einen Bart her? Ich, männlich, Teenager, saß in meinem Zimmer und grübelte, eine ganze Weile schon. Es war Mitte der 90er. Ich war 15 oder 16 Jahre alt und wusste, die Zeit war reif für ein Stück ordentlichen Haarwuchses in der Kinngegend.
Gehe zu… Klick… Klick… Klick…
Ich irrte in der Gegend umher, auf der Suche nach einem Bart, einem schön buschigen Bart. Doch da war nichts. Nirgends. Kein Bart weit und breit.
Schau an… Klick… Nichts. Benutze… Klick… Nichts.
„Okay, Simon, genug für heute“, sagte ich leicht genervt und machte frustriert meinen Rechner aus. Simon war nicht mein kleiner Bruder und auch nicht mein bester Freund, sondern ein lustiger kleiner Kerl. Ein Zauberer, mit dem ich so allerhand Abenteuer erlebte. Man kannte ihn auch unter dem Namen „Simon the Sorcerer“ und wir beide waren drauf und dran, in eine Zwergenmine zu schleichen, um einen Edelstein zu bergen. Doch um dort hinein zu kommen, brauchten wir unbedingt einen Bart, mit dem wir uns als Zwerg verkleiden und unerkannt an den Wachzwergen vorbeischleichen konnten.
„Wo finde ich nur diesen Bart?“ Den ganzen Abend über arbeitete es in mir. Mein Hirn pochte und schlug Purzelbäume.
Schnipp, schnapp, Bärtchen ab!
Mittlerweile war es 23 Uhr geworden. Mit offenen Augen lag ich im Bett und dachte nach. Das Licht war aus, völlige Dunkelheit. Eigentlich sollte ich längst schlafen, denn am nächsten Tag war Schule. Aber ich konnte nicht. In Gedanken ging ich die ganze Strecke noch mal ab, die ich tagsüber in der Fantasywelt von Simon the Sorcerer zurückgelegt hatte. Screen für Screen. Jedes Detail. Ich musste etwas übersehen haben.
„Von Calypsos Hütte geht’s hier in die Stadt… Da drüben liegt das Haus des Schmieds. Da hatte ich das Seil mitgenommen…“, erinnerte ich mich. „Dort ist die Schenke, okay… Und hier beginnt schon der Wald… Wer saß noch mal in der Schenke?… Da waren die vier Zauberer im Hinterzimmer… Und vorne?… Moment!“
Ich war plötzlich hellwach, die Augen weit aufgerissen. Mein Zimmer immer noch stockdunkel. Doch die Dunkelheit wich langsam einem Bild. Es war das Bild der Schenke. Ich sah sie förmlich vor mir, um mich herum, jedes Detail von ihr: die schweren Holztische, das flackernde Kaminfeuer, die Gestalten, die dort herumlungerten, genau wie im Spiel.
Und da war er, direkt vor meinem geistigen Auge: der Herr Zwerg. Klein von Statur, fiel er mir erst gar nicht auf. Er lag schlafend – vermutlich seinen Rausch ausschlafend – einfach nur da, ganz friedlich, hatte seinen Kopf auf der Tischplatte abgelegt. Neben ihm ein paar Humpen Bier.
Ich musste nicht lange suchen, bis ich das kleine, aber entscheidende Detail bemerkte, das ich tagsüber gar nicht bewusst wahrgenommen hatte: seinen grauen, für einen Kerl dieser Größe doch recht üppigen Bart. „Ohhhh Mann!“ brüllte es sanft aus mir heraus, als ich mich in meinem Bett aufsetzte. „Das ist doch sicher der Bart, den ich brauche!“ Ich wusste, Simon hatte eine Schere in seinem Zauberhut, die ich einige Zeit vorher im Spiel gefunden hatte. Und ich war mir sicher, mit dieser Schere würde ich dem Zwerg seinen Bart stibitzen können.
Benutze Schere mit Bart… Klick…
Ich versuchte es am nächsten Tag, gleich nach der Schule. Und tatsächlich: es klappte. Schnipp, schnapp, Bärtchen ab! Endlich hatte ich Zugang zur Zwergenmine und machte mich mit Simon auf die Suche nach dem Edelstein. Meine Reise durch diese fantastische Fantasywelt ging weiter – und sie würde in den nächsten Wochen noch viel abenteuerlicher werden.
Wenn du spielst und nichts mehr fühlst
Szenenwechsel. Sprung ins Jetzt.
Ich bin mittlerweile 36 Jahre alt. Die spannenden Abenteuer, die ich mit Simon, Zak, Guybrush und meinen anderen Spielhelden erleben durfte, sind Videospielgeschichte. Nur manchmal schieben sie sich bruchstückhaft zurück in mein Gedächtnis. Es sind nur noch vage Erinnerungen, doch wenn sie in meinem Kopf sind, dann spüre ich wieder – ganz blass, aber immerhin – den Spaß, den ich damals hatte; die Euphorie, die in mir aufflammte, als ich Rätsel löste und Geheimnisse lüftete; die Frustration, als ich an einer Stelle des Spiels wieder und wieder scheiterte; den Ärger, als das letzte Save Game futsch und stundenlanges Gameplay verloren war.
Ich habe gespielt und gefühlt – und das war großartig.
Wenn ich heute spiele, fühle ich nichts mehr. Hier und da vielleicht einen kurzen Adrenalinschub, wenn ich von allen Seiten beschossen werde und meine Gesundheit dramatisch gegen Null geht. Kann sein, dass ich dann den virtuellen Tod sterbe. Ist okay. Letzten Checkpoint laden und noch mal probieren. Kann auch sein, dass ich im letzten Moment ein Medikit finde. Das ist auch okay. Dann geht es direkt zurück in die Schlacht. Am Ende gewinne ich wieder und denke mir: „Gut, das war’s. Und jetzt?“ Es ist eine rhetorische Frage.
In den vergangenen 20 Jahren wurden die Grafiken besser, die Welten realistischer, das Gameplay dynamischer, der Sound satter. Aber was auch immer in meinen heutigen Spielwelten geschieht, es scheint mir alles so viel weniger bedeutungsvoll zu sein als all die fantastischen Abenteuer, die ich früher erleben durfte.
Woran liegt das? Die Gründe, die mir einfallen, sind ebenso vage wie die bruchstückhaften Erinnerungen an die vielen tollen Momente von damals. Ist es schlichtweg mein Alter und die damit einher gehende Verantwortung, sich vorrangig um Familie und Einkommen kümmern zu müssen? Sind es die anderen, die einem ständig eintrichtern, man müsse „mit beiden Beinen auf der Erde“ stehen? Auf der echten Erde, wohl gemerkt, nicht Minecraft. Haben sich vielleicht nur die Prioritäten in meinem Leben verschoben? Laufe ich in Wahrheit einer verstaubten, nostalgischen Sehnsucht hinterher, die ich eigentlich psychologisch aufarbeiten müsste anstatt sie immer wieder mit schönen Erinnerungen an längst vergangene Tage zu nähren?
Gerade jetzt, als ich diese Zeilen schreibe, vermisse ich jedenfalls die Zeit, in der ich genau wusste, warum ich spielte; in der ganz klar war, dass ich mich auf all diese fantastischen Reisen begeben musste; dass ich keine andere Wahl hatte, als den gefährlichen Drachen zu besiegen und ebendiese Spielwelt, die nur in meinem Rechner und in meinem Kopf existierte, zu einem besseren Ort zu machen.
Manchmal war es auch nur die Suche nach einem Zwergenbart, die alternativlos für mich war. Ich musste ihn einfach finden. Ich musste! Es war meine Aufgabe, hier und jetzt, und diese Aufgabe zu haben war wunderbar.
Wird es jemals wieder Spiele geben, die mich so begeistern wie damals? Oder habe ich das Spielen verlernt?
38 Kommentare