Heinrich Lenhardt (Power Play, PC Player) stellt in seinem neuen Retro-Buch Klassiker und Kuriositäten des Spielejahrgangs 1985 vor. »Lenhardts Spielejahr 1985« ist eine amüsante Zeitreise in die verspielte Vergangenheit voller Anekdoten, Hintergrundinfos und Zitate. » Link zu Amazon
Erstaunlich, was so alles im C64 steckt: Hier ein VIC, da ein SID, und kleine Männchen wurden auch schon gesichtet. Dieser possierliche Vorläufer von Sims und Tamagotchi lässt uns ins digitale Puppenhaus kiebitzen und mit dessen eigenwilligem Bewohner in Kontakt treten.
Wer weiß denn heutzutage schon, was in seinem bevorzugten Computergerät so alles drin ist? In der Heimcomputer-Ära konnte man Hardware-Versteher noch häufig in freier Wildbahn antreffen. Gewiefte Bastlernaturen, die mit den Geheimnissen der Platine vertraut waren und jeden Chip mit Vornamen kannten. Doch auch diese Helden des Lötkolbens staunten nicht schlecht, als die Existenz kleiner Männchen nachgewiesen wurde, die im Inneren eines Computers leben.
Es bedurfte schon „einiger Dutzend Forscher, hunderttausender Dollars und des modernsten medizinischen Equipments“, um endlich „den Beweis für die Existenz der kleinen Computerbewohner zu liefern“, wie die deutsche Werbung für Little Computer People schelmisch versicherte. Activision vermarktete sein eigenwilliges Spiel als „Forschungssoftware“, bei der ein virtuelles Haus das Männchen anlockt – günstiger Wohnraum ist einfach unwiderstehlich. Dafür hat der pixelige Bewohner kein Recht auf Privatsphäre; ständig können wir in die Zimmer seines Puppenhauses spähen.
Bei den investierten Dollars handelte es sich nicht nur um einen witzigen Werbespruch. Activision steckte eine sechsstellige Summe in die Entwicklung eines Projekts namens Pet Person, nachdem ein von Erfinder Rich Gold demonstrierter Prototyp das Firmenmanagement entzückt hatte. Gold war vom Erfolg des Pet Rock inspiriert, einem kurzlebigen US-Phänomen der Siebzigerjahre. Damals hatte Gary Dahl gewöhnliche Steine als anspruchslose „Haustiere“ komplett mit Behausung und Handbuch verkauft. Warum also nicht Belustigungs-Software anbieten, mit der man nicht viel machen kann, die aber für Amüsement und Gesprächsstoff sorgt?
Die Idee vom digitalen Goldfischglas hatte einen Haken, wie David Crane in Retro Gamer Ausgabe 79 resümierte: „Das Schöne an Pet Rock war, dass du etwas, das nichts gekostet hat, für 10 Dollar verkaufen konntest – aber nur, wenn du es mit einer tollen Story versehen hast. Pet Person war das Gegenteil: Seine Kosten waren astronomisch, weshalb es zu einem hohen Preis verkauft werden musste – und deshalb musste es auch einen echten Unterhaltungswert bieten“.
Crane war fast ein Jahr lang damit beschäftigt, das Projekt zu retten. Er programmierte Interaktionen und Minispiele, die Marketingabteilung steuerte das „Haus auf Diskette“-Konzept bei. Jeder Käufer sollte das Gefühl haben, es mit einer individuellen Persönlichkeit zu tun zu haben. Nicht alle Computermännchen sind gleich, beim ersten Programmstart werden Name, Kleidungsfarbe und Persönlichkeit zufällig kombiniert. Wenn damals der ganze Bekanntenkreis denselben Bewohner hatte, lag es wohl an einer Raubkopie: Die meisten Crack-Versionen installierten lediglich eine feste Person.
Doch egal ob Original oder Backup, der ungewöhnliche Spielablauf sorgt für allgemeine Verwunderung. Little Computer People bietet keine konkreten Aufgaben oder Ziele. Wir können nur indirekt mit dem simulierten Hausgast in Kontakt treten. Durch Tastatureingaben liefert man Fressalien oder eine neue Schallplatte, tätschelt liebevoll den Kopf und lässt weniger zärtlich den Wecker klingeln. Will das Männchen auf sich aufmerksam machen, klopft es an den Bildschirm, dazu gibt es ein zur CRT-Technologie passendes Glasgeräusch.
Der Hausbewohner agiert eigenständig, holt sich ein Glas Wasser, liest ein Buch, spielt am Computer oder geht ins Badezimmer. Manchmal setzt er sich in einen Sessel und telefoniert. Dabei macht er sinnfreie Brabbelgeräusche, die das Kauderwelsch-Gequassel der Sims vorweggenommen haben. Redet man ihm gut zu (das Zauberwort „please“ nicht vergessen), lässt sich das Männchen zu bestimmten Aktionen überreden oder spielt mit diesem organischen Lebewesen, das auf der anderen Seite des Bildschirms sitzt, sogar eine Runde Karten.
Je nach Persönlichkeit, Lust und Laune werden unsere Vorschläge befolgt oder ignoriert. Groß ist die Freude, wenn der Kleine auf uns hört: „Setz‘ dich ans Klavier“, „Entzünde ein Feuer im Kamin.“ In Briefen verrät unser Gast, wie er heißt und wo ihm der Schuh drückt. Er beschwert sich, wenn wir zu wenig Zeit mit ihm verbringen oder vergessen haben, den Wasserspender aufzufüllen. Das Wohlbefinden steht ihm auch ins Gesicht geschrieben. Vernachlässigte Computermännchen ziehen eine Schnute; werden sie wegen Nahrungsmangel krank, sieht man das an der grünen Hautfarbe.
Die erste blieb auch die letzte Generation der kleinen Computerleute. David Crane hatte „hunderte von Plänen für neue und bessere Versionen“, doch die Geschäftsführung lehnte dankend ab. Little Computer People fand durchaus seine Käufer, blieb aber ein Verlustgeschäft: „Weil zu den anfänglichen Entwicklungskosten fast ein Jahr meiner Arbeitszeit dazu kam, war das Produkt nie profitabel“, erklärte Crane. Ob in heutigen Computern noch kleine Männchen leben, lässt sich deshalb nicht mit letzter Sicherheit sagen. Vielleicht müsste jemand ein neues virtuelles Haus bauen, um sie hervorzulocken.
HINTERGRUND
»Das Marketing für das Produkt war wirklich gut. Es war amüsant, sich vorzustellen, dass der kleine Kerl schon immer in deinem Computer existierte und einfach durch das Geschenk eines neuen Hauses zum Vorschein kommt. Wir hatten Spaß, dieses Konzept in unseren Presseinterviews durchzuziehen. Auf eine Frage wie „Wie viele Wörter gibt es im englischen Sprach-Parser?“ antworteten wir: „Was meinst du damit? Er ist lebendig, er kann jedes getippte Wort verstehen“. Die Leute, die auf das Produkt abfuhren, waren regelrechte Fanatiker. Wir erhielten einen Brief von einer Großmutter, die zwei Commodore-Computer und zwei Monitore gekauft hatte, damit ihre beiden Enkel ihre eigenen Männchen haben konnten, wenn sie auf Besuch waren.
Persönlichkeit und Status jeder Computerperson wurden immer wieder auf Diskette gespeichert. Der Commodore 64 hatte einen Betriebssystem-Bug, der den „Gehirn“-Schreibbereich beschädigen konnte, das passierte etwa bei jeder tausendsten Diskette. Die Betroffenen waren wegen des Todes ihres Computer-Männchens so verzweifelt, dass ich für unsere Kundendienstabteilung ein „Hospital“-Programm entwickelte. Wenn du deine Diskette einschicktest, konnte deine kleine Computerperson wiederbelebt werden, in den meisten Fällen mit intakter Persönlichkeit. Daran kann man sehen, dass das Spiel eine kleine, aber sehr passionierte Anhängerschaft hatte.«
— David Crane (Quelle: Replay: The History of Video Games)
HISTORISCHE PRESSE-ZITATE
»Im Folgenden möchte ich etwas über Carl berichten, der in meinem C64 zu Hause ist. Carl hört gerne Musik und tanzt ab und zu. Noch lieber aber sieht er fern. Einmalig ist Carl beim Pokern, er hat mir schon mehrere Monatsgehälter abgeluchst. Carl ist auch ein Philosoph: Er fragt sich einerseits, was er mit dem ganzen Geld in meinem Computer soll und will andererseits wissen, ob in seinem Computer in meinem Computer auch jemand lebt. … Man muss LCP einfach einmal erlebt haben. Es ist weder Spiel noch Simulation, sondern einfach eine völlig neue Art von Beschäftigung mit dem Computer, und dabei sogar eine der einfallsreichsten, witzigsten und fesselndsten. Wer unbedingt einen High-Score sehen will, sollte die Finger vom LCP lassen. Allen andern kann es fast uneingeschränkt empfohlen werden.«
— Boris Schneider in 64’er 1/1986
NEUBETRACHTUNG
»Als Spieler konnte man sich bereits 1985 ziemlich gestresst fühlen. Königreiche waren zu retten und Galaxien zu erforschen, Strategie und Durchhaltevermögen wurden ebenso gefordert wie Nervenstärke und brillante Reflexe. Da wirkte ein so genügsames Programm wie Little Computer People wie der reinste Erholungsurlaub: Eine meditative Entspannungsübung, bei der man mehr guckt als macht, gemütlich herumwurstelt und sich freut, wenn ein Kommunikationsversuch mit dem simulierten Männchen klappt. Der Pixel-Charme hat die letzten drei Jahrzehnte ebenso gut überstanden wie die wohldosierten Soundeffekte.
Rein spielerisch gesehen ist das alles recht windig. Es gibt keine Szenenwechsel oder Langzeitaufgaben, Beobachtung und Pflege der Little Computer People haben einen starken Selbstzweck-Beigeschmack. Dass die Fachpresse seinerzeit dennoch wohlwollend über das Programm urteilte, ist seiner frappierenden Originalität zu verdanken. Es erschien rund 15 Jahre vor Die Sims, sich quasi selbst spielende Casual Games waren ebenso unbekannt wie Bildschirmschoner. Das war mal etwas ganz anderes, und dann auch noch so humorvoll und liebevoll inszeniert, bis hin zur schönen Schachtel mit heiterem Handbuch und Besitzerurkunde.
Ernsthaft spielen muss man das heute nicht mehr, einfach weil nach der ersten Stunde nicht mehr viel Neues passiert. Doch als Studienobjekt verdient Little Computer Project immer noch unsere Beachtung, weil es mit seinem indirekten Experimental-Spielablauf den modischen Strömungen des Mediums weit voraus war. Und weil es einem heute noch warm ums Herz wird, wenn der Pixel-Knirps einen Brief tippt, in dem er sich über unsere Zuwendung bedankt.«
— Heinrich Lenhardt, 5/2015
Schreibe einen Kommentar