Der hat gesessen. Die vormals sorgfältig gebügelte rote Karateka-Kluft zerknittert unsanft auf dem gelben Boden pixellierter Tatsachen, die explodierende Faust hat auf dem C64 seinen Weg gefunden.
Ebenfalls angekommen sind im Moment des großen sportlichen Erfolgs die Eltern, aufgebracht vom Elternsprechtag zurückgekehrt: „Du hast morgen Entscheidungsprüfung in Biologie!” Auch das hat gesessen: Gedanken über die bewusstseinsreinigende Dissonanz zwischen High Score-Heldentum und schulischen Notensystemen.
Ausbildung umschreibt den Lernprozess und die einhergehende Veränderung des Verhaltens, belohnt mit einer qualitativ gewichteten Bewertung einer Leistung – wie im Grunde genommen ein Spiel auch. Aber im Spiel fühlte man sich einfach selbstbestimmter: man wählte die Kassette mit den bösen Außerirdischen am Inlay oder die Diskette mit einer wackeren Heldentruppe – keine Spur von der spannenden Materie der Photosynthese.
Mangelhafte schulische Leistungen wollte man paradoxerweise durch eine Fokussierung auf den Drachen im dritten Level von Chris Butlers Ghosts ’n Goblins auf dem C64 vermeiden. Man flüchtete von einer unangemehmen Realität in eine scheinbar gestalt- und beherrschbare Umgebung. Plötzlich konnte man den Stecker ziehen, wenn die handverlesene The Bard’s Tale Party nur ein Quadrat vom Review Board entfernt selbst den Kürzeren zog.
In der Schule ging aber alles seinen grundsätzlich unveränderbaren Gang, einzig determiniert von der Schulleistung, die zwar die Heldentruppe nicht wiederbelebte, aber Eltern und Lehrkörper verzücken würde. Zahlreich sind daher besondere Erinnerungen, da der Heimcomputer oder die Spielekonsole die Leistung auf dem Parkett des Unterrichtssystems nachhaltig beeinflusste.
Nicht genügende Spione
Da laufen sie, die langnasigen Spione in der MAD-Comic Umsetzung von First Star Software. Unglaublich, das alles, ein durch und durch allerliebst animierter Cartoon, Spieler-gesteuert und ungemein amüsant. Gerade eben hatte ich meine Vorbereitungen für die nächste Mathematik-Schularbeit abgeschlossen, die Zerstreuung vor dem C64 schien wohlverdient.
Der Morgen darauf vergeht wie im Fluge, mit flotten Füllfeder-Strichen löse ich Beispiel für Beispiel, denn die beiden Spionen warten zu Hause. Keine 24 Stunden später überholte mich eine andere Gewissheit: so eine negative Beurteilung tut ganz schön weh. Es winkte das Übungsheft und nicht der knackige Einschalter an der Brotkiste.
Vom Physiktest flankiert
Schule und Computerspiele wetteifern um die Gunst des noch formbaren Geistes. Jeder Test, jede Schularbeit wirkt in sicherer, weiter Ferne, zum Leidwesen des Joysticks, ehe sie endgültig unvereinbar abermals aufeinanderprallen: Vietnam von SSI lockt mit abstrakten, strategischen Herausforderungen. Oceans Platoon würde erst zwei Jahre später erscheinen, das fordernde Strategiespiel agiert als gelungenes Substitut.
Plötzlich bricht der Vietcong aus dem Dschungel heraus, meine Einheiten sind in Bedrägnis, untermalt vom Maschinengewehr-Knattern des SID-Chips: „Das ist aber nicht gut”, sagt eine wohlvertraute Stimme aus der Familie, der ich, ob mangelnder strategischer Brillianz peinlich berührt entgegne: „Ja, ja, ich weiß” und mit einem Joystickschlenkerer die Soldaten auf die Flanke des Gegners ansetze: „Nein, das meine ich nicht, Andreas, aber das!”
Ein Finger zeigt auf meine Physik-Mitschrift, die auf meinem Schoß liegend im Schatten des Competition Pro um Aufmerksamkeit bittet. Es kommt wie es kommen muß: auf eine schlechte Note folgen die Einsicht und eine wesentlich bessere Nachfolgeleistung, während der vereinsamte Rechner Staub ansetzt.
Konvertierungs-Latein
Als Weihnachten 1987 eine wahre Flut an lang ersehnten Arkade- und Lizenzumsetzungen auf den geneigten Schüler hereinstürzt, der sich einem ersten, umfassenden Latein-Vokabeltest stellen muß, hatte die lateinische Grammatik keine Chance: was dem gelehrten sein Abl.Abs., das ist dem anderen sein Magical Sound Shower in U.S. Golds Out Run-Konvertierung.
Die Noten der fröhlichen Arkademusik hatten nachhaltig alles Wissen um Deklinationen und Konjugieren „weggespült”, soviel stand jedenfalls fest, als mich der Test an einem verregneten Dienstagmorgen anlächelte. Nach tumultreichen Wochen war die Notenlage abermals wieder im Reinen und das Out Run-Erlebnis durchgespielt. Dictum factum würde der Lateiner sagen.
Möge die Macht mit der Schularbeit sein
Erfahrung macht natürlich irgendwann weiser und so verlief bereits der 1. März 1988 ganz anders: wieder einmal sollten Zahlen und Formeln den verkannten Joystick-Maestro bemühen, der sich an diesem Montag aber bewusst und erfolgreich einem Ziel entgegenrechnet: Domarks Amiga-Umsetzung von Ataris Vektorgrafik-basierten Star Wars lag schon das ganze Wochenende lang verlockend am Tisch.
Der Versuchung sich widersetzend, bemühte ich mich, Vektoren selbst auf dem Papier zu berechnen, anstatt diese einfach dumpf auf dem getreuen 1084 zu konsumieren.
Umso größer dann die Freude, am besagten Tage nach verrichteter Schularbeit endlich die Diskette in den Amiga 500 schieben zu können, mit einer interessanten Selbstbeobachtung: Etwas war ganz anders als sonst, denn die Realität hatte mich endgültig eingeholt.
Schule und Joystick im Einklang
Noch heute ist mir diese eine Schularbeit vom 1.3.88 in Erinnerung, das Star Wars-Spiel – so gut es auch damals war und so zufrieden ich auch die Polygone zerbröselte – wurde nie mehr diese Sensation, wie einst ein Way of the Exploding Fist.
Ich hatte begonnen, die Reize der Computerspielerei zu akzeptieren, ihre Gesetzmäßigkeiten hinzunehmen, so als hätte man sich daran gewöhnt, dass der Montag immer Grau und die Suppe immer kalt sind. Tatsächlich vollzog sich eine für die Unterhaltungsindustrie gefährliche Veränderung, da aus dem nimmersatten, geprägten Spielekonsument, einem „wahren Freund”, eine anspruchsvolle „Klette” wurde, die zwar viel Information und neue Ware wünscht, aber das vorhandene Interesse keine signifikanten Umsätze generiert. So einen vormals enthusiasmierten Spieler zurückzuholen ist zweitaufwändig und kostenintensiv.
Die Schule und die Computerspiele waren jedoch endlich im Einklang, gaben sich ballettartig die Hand, nie mehr sollte die eine Leistung die andere aufheben – ehe sich nicht die Reize signifikant ändern.
Ein „F” für zuviel B-Wing
Der Amiga wurde eingemottet, strebsam kartonierte man das Amiga & Video Buch aus dem Hause Markt & Technik, um Platz zu schaffen für tragende Werke der Literatur- und Sprachwissenschaft. An die Stelle des A500 trat ein frischgebackener 486 66 Mhz, mit 4 MB RAM und markiger SVGA-Karte. Gemeinsam mit einer 100 MB-großen Festplatte stand dem Studiumerfolg nichts mehr im Wege.
Bis auf Star Wars: LucasArts hatte 1993 mit X-Wing einen vollwertigen „Space Combat Simulator” auf den MS-DOS Spielemarkt gebracht, der nie für die 16 Bitter erschienen ist. Dazu noch 256 Farben, Soundblaster-Krachen und kernige Sprachausgabe und um den Fleiß des frisch gebackenen Studenten war es geschehen. Vereinsamt vergilbten die lehrreichen Bücher im Zimmer, während Mission für Mission in Ed Kilhams und Lawrence Hollands X-Wing pflichtbewusst abgearbeitet wurden.
Als eine Prüfung Anfang März 1994 nur knapp bewältigt wurde, fasst man sich den Vorsatz, nie wieder den Vorlesungsstoff zu schmähen. Aber die fleißige Technologiebranche und wackere Programmiergenies setzten noch eins drauf.
Zur Hölle mit dem Uni-Studium: Doooom!
Es ist ein grauer Donnerstagvormittag im November 1994. Am Nachmittag steht an der Universität ein doch komplexer Test an, aber die faszinierenden 3D-Welten des Doom 2: Hell on Earth verlangen nach Aufmerksamkeit. Selbst die Universität mit ihrem weitaus größeren Lernstoff vermag nicht den angehenden Akademiker von den scheinbar so realistischen Grafiken in der Ego-Perspektive loszureißen.
Mit dem Beginn der First-Person Shooter wiederholt sich ein ähnlicher Qualitäts- und Erfahrungssprung wie einst bei Way of the Exploding Fist oder Spy Vs Spy, aktiviert den einst erreiften, abgeklärten Spieler abermals und belastet die Leistungsfähigkeit des Studenten, des Menschen an sich einseitig. Es scheint, als würde die Aktivierung von einer Angst herrühren, die Zukunft womöglich zu verpassen.
Die Stase der Bildungswelt und das virtuelle Heute
Technologie wird durch die spielbedingte Einbeziehung der Menschen direkt erlebbar. Der Spieler erschließt die technologische Errungenschaft einer flüssigen Animation in Exploding Fist durch bewusste Joystickbewegungen und „begreift” so den Stand der Technik. Der Reiz des Neuen gegenüber althergebrachten Mathe-Formeln oder lateinischen Texten über Pflugscharen im Dienste Cäsars war unbestreitbar.
Heute werben diverse Hersteller mit der wiederauferstandenen Virtual Reality. Schon steigt das Interesse, nach Schul- und Studienalltag nun auch das Berufsleben in Frage zu stellen.
Mit Virtual Reality bietet sich eine abermals völlig neue Spielerfahrung an, die noch nicht in kollektive Verhaltensmuster verspeichert ist. Es ist bezeichnend, wie Entwickler Rocksteady in seinem Batman Arkham VR Spielern als erste Aufgabe das Anlegen der Batsuit und seiner Accessoires beschert; durch die neuartige Technik ist der Spieler von einer trivialen Handlung – quasi dem täglichen Krawattenbinden – vollends begeistert.
Sprichwörtlich gefangen in einer virtuellen Umgebung, macht man sich bereit für einen weiteren Tag in der Stadt Gotham, Utility Belt und Baterang inklusive – aber exklusive der Realität, die unentwegt mit möglichen „echten” Zielen und Leistungen lockt. Aber wie sah das Aristoteles nochmal? „Maßvoll” soll man seinem Leben nachgehen, mal von hier und da und dort und gut.
Spiele als Alltagsbewältigung vor dem virtuellen Morgen
Der Konflikt zwischen Schulnoten und Hi-Score Table ist Synonym für ein tiefes menschliches Verglangen, das real erlebte zu verarbeiten. Die immanente Erfahrung des Erfolgs, die momentane Korrektur des Scheiterns durch eine weitere Runde geben dem Spieler eine attraktive Form der Kontrolle über sein Dasein zurück, wie sie subjektiv empfunden im Alltag ab und an verlorengegangen scheint und mitunter nicht zu realisieren ist.
Durch das Scheitern in der Realwelt manifestieren sich intensive Assoziationen mit einst geliebten Spielen. Manchmal holt einen das Schuldbewusstsein sein, die Erkenntnis, mehr Fleiß in der Schule wäre besser gewesen. Oder die Sensation, comichaft animierte Sprites wie einem Comicbuch entsprungen zu bewundern, deren Erinnerung viel zu stark wirkt, als dass das reale Scheitern noch großes Gewicht hätte. Eines ist aber klar.
Ob nun Pixel, Papier oder Holzfiguren: Spiele, wie auch andere Betätigungen, sind Vehikel lang vergessener Erinnerungen. So eine Video- oder Computerspielgeschichte, die schenkt einem Erfahrungen und das Lächeln vergangener Stunden wieder aber bereichert den Spieler gleichzeitig jenseits einer nostalgischen Verklärung um Zusammenhänge, um Wissen und ein Verständnis, die alle einst unerreicht.
So erschließt die individuelle Auseinandersetzung mit der eigenen Spielvergangenheit insbesonders aus dem Blickwinkel der intensiven Schulzeit betrachtet und mit einem Lächeln im Gesicht, einen neuen, frischen Blick für das Morgen. Auch das ist Retro.
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