Deutschland im November 1989: Tausende von Menschen stehen vor der Absperrung und verlangen lautstark endlich durchgelassen zu werden. Dabei wedeln einige aufgeregt, andere zunehmend wütend, mit dem Papier, das ihnen eigentlich den Durchlass gewähren sollte. Quälend lange und schier endlos scheinende Stunden später gelingt es ihnen, die Absperrung zu passieren. Anschließend wird noch lange, fröhlich und ausgelassen gefeiert.
Wer jetzt an den 9. November und den Grenzübergang „Bornholmer Straße“ im damals noch geteilten Berlin denkt, hat das Offensichtliche vor dem geistigen Auge und liegt daher natürlich auch nicht falsch.
Was aber vermutlich nur sehr wenige Menschen wissen: Am 11. November, zwei Tage nach dem Fall der Berliner Mauer, spielten sich auf dem Messegelände in Köln vor dem Eingang zur Halle 6 ganz ähnliche Szenen ab.
Es liegt mir fern, die historische Bedeutung beider Ereignisse auch nur im Ansatz zu vergleichen. Dennoch bedeutete dieser Tag in Köln-Deutz für mich bereits das zweite einschneidende Erlebnis binnen 48 Stunden – mit dem Unterschied, dass ich dieses Mal hautnah dabei sein sollte.
Alles begann mit einer unscheinbaren Anzeige
Etwa zwei Monate vor den geschilderten Ereignissen fischte ich, wie gewohnt, das monatlich erscheinende AMIGA-Magazin, welches ich im Abonnement bezog und meine bevorzugte Lektüre zum Computerhobby war, aus unserem Briefkasten.
Ich stöberte ein wenig in der neuen Ausgabe herum, las hier ein paar News, dort einen Testbericht über eine neue Turbokarte für meinen Amiga 500. Den Amiga besaß ich bereits seit zwei Jahren und er stand längst im Mittelpunkt meiner Freizeitgestaltung. Bald stieß ich auf das folgende Anzeigenmotiv.
Eine eigene Messe rund um den Commodore Amiga?! Das klang damals einfach zu verrückt, um wahr zu sein!
Bis dahin bestanden Ereignisse rund um den Amiga für meine Freunde und mich vornehmlich darin, uns mal zu dritt, mal zu viert, vor dem geliebten Heimcomputer zu versammeln, uns in Ports of Call gegenseitig in den Ruin zu treiben oder in Barbarian: The Ultimate Warrior die Köpfe rollen zu lassen, während wir literweise Apfelsaft tranken und Unmengen bunter Stachelbeer-Bonbons oder „Riesen Karamell“ vernichteten.
Gänzlich unbescheiden kündigte nun diese ganzseitige Anzeige mit der auf den Namen AMIGA ’89 getauften Messe in Köln nichts Geringeres als „das Amiga-Ereignis des Jahres“ an.
FAKTEN: LAURA LONGFELLOW
Über das Layout der Anzeige möchte ich hier nicht allzu viele Worte verlieren, davon mag sich jede*r Leser*in selbst ein Bild machen. Herausragende Anzeigengestaltung sah jedoch auch 1989 sicher schon ganz anders aus.
Erwähnenswert ist jedoch, dass es sich bei der Dame, deren Konterfei so professionell freigestellt und in den moosgrünen Hintergrund eingefügt wurde, um Laura Longfellow handelt. Sie bekleidete zu der Zeit die Position der Sales Managerin bei NewTek, die mit „DigiView“ und „DigiPaint“ bereits zu einer festen Größe in der Amiga-Szene zählten.
Ein Schwerpunkt der Firma aus Kansas (USA) lag auf der Digitalisierung von Bild- und Videomaterial, für deren Demonstration sich Laura als Model zur Verfügung stellte und so praktisch zum Gesicht von NewTek wurde – was die Organisatoren der AMIGA ’89 offenbar dazu bewog, sie ebenfalls zum Gesicht ihrer Werbekampagne zu machen.
Immerhin ein erstes Versprechen konnte das Inserat postwendend einlösen: Es fanden sich tatsächlich weitere Details und Informationen zur Messe im Heft. Der Begleitartikel kündigte insgesamt über 70 Aussteller an, von denen Ariolasoft sich den größten und prominentesten Stand gesichert habe, auf dem die Besucher die heißesten Spieleneuheiten nicht nur bestaunen, sondern auch würden spielen können. Auch Kingsoft habe angekündigt, auf der AMIGA ’89 vertreten zu sein, ebenso wie die GFA Systemtechnik aus Düsseldorf, die unter anderem ihren Basic-Compiler und den Assembler für den Amiga vorstellen würde.
Wenn man dem Artikel Glauben schenken durfte, sollten auch im Hardwarebereich viele namhafte Anbieter und spannende neue Produkte auf die Amiga-Fans warten. Neben Great Valley Products aus den USA, bekannt für ihre Turbokarten und SCSI-Adapter, sowie der Firma Kupke Computertechnik aus Dortmund mit ihren unter dem Markennamen „Golem“ vertriebenen Speichererweiterungen, Festplatten und anderer Peripheriegeräte habe sogar NewTek angekündigt, ihr Debüt in Europa mit einem großen Stand in Köln zu feiern.
Selbstverständlich gäben sich mit Commodore Deutschland und dem AMIGA-Magazin auch die beiden Schirmherren der Messe auf jeweils eigenen Ständen die Ehre – die Gelegenheit schlechthin, Mitarbeiter*innen beziehungsweise die Redaktion persönlich kennen zu lernen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
Aber die mit Abstand beste Nachricht war, dass die größte Amiga-Party Europas bereits in weniger als acht Wochen steigen sollte.
Ich hatte den Artikel noch nicht bis zu Ende gelesen, da war mir bereits klar: „Stephan, da musst du hin, unbedingt!“ – nein, halt, noch viel besser: „Da müssen wir hin!“ – das wird in der Tat das Ereignis des Jahres!
Ich nahm das Heft gleich am nächsten Tag mit in die Schule und hielt es meinen beiden Kumpels Achim und Thomas direkt unter die Nase. Da auch sie mindestens so große Amiga-Freaks waren wie ich, bedurfte es erst gar keiner Überzeugungsarbeit. Einhellig und voller Vorfreude beantworteten wir Laura Longfellows Frage aus der Anzeige: „Klar sind wir dabei!“
Mit dem ‚Weißen Blitz‘ nach Köln
Die Frage nach dem „Ob“ war also binnen 24 Stunden geklärt; nun galt es, die Frage nach dem „Wie“ zu beantworten. Köln lag von unserem Landkreis im Westen Niedersachsens zwar keine Weltreise entfernt, aber gut und gerne 230 Kilometer, einfache Strecke und inklusive Autobahn, waren dann doch zu bewältigen. Bloß besaß, mit Ausnahme meiner Wenigkeit, noch niemand von uns den Führerschein. Auch mein „rosa Lappen“ war zu diesem Zeitpunkt noch druckfrisch und keine zwei Monate alt. Außerdem verfügte ich natürlich über kein eigenes Auto.
Wie es mir in den folgenden Tagen oder Wochen gelang, meine Eltern davon zu überzeugen, mir den VW Golf II meiner Mutter zu überlassen, damit drei adoleszente Computerfreaks im November die Reise nach Köln würden antreten können, kann ich mir bis heute nicht erklären.
Nach nicht einmal 25 gefahrenen Kilometern – wir hatten gerade unsere Kreisstadt Nordhorn erreicht – wurde klar, dass meine Eltern guten Grund gehabt hätten, mir diesen Wunsch abzuschlagen. Im jugendlichen Übermut war ich fest davon überzeugt, dass ich den vor uns fahrenden Linienbus noch vor der sich nähernden Kurve ohne Mühe würde überholen können, indem ich dem Golf Diesel Automatik mittels Kickdown ordentlich die Sporen gäbe.
Wir hatten den Bus noch nicht einmal zur Hälfte überholt als wir ernüchtert feststellten, dass wir uns nicht in Stunt Car Racer befanden und Mamas schneeweißer Golf mit seinen 45 Pferdestärken trotz Kickdown keinen schlappen Hering vom Teller zog. Zu unserem Glück war immerhin die Straße breiter als die Strecken in Stunt Car Racer und so konnte der Pkw, der uns in der Kurve entgegenkam, gerade noch ausweichen, ohne dass auch nur einem der Beteiligten etwas passierte.
Nach dieser adrenalingeladenen wie heilsamen Erfahrung, ließen wir es auf den restlichen 200 Kilometern deutlich defensiver angehen und erreichten Köln tatsächlich unversehrt und in bester Stimmung irgendwann zwischen neun und zehn Uhr am Vormittag.
Auf ins Getümmel
Die exakte Ankunftszeit ist mir nicht mehr präsent, aber ich weiß noch, dass wir sehr früh aufgebrochen waren – auch weil wir keine Ahnung hatten, wie lange wir bis Köln brauchen würden. Außerdem sollte die Messe an diesem Samstag um 10.00 Uhr ihre Pforten öffnen, was bei unserer Ankunft noch nicht der Fall war.
Wir parkten den Wagen am nördlichen Ende des Messegeländes auf einer großen Parkpalette. Bis zur Halle 6, in der die AMIGA ’89 stattfinden sollte, war es nur ein kurzer Fußmarsch. Als wir den Platz vorm Eingang der Halle erreichten, warteten bereits mehrere hundert Gleichgesinnte darauf, dass sich die Tore zum Paradies endlich auftun würden. Geduldig wie wir waren (hüstel) stellten wir uns brav ans Ende der Schlange – eigentlich war es eher eine Menschenmasse – und warteten mit.
Was uns gegenüber vielen anderen Besuchern immerhin einen kleinen Vorteil verschaffte, war die Tatsache, dass wir unsere Eintrittskarten bereits im Vorfeld der Messe gekauft und per Post geschickt bekommen hatten – man beachte den Coupon aus der Anzeige. Auf diese Weise mussten wir zumindest nicht auch noch vorher an der Tageskasse anstehen.
Während wir warteten und sich die Menschenmenge hinter uns minütlich vergrößerte, mischte sich neben der Ungeduld und der gespannten Vorfreude ein weiteres Gefühl in unsere Stimmungslage – die schiere Ungläubigkeit angesichts dessen, was hier gerade passierte. Mittlerweile waren es mehrere tausend Amiga-Fans, die den Platz vor dem Eingang bevölkerten.
Ähnliche Szenen kannten wir bis dahin nur von großen Konzertveranstaltungen wie dem Monsters of Rock oder wenn wir mal zu einem Bundesligaspiel nach Dortmund, Gelsenkirchen oder Bremen fuhren. Aber hier in Köln ging es nicht um Rockmusik oder Fußball, noch nicht einmal um das Hobby Computer im Allgemeinen – all die Leute waren wegen ihrer Begeisterung für einen einzigen, unter vielen am Markt verfügbaren, Heimcomputern angereist.
Only Amiga makes it possible
Wie wir schnell feststellten, hatten längst nicht nur deutsche Amiganerinnen und Amiganer die Reise nach Köln auf sich genommen. Unter den Wartenden konnten wir stattliche Fraktionen aus den Niederlanden, Belgien und Luxemburg ausmachen; hier und da unterhielten sich einzelne Gruppen in einer für uns nicht näher bestimmbaren skandinavischen Sprache. Auch österreichischer Dialekt war zu vernehmen, ebenso waren Amiga-Fans aus Italien, Frankreich und sogar Spanien angereist.
Freilich spielte der Amiga für meine beiden Kumpels und mich eine große Rolle in unserer Freizeitgestaltung, aber innerhalb unseres sozialen Umfelds war die Beschäftigung mit dem Heimcomputer im Jahr 1989 immer noch ein Hobby für Freaks. Bis auf eine Handvoll Gleichgesinnter fand sich niemand, mit dem man sich über Computerthemen hätte austauschen können.
Jetzt standen wir hier, inmitten von tausenden Amiga-Usern aus allen möglichen Ländern Europas und fieberten gemeinsam der Eröffnung „unserer“ Messe entgegen. Egal, wem wir dabei in die Augen blickten, es machte sich sofort ein verständiges Gefühl der Gemeinschaft breit.
In exakt jenem Moment bekam ich nicht nur eine wohlige Gänsehaut, sondern auch eine Ahnung von der wahren Dimension unseres Hobbys.
Sesam, öffne dich!
Endlich war es soweit und die Tore zur Halle 6 taten sich auf. Wir konnten es zwar vor lauter Menschen um uns herum nicht sehen, dafür aber umso deutlicher hören. Von weiter vorn drang lautstarker Jubel zu uns herüber, aber um uns herum bewegte sich noch eine ganze Weile lang rein gar nichts, da half auch kein Schieben und Drängeln.
Nach einiger Zeit kamen Mitarbeiter*innen der Messe oder des Veranstalters auf die gute Idee, denjenigen, die immer noch vor der Halle standen, Messeführer in die Hand zu drücken, um die Wartezeit zu verkürzen und die Gemüter ein wenig zu besänftigen. Auch wir bekamen einen und konnten so wenigstens schon mal einen Blick auf den Hallenplan werfen und schauen, was uns alles erwarten würde.
Zwei Hinweise zum Hallenplan
Die Stände 711, 713 und 715 sowie 800 und 801 wurden zwar im originalen Ausstellerverzeichnis aufgeführt, im Plan selbst aber entweder vergessen, oder die Standverteilung war zu Redaktionsschluss des Messeführers noch nicht abgeschlossen. Ich habe die erwähnten Stände in meinem Plan daher so verzeichnet, dass sie Logik und Aufbau des originalen Plans entsprechen. Platzierung und Größe der Stände können in der Realität natürlich abweichend ausgefallen sein.
Außerdem finden sich in meinem Plan vier Stände ohne Standnummer. Im Originalplan sind dort zwar Standnummern vermerkt, diese haben im Ausstellerverzeichnis jedoch keine Entsprechung. Um kein frustrierendes Suchspiel daraus machen, habe ich in meinem Plan auf die Standnummern verzichtet.
Voll … voller … AMIGA ’89
Das Begleitheft zur Messe war relativ umfangreich, stellte jeden einzelnen Aussteller vor, der es bis Redaktionsschluss ins Heft geschafft hatte und ging ausführlich auf die zu erwartenden Produkte und Neuheiten ein. Dank der Lektüre verging die Zeit tatsächlich schneller und nach jeder gelesenen Seite waren wir dem Eingang ein paar Meter näher gekommen.
Irgendwann, inzwischen dürfte es locker Mittag gewesen sein, waren wir endlich in der Halle. Wir konnten zu diesem Zeitpunkt ja nicht ahnen, wie viel Glück wir hatten!
Die Szenen, die sich angesichts mehrerer tausend Besucher in der knapp 5.000 Quadratmeter „großen“ Messehalle abspielten, lassen sich schwerlich in Worte fassen. Hatten wir noch gehofft, dass sich das Tor zur Halle als Nadelöhr erweisen und sich innen alles schön verteilen würde, wurden wir enttäuscht.
Den Blick leicht nach oben gerichtet, sahen wir die Logos von Commodore und Ariolasoft ein paar Meter unterhalb der Decke schweben. Dass sich direkt darunter die Stände der jeweiligen Firmen befanden, konnten wir in Anbetracht der Menschenmassen um uns herum nur erahnen.
Es blieb uns nichts anderes übrig, als mit dem Strom zu schwimmen; der Schwarm würde uns früher oder später schon an den Commodore-Stand spülen. Dort angelangt, griffen wir blind über die Schultern und Arme der anderen Sardinen hinweg und sicherten uns jeden Prospekt, jeden Aufkleber und jedes Werbegeschenk, dessen wir habhaft werden konnten.
An ein persönliches Gespräch mit der am Stand anwesenden Belegschaft von Commodore war überhaupt nicht zu denken – die war vielmehr damit beschäftigt, sich des nicht enden wollenden Andrangs zu erwehren und aufzupassen, dass die Meute ihnen nicht die Bude abriss.
Am benachbarten Stand vom AMIGA-Magazin sah es nicht anders aus. Die Redaktion bemühte sich nach Kräften, allerlei auf sie einprasselnde Fragen zu beantworten und dabei gegen die allgemeine Geräuschkulisse anzureden. Das gesamte Team dürfte nach den insgesamt drei Messetagen keine Stimme mehr gehabt haben und auch ansonsten fix und fertig gewesen sein.
Ich erinnere mich noch ganz gut daran, dass auch wir irgendwann vom langen Herumstehen und dem Gedrängel in den Besuchermassen ein wenig fertig und müde waren und erst mal eine Verschnaufpause brauchten. Abseits der umlagerten Stände fanden wir in einer Ecke der Halle Platz, um uns auf den Boden zu setzen und an die Wand zu lehnen. Wir gönnten uns eine Tüte Gummibonbons und eine kalte Coca Cola aus dem Bistro der Messehalle und sichteten währenddessen das bisher erbeutete Werbematerial.
Nachdem wir uns gestärkt und ein wenig erholt hatten, waren wir bereit, uns wieder ins Getümmel zu stürzen und die restlichen Stände aufzusuchen – so nahe wir eben herankommen konnten.
Ein absolutes Highlight der Messe stellte ganz ohne Frage der Auftritt von NewTek dar, die zum ersten Mal überhaupt einem europäischen Publikum ihren sagenumwobenen Video Toaster vorstellten. Angesichts des gigantischen Andrangs war es zwar leider so gut wie unmöglich auf dem Stand auch nur einen schüchternen Blick auf den vorgestellten Prototypen zu werfen, jedoch waren die atemberaubenden Resultate der neuen Technik auf einer großen Leinwand zu bewundern. Zwischen vorgefertigten Demonstrationsvideos fanden regelmäßige Live-Vorführungen statt, moderiert natürlich von Laura Longfellow höchstpersönlich, die nebenbei mit viel Geduld, Charme und Gelassenheit Autogrammwünsche erfüllte.
Unweit vom NewTek-Stand hatte die Kupke Computertechnik ihre Zelte aufgeschlagen. Hier nutzte ich die Gunst der Stunde, mit etwas mehr als nur Werbematerial nach Hause zurückzukehren, und spendierte mir und meinem Amiga 500 einen „Golem Sound“ Stereo-Digitizer zum Messepreis von 179,- DM. Damit hatte ich sagenhafte zehn Mark gegenüber dem empfohlenen Verkaufspreis gespart. 😉
Viel Zeit verbrachten wir stöbernd am Stand von Stefan Ossowski und seiner PD-Schatztruhe. Kommerziell entwickelte und vertriebene Software für den Amiga war eine teure Angelegenheit, erst recht für uns als Schüler. Eine echte und obendrein legale Alternative stellten zum Glück unzählige Public-Domain- und Share-Ware-Programme dar, die von begeisterten Hobby-Programmierern auf der ganze Welt geschrieben wurden.
Da es das Internet, so wie wir es heute kennen, damals noch nicht gab, entstanden diverse katalogisierte PD-Softwaresammlungen auf Disketten. Diese wurden gerne von Fachzeitschriften, aber eben auch von spezialisierten Versandunternehmen wie dem von Stefan Ossowski vertrieben und fanden auf diesem Wege weltweite Verbreitung.
Die mit Abstand bekannteste Public-Domain-Sammlung für den Amiga geht auf Fred Fish mit seinen insgesamt weit über tausend Fish Disks zurück. Fred war 1989 längst zur Kultfigur in der Szene avanciert und sein Gesicht war jedem Amiga-User aus unzähligen Artikeln und Interviews bestens geläufig.
Entsprechend groß war natürlich das Hallo, als er persönlich auf der Messe erschien, um nach neuer Software für seine Fish Disks Ausschau zu halten, sich mit Besuchern und anderen Ausstellern auszutauschen und – wie sollte es anders sein – Autogramme zu schreiben.
Fred Fish trug mit viel Arbeit und noch mehr Leidenschaft wesentlich zur Verbreitung von Software für den Amiga und damit letztlich auch zu dessen Erfolg bei. Leider ist er im April 2007 im Alter von nur 54 Jahren viel zu früh verstorben.
Mittlerweile war es schon spät am Nachmittag und wir hatten ja noch die Heimfahrt mit dem Pkw vor uns. Wir beschlossen, uns Richtung Ausgang zu kämpfen, und kamen auf dem Weg noch am Stand von Ariolasoft vorbei. Ich bin mir sehr sicher, dass unsere Portemonnaies diesen Abstecher nicht schadlos überstanden haben, kann mich aber leider an keinen konkreten Spielekauf mehr erinnern.
Anschließend mussten wir uns „nur noch“ durch den Ein- und Ausgangsbereich der Halle 6 zwängen, um endlich wieder Tageslicht und frische Luft begrüßen zu dürfen.
„Begrüßt“ wurden wir zu unserem fassungslosen Erstaunen aber vor allem von schätzungsweise 1.000 Menschen, die immer noch vor der Halle standen und teils seit Stunden auf Einlass warteten. Sicherheitskräfte bemühten sich, den verständlicherweise wütenden Leuten zu erklären, dass sie immer nur nach und nach kleinere Gruppen hereinlassen dürften – und das auch nur, nachdem eine entsprechende Anzahl Besucher die Halle verlassen hatte.
Wären wir auch nur 90 Minuten später losgefahren und auf dem Messegelände in Köln angekommen, hätten wir die erste AMIGA-Messe auf europäischem Boden aller Wahrscheinlichkeit nach um nur wenige Meter verpasst. Und das hätten wir uns vermutlich bis heute nicht verziehen.
Eine Erfolgsgeschichte …
Im Dezember brachte mir der Postbote wie gewohnt das neue AMIGA-Magazin mit einem großen Nachbericht. Insgesamt 35.000 Besucher hatte die AMIGA ’89 in ihren Bann gezogen – alleine am Samstag wollten 14.000 Amiga-Fans in die viel zu kleine Halle. Kein Wunder, dass es zu den geschilderten chaotischen Zuständen kam.
In dem Bericht war auch zu lesen, dass es bereits am Freitag zu ähnlichen Szenen gekommen sein musste und die Polizei sogar zwischenzeitlich damit gedroht haben soll, die ganze Messe schließen zu lassen. Daraufhin hätte der Veranstalter entschieden, das Messe- und Sicherheitspersonal für den Samstag um mehr als das Doppelte aufzustocken – was sich dann ja auch als goldrichtig erwies.
Dabei waren die Veranstalter alles andere als blutige Anfänger. AMI Shows richtete die AmiExpo in den USA bereits seit 1987 regelmäßig in Städten wie New York, Los Angeles oder Chicago aus. Dort sprach man schon von einem großen Erfolg, wenn eine Messe über drei Tage verteilt mehr als 10.000 Besucher anzog.
FAKTEN: AMI SHOWS
Die Wurzeln der AmiExpo gehen auf AMuse New York, eine der ältesten Amiga-Usergroups der USA und deren Chairman Joseph Lowery zurück. AMuse wurde im Oktober 1985 gegründet, und bereits wenige Monate darauf entstand die Idee zur Ausrichtung einer Amiga-Messe.
Im März 1987 kündigte AMuse die Ausrichtung von gleich drei solchen Veranstaltungen an – noch unter dem vorbehaltlichen Namen Amiga Expo. Für die Organisation und Durchführung der Messen suchte man sich einen erfahrenen Partner und wurde in G&T Management und deren Geschäftsführer Alexander Glos fündig.
Am 2. September 1987 gründeten beide Partner zu diesem Zweck die AMI Shows, Inc. mit Sitz in New York, und vom 10. bis 12. Oktober 1987 fand im Sheraton Centre Hotel in New York die erste AmiExpo statt, die rund 60 Aussteller und 8.000 Besucher anzog.
Commodore hat die Veranstaltungen nie offiziell unterstützt und auch den ursprünglich angedachten Namen „Amiga Expo“ nicht genehmigt. Dafür fanden sich unter anderem in Gail Wellington und Dave Haynie namhafte Fürsprecher der AmiExpo in den Reihen Commodores, die dort auch regelmäßig Keynotes hielten.
Wie sich gleich am ersten Tag der AMIGA ’89 herausstellte, hatten die Ausrichter der Messe das Potenzial des Amiga in Europa und in Deutschland schlichtweg brutal unterschätzt.
Alexander Glos (General Partner AmiExpo) nutzte die Gelegenheit, sich in einem offenen Brief im AMIGA-Magazin für die Unannehmlichkeiten zu entschuldigen, die Gründe dafür darzulegen und für die AMIGA ’90 Besserung zu geloben.
„Jetzt wissen wir, wie stark die Amiga-Gemeinschaft ist“ – treffender hätte ich meinen Eindruck nach diesem denkwürdigen 11. November 1989 auch nicht beschreiben können.
Das Team von AMI Shows um Joseph Lowery und Alexander Glos zog seine Lehren aus der AmiExpo-Europapremiere und arbeitete bereits während der AMIGA ’89 fieberhaft an den Planungen für eine größere, bessere AMIGA ’90.
Es sollten in der Tat keine leeren Versprechungen bleiben. Laut dem Amazing Computing Magazine besuchten vom 8. bis 11. November 1990 (erstmals inklusive Fachbesuchertag) über 60.000 Amiga-Begeisterte die Messe, die nun in zwei Messehallen mit insgesamt über 25.000 Quadratmetern und mehr als 150 Ausstellern stattfand.
Wir waren selbstverständlich auch wieder dabei – dieses Mal zu viert – und waren beeindruckt, um wie viel größer und professioneller sich die AMIGA ’90 im Vergleich zum Vorjahr präsentierte. Die Zeit hätte fast nicht ausgereicht, um sich an nur einem Tag das gesamte Angebot in Ruhe anzuschauen.
Besonders beeindruckend war die „Commodore Wand“, die der Hersteller des Amiga um einen Teil seines Standes aufgezogen hatte. Bereits nach wenigen Stunden des ersten öffentlichen Besuchertages war diese von oben bis unten voll mit „Graffiti“ und handschriftlichen Nachrichten sowie Grüßen von Demo- und Crackergruppen aus ganz Europa.
Das Amazing Computing Magazine befand in seinem Bericht zur AMIGA ’90, dass das Faszinierende daran nicht die Tatsache sei, dass die Leute an die Wand geschrieben und gemalt hätten, sondern dass Commodore Deutschland die Wand genau dafür zur Verfügung gestellt habe. Eine Tradition übrigens, die auf der CeBIT im März darauf ihre Fortsetzung fand und unter Commodore-Fans bis heute einen Kultstatus innehat.
Mein ganz persönliches Highlight der AMIGA ’90 war jedoch die Begegnung mit Andrew Braybrook, der unter anderem mit Uridium sowie Paradroid zwei meiner absoluten Lieblingsspiele entwickelt hat. Vor allem letzteres gehört bis heute in meine Liste der besten und einflussreichsten Spiele aller Zeiten. Andrew war der „Stargast“ am Stand von United Software (vormals Ariolasoft), dem deutschen Distributor des britischen Softwarehauses Hewson Consultants, das Andrews Spiele in dessen Heimatland vertrieb.
Selbstverständlich ließ ich es mir nicht nehmen, Andrew um ein Autogramm auf der Rückseite meiner Eintrittskarte zu bitten, was er dann auch sehr gerne und ohne zu zögern tat.
Unnötig zu erwähnen, dass ich diese Eintrittskarte bis heute in Ehren halte – sie hängt an der Magnetwand direkt über meinem Schreibtisch.
Ihren Höhepunkt fand die „Amiga-Mania“ in Europa allerdings im Jahr darauf. Commodore konnte gegen Ende 1991 alleine in Deutschland auf über 1 Mio. verkaufte Amiga 500 zurückblicken und die AMIGA ’91, die dieses Mal in vier Kölner Messehallen abgehalten wurde, zog sage und schreibe mehr als 75.000 Besucher an.
Das große Thema auf der Messe war das CDTV, das zwar bereits auf der CeBIT im März vorgestellt wurde, dessen Markteinführung aber alles andere als gelungen war. Commodores Fokus auf der AMIGA ’91 lag demnach auf der mittlerweile verfügbaren Software für die Multimedia-Konsole. Auch der ebenfalls 1991 eingeführte Amiga 500 Plus wurde beworben.
… mit einem traurigen Ende
Wie wir längst wissen, waren sowohl das CDTV als auch der Amiga 500 Plus ein Flop am Markt, und auch der 1992 vorgestellte Amiga 600 war alles andere als der große Wurf für Commodore. Die MS-DOS kompatiblen PCs holten sich gleichzeitig immer mehr Marktanteile in der Domäne der Heimcomputer, und im Sommer des selben Jahres brachte Nintendo das SNES in Deutschland auf den Markt.
Keine guten Vorzeichen für die Neuauflage der Amiga-Messe in Köln. Zu allem Überfluss „torpedierte“ Commodore Deutschland die Veranstalter auch noch, indem man Anfang 1992 ankündigte, unter dem Namen World of Commodore & Amiga in Frankfurt vom 26. bis 29. November eine eigene Messe zu veranstalten – nur wenige Wochen nach der Kölner Veranstaltung!
Die genannten Umstände führten letztlich dazu, dass es im Herbst 1992 dann auch keine eigenständige AMIGA ’92 mehr gab, sondern eine Veranstaltung mit der sperrigen Bezeichnung Computer-Consumer-Messe für Amiga, PC und Atari. Alleine die neue Namensgebung kündigte also bereits an, wohin die Reise für den Amiga ging.
Nachdem ich zusammen mit meinen Kumpels drei Jahre in Folge im Spätherbst nach Köln gepilgert war, blieb ich in diesem Jahr lieber daheim vor meinem Amiga und zockte ein paar Spiele.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Der Amiga 1200 kam Ende 1992 zu spät auf den Markt, um bereits verlorene Marktanteile gegenüber dem PC in ausreichendem Maße wettzumachen. Gleiches galt für das im Herbst 1993 vorgestellte CD³², mit dem Commodore auf den Konkurrenzdruck durch Nintendo und SEGA antworten wollte, aber dabei ebenfalls viel zu spät kam. Zu diesem Zeitpunkt fehlten der einst so stolzen Firma zudem längst die finanziellen Mittel, um die technisch alles andere als schlechte Konsole angemessen zu vermarkten und sich die Unterstützung namhafter Entwickler und Publisher zu sichern.
Die Marktentwicklung und die damit einhergehende Talfahrt Commodores wurde dann auch im November 1993 in Köln offenbar. Die Messe firmierte nunmehr unter dem allgemein gehaltenen Namen Computer ’93. Eher beiläufig und buchstäblich nur am Rande wies die Eintrittskarte darauf hin, dass auch die World of Commodore & AMIGA ’93 noch ein Teil der Veranstaltung sei.
Der Stellenwert des Amiga auf der Messe entsprach dann auch in etwa der abgebildeten Gewichtung auf der Eintrittskarte. Für eingefleischte Amiga-Fans war es ein echtes Trauerspiel. Die Messe führte einem deutlich vor Augen, dass man als Amiga-Besitzer mittlerweile einer Minderheit angehörte, die ein totes Pferd ritt. Das mag vielleicht nicht jede*r gerne hören, aber ganz genau so fühlte es sich zumindest für mich an.
An dieser Stelle muss ich jedoch neidlos anerkennend erwähnen, dass mein Freund Achim der mit Abstand größte Amiga-Enthusiast von uns allen war. Nicht nur hatte er seinen Amiga 500 durch einen nagelneuen Amiga 1200 mit Festplatte ersetzt, sondern investierte auf eben jener Messe eine beträchtliche Stange Geld in eine Turbokarte inklusive RAM-Erweiterung, die der neuen Freundin noch einmal ordentlich Feuer unterm Hintern machte. Und während ich mich auf der Messe mit Ausgaben sehr zurückhielt, weil ich bereits auf einen PC sparte, den ich mir im Frühjahr 1994 dann auch kaufte, hielt Achim noch bis spät in die Neunzigerjahre hinein seinem A1200 die Treue. Chapeau, Achim!
Schlussbemerkungen
Dieser Artikel hat eine wahrhaft lange und beschwerliche Reise hinter sich. Eigentlich hätte es mein erster Artikel für VSG sein und bereits 2014 erscheinen sollen. André Eymann bat mich vor etwa vier Jahren, einen mit persönlichen Eindrücken angereicherten Artikel über die Amiga-Messe(n) in Köln zu verfassen. Ich machte mich sofort mit Begeisterung ans Werk, musste aber schon bald feststellen, dass meine lückenhaften Erinnerungen einfach zu wenig hergaben, um den Artikel in der anvisierten Zeit mit genug Leben zu füllen.
Infolgedessen entschloss ich mich, das Thema abzuändern und den Artikel entsprechend umzuschreiben sowie zu ergänzen. Im Mai 2014 wurde er unter dem Titel Faszination AMIGA hier auf VSG veröffentlicht.
Die Idee eines Artikels über die AMIGA ’89 ließ mich jedoch nie wirklich los. In den folgenden Jahren konnte ich meine Erinnerungen durch den Austausch mit meinen Freunden, die damals dabei waren, etwas auffrischen. Ebenfalls nutzte ich die Gelegenheit, mich ohne Zeitdruck an eine intensivere Recherche im Netz und in alten Fachzeitschriften wie dem AMIGA-Magazin zu machen.
Es war mir von Anfang an eine echte Herzensangelegenheit, diesen Artikel fertig zu schreiben und zu veröffentlichen – nicht zuletzt deshalb, weil sich so gut wie keine persönlich gefärbten Berichte über die AMIGA-Messen in Köln finden lassen.
Eine der wenigen Ausnahmen bildet dieser Artikel von Oliver Kilb aus dem Jahr 2015. Oliver beschreibt dort sehr schön und greifbar, wie sich die Stimmungslage auf den Messen im Laufe der Jahre veränderte. Außerdem interviewte er damals vor Ort einige Branchengrößen wie Boris Schneider oder Frank Matzke. Ein wirklich lesenswerter Artikel – etwaige Parallelen nicht ausgeschlossen. 😉
Wer der französischen Sprache mächtig ist oder sich mit halbgaren Google-Übersetzungen zufrieden gibt, wird ebenfalls bei den Kolleg*innen von Obligement fündig. Stellvertretend hier die Links zu den Messeberichten der Jahre 1989, 1990 und 1991.
Eventuell findet sich unter der Leserschaft ja auch die eine oder andere Person, die ebenfalls auf einer oder sogar allen AMIGA-Messen in Köln anwesend war und Lust hat, eine Anekdote oder ein besonderes Erlebnis von damals im Rahmen eines Kommentars mit uns zu teilen. Das würde mich in jedem Fall wahnsinnig freuen, denn dann war die lange Reise nicht umsonst.
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