Lange Jahre gab es für mich keinen Grund, YouTube zu besuchen – bis zu dem Tag, als YouTube und ich einen dieser Magic Moments hatten, die alles verändern. Es war ein Klick auf irgendeinen einigermaßen interessant klingenden Link irgendwo im Netz, der mich hinüber auf die Videoplattform führte. Weil ich gerade Zeit hatte, stöberte ich ein bisschen durch YouTubes Videokategorien. Einfach mal treiben lassen und abchecken, was es da so zu sehen gibt auf dieser Plattform, die mich nie interessiert hatte.
Ich scrollte durch das Angebot und hielt plötzlich inne, als mein Blick bei einem ziemlich katastrophalen Video-Vorschaubild hängen blieb, das sich allein durch seine katastrophenmäßige Schlechtigkeit vom ganzen Rest der überwiegend auf Hochglanz polierten Clips abhob. Das Bild zeigte eine schwarze, eine blaue und eine grüne Fläche, dazu ein verpixeltes, pinkes Etwas. Und das war’s eigentlich auch schon. Furchtbar hässlich.
Trotzdem – irgendwie kam mir diese Fürchterlichkeit schrecklich bekannt vor. Ich wagte einen Klick und das Ding entpuppte sich als ein Gameplay-Video zum Atari-2600-Klassiker Moon Patrol, das ich als Kind selbst gespielt hatte. Ich war begeistert. So etwas gibt es also auf YouTube?! #MagicMoment, Baby!
Im Retro Flash
Ein paar Klicks später stieß ich auf den Kanal „World of Longplays“, der voll war mit Videos wie diesem. Es kam mir so vor, als hätte ich einen seltenen Schatz gefunden, der jahrelang vor meinen Augen lag und den ich erst jetzt – mit einer wunderbaren Mischung aus Faszination und Aufregung – bergen durfte.
Daraufhin nahm ich mir zum ersten Mal bewusst ein paar Stündchen Zeit, um diesen fremden Videokosmos genauer zu erforschen. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass in der losen Beziehungskiste zwischen YouTube und mir so viel Potenzial für eine echte Love Story stecken würde.
Ich durchforstete also die Plattform nach alten Games, die ich früher mal gespielt hatte: Zak McKracken, Maniac Mansion, Doom, Lemmings… Bei den großen Klassikern war es natürlich ein Leichtes, Videos zu finden. Einfach Titel in die Suche eingeben und fertig.
Von vielen anderen Games jedoch, waren mir die Titel völlig entfallen. Ich hatte nur noch vage Bilder im Kopf: Zum Beispiel so einen coolen Typ im Kampfanzug, der sich in einem schicken Sidescroller durch eine SciFi-Welt ballerte (später stellte sich heraus: es war Turrican). Oder ein gruseliges Rollenspiel, das in einer alten Burg angesiedelt war und in dem eine vollbusige Brünette eine nicht unwesentliche Rolle spielte (na klar: Elvira – Mistress of the Dark). Auch von einer metallenen Arena schwirrte mir ein Bild im Kopf herum, und von zwei Teams, die dort einem Ball hinterher jagten und sich ziemlich brutale Blutgrätschen verpassten (Speedball – ich hab’s geliebt). Hach! War das ein Träumchen, so viele alte Games wieder zu entdecken. Ich war total im Retro Flash – stundenlang.
Von allen Spielen, an die ich mich dank YouTube wieder erinnern konnte, packte ich jeweils ein Video in eine Playlist, die ich „Classic Games aus meiner Jugend“ nannte. Die gibt’s immer noch. Klickt euch gerne mal rein.
Let’s Play!
Im Laufe der Zeit konnte ich so Schritt für Schritt meine eigene kleine Videospiel-Historie in Grundzügen rekonstruieren. Viele alte Erinnerungen an fantastische Spielwelten und mutige Helden schwappten dadurch langsam zurück in meine aktiven Hirnregionen – und mit ihnen noch jede Menge weiterer Erinnerungen: an ehemalige Freunde, mit denen ich mal versucht hatte, ein eigenes Computerspiel zu entwickeln; daran, wie mein Kinderzimmer aussah (dieser hölzerne Computertisch!); an die Melodien, die eine ganze Generation geprägt haben (die Titelmelodie zu Monkey Island OMG!) und und und. Großartig!
Heute ist YouTube eine der wichtigsten Online-Plattformen für mich. Ich bin täglich drauf und schaue überwiegend Let’s Plays, diese kommentierten Gameplay-Videos, die schon so manchen YouTuber berühmt gemacht haben.
Let’s Plays sind mittlerweile sogar eine Art Spielersatz für mich geworden: anstatt mich hinzusetzen, die Konsole anzuschmeißen und mehrere Stunden ein Game selbst zu zocken, begleite ich als Zuschauer einen anderen Spieler dabei, wie er die Spielwelten für sich und mich – für uns! – erkundet. Das alles habe ich nahtlos in meinen Alltag integriert: Ich stelle einfach das iPad auf und lasse das Video laufen, während ich mich morgens im Bad frisch mache, mittags koche oder abends die Zähne putze. Für mich ist das die perfekte Work-Life-Game-Balance, mit der ich alle meine sozialen Verpflichtungen und persönlichen Leidenschaften ziemlich gut unter einen Hut bekomme.
YouTube ist jetzt meine Spielekonsole. Zwanglos wie ein Casual Game schmeiße ich sie an, wann immer mir danach ist. Ich muss mir für’s Zocken nicht mehr extra Spielzeit einräumen und auch keine Kompromisse mehr eingehen, wenn der Fernseher, an dem die Konsolen hängen, gerade belegt ist.
Was ich auch gut finde: Let’s Plays erlauben mir, Spiele wie eine TV-Serie zu erleben. Ich bestimme, wie viele Folgen am Stück ich mir ansehe und ob ich mal kurz vorspule, wenn mich eine Quest gerade langweilt. Eine Art „Binge Let’s Play Watching“ – oder „passives Binge Gaming“, wenn man so will.
Für mich ist YouTube dank seiner vielen Let’s Plays mein perfekter Spielersatz geworden. Im Kern jedoch hat YouTube einen noch viel gewaltigeren Stellenwert in meinem Leben eingenommen: Aufgrund der vielen Classic Games, die dort als Videos zu finden sind, wie North & South, Elite, Barbarian oder It Came From The Desert, ist YouTube für mich eine riesige Erinnerungsmaschine, die mir kleine Zeitreisen im Kopf ermöglicht: Zeitreisen zurück in die Vergangenheit, in der ich als kleiner Junge vor meinem Atari 2600 oder C64 saß und immer, wann ich es wollte, ein Held sein durfte.
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