Man könnte die Frage stellen, ob ein 352 Seiten starkes und 1,6 Kilogramm schweres Buch noch in unsere Zeit passt. Ist es nicht ein Anachronismus, eine Publikation dieses Umfangs auf den Markt zu bringen, wo doch alle nur noch auf ihre Smartphones starren und kaum einer mehr Gedrucktes zu schätzen weiß?
Die Antwort darauf wird sich in dieser Review finden. Nebenbei gesagt noch einige weitere Antworten auf Fragen – vor allem zu Atari und der Videospielgeschichte. Denn bei „Atari: Kunst und Design der Videospiele“ handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Coffee Table Book.
Vorab sei erwähnt, dass es sich bei der deutschen Fassung um eine erweiterte Ausgabe von Tim Lapetinos „Art of Atari“ aus dem Jahr 2016 handelt. Stephan Freundorfer und Winnie Forster haben das Werk für den deutschsprachigen Markt aufbereitet und ergänzt.
Science, Fiction und Wirklichkeit
Wer 2018 im Kino war und Steven Spielbergs „Ready Player One“ gesehen hat, begegnet im Vorwort einem möglicherweise bekannten Namen. Denn die Einführung hat kein geringerer als Ernest Cline geschrieben. Cline hat den Roman verfasst, den Spielberg verfilmt hat, und war auch am Drehbuch beteiligt. Die Sehnsucht und Faszination der 1980er Jahre sind die perfekte Grundlage für die Welt im Film und auch das Buch, das hier besprochen wird. Denn nach eigener Aussage waren die Spiele von Atari eine wesentliche Inspiration für Clines Roman.
Schon auf den ersten Seiten deutet sich an, warum die Illustrationen von einst auch heute noch relevant sind. Die Spiele von damals boten uns die Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen und Fantasiewelten in unseren Köpfen entstehen zu lassen. Genau wie es Videospiele auch heute noch tun.
Wie aber funktionierte das in der Pionierzeit der Videospiele? Wie wirkten die Verpackungsbilder, Artworks und Spielgrafiken zusammen? Wie entstand die Magie? Und wer hat das möglich gemacht? Das sind die Fragen, denen sich „Atari: Kunst und Design der Videospiele“ widmet.
Einen Schwerpunkt legt das Buch auf die Menschen dahinter. Wir können deshalb nicht nur außergewöhnliche und seltene Abbildungen bestaunen, sondern tauchen ab in die Zeit und nehmen direkt teil an den alltäglichen Entscheidungen, Verwerfungen, Abweichungen und den Erfolgen der Macher von damals. Tim Lapetino widmet sein Buch ganz bewusst den Pionieren und Künstlern von Atari, möchte ihre Werke erhalten und an sie erinnern.
Versunken, aber nie verloren
Nach bereits kurzer Zeit hat mich das Buch gefesselt. Jede Seite, im Durchmesser ungefähr so groß wie eine Schallplatte, wirkt mit Vollbildern oder Text auf mich ein. Das aufgeräumte Layout und der klar formulierte Inhalt lassen mich nie im Stich. So kann ich mich voll und ganz in die Obhut der Kunst von Atari geben.
Der Detailreichtum an Fakten, Grafiken und Fotos wirkt unerschöpflich. Ich bin zwar selbst ein Kind der „Generation Atari“, habe aber viele Details noch nicht gewusst. Durch die großformatigen Fotos von damals wird mir klar, wie wichtig ein Buch dieser Art auch heute noch ist. Man ist praktisch dabei, wenn sich George Opperman (Art Director bei Atari) mit seinen Kollegen über die Entwürfe beugt, um den besten auszusuchen.
Dabei begegnen wir auch gewandelten Berufsbildern, wie dem des Grafikers oder Industriedesigners. Hautnah erlebt man die Denkprozesse und lernt, wie viele Veränderungen unsere Unterhaltungsbranche durchlaufen hat.
Abweichend vom Original bietet die deutsche Ausgabe übersichtliche Tabellen (Beispiel: Atari-Automaten 1972-2000 oder Atarisoft 1983-1984), was für eine wunderbare Transparenz sorgt und das Buch gleichzeitig zu einer Referenz aufwertet. Ich war erstaunt, wie viele Automatenspiele Atari im Laufe der Zeit entwickelt hatte. Von Titeln wie I, Robot oder Indiana Jones & the Temple of Doom habe ich bisher nichts gewusst.
Kunst im Profil
Das Highlight des Buches sind für mich die Künstlerprofile. Hier wird werden die Menschen hinter den Spielen nicht nur erwähnt, sondern wir bekommen die Möglichkeit, sie praktisch kennenzulernen. Herkunft, Motivation, Stationen und Prinzipien – alle Aspekte des Künstlerschaffens werden einbezogen. So erfahren wir beispielsweise, dass Steve Jobs persönlich Cliff Spohn (Air-Sea Battle oder Breakout) mit der Bebilderung der frühen Apple-Handbücher beauftragt hatte, weil er so begeistert von der Arbeit des MAD-Fans aus Oregon war.
Immer wieder stellt das Buch die fantasievollen Titelbilder den reduzierten Bildschirmgrafiken gegenüber und tanzt damit auf dem Drahtseil der Imagination. Dabei wird klar, welch enorme Herausforderungen an die Designer gestellt wurden, reale Konzepte mit den technisch stark begrenzten Mitteln ihrer Zeit umzusetzen.
Auch spannend: die weiblichen Künstler bezeugen damals eine frauenfreundliche Arbeitswelt. „Nicht das Geschlecht spielt eine Rolle, sondern das Talent“, sagte die aus Illinois stammende Susan Jaekel ihrerzeit. Susan hatte die Illustrationen für das legendäre Adventure von Warren Robinett gestaltet, aber auch Circus Atari oder Hunt & Score bebildert.
Extra-Life
Mehrere Kapitel des ursprünglichen Buches wurden in der deutschen Fassung teils erheblich erweitert. Dazu gehört der Abschnitt „Elektronisches Spieldesign“. Ausschließlich in der deutschen Ausgabe: der Exkurs „Die Lucas-Connection“, welcher die Kooperation zwischen Atari und ILM, aus der unvergessene Klassiker wie Ballblazer oder Rescue on Fractalus hervorgegangen sind, betrachtet. Oder das interessante Kapitel „Computerspiele“, das gerade hierzulande bei den Atari-Heimcomputerbesitzern auf ein großes Interesse stoßen dürfte.
Als abschließenden Bonus dürfen wir uns dank Stephan Freundorfer und Winnie Forster über die schrägen „Sofabilder“ mit Franz Beckenbauer und Co. freuen, die durch Klaus Ollmann, mit seiner Atari Deutschland-Niederlassung in Hamburg, beauftragt worden waren.
Es war nicht zu erwarten, aber natürlich reichte nicht nur ein Abend, um „Atari: Kunst und Design der Videospiele“ vollends zu genießen. Man sollte sich Zeit nehmen für diese Reise in die Vergangenheit. Berauscht von den faszinierenden Illustrationen, Skizzen und Fakten ist mir nun klar geworden, dass die Antwort eindeutig „Ja“ lautet. Das Buch passt in unsere Zeit – mehr noch: es ist notwendiger denn je, die Kunst der Video- und Computerspiele, wie in diesem Buch zelebriert, eben nicht am Smartphone zu konsumieren.
„Atari: Kunst und Design der Videospiele“ ist ein großartiges Artbook und schlägt mühelos die Brücke zwischen einer umwerfenden Optik und dem Anspruch an detaillierten und dennoch leicht lesbaren Informationen. Hier wird klar, wie relevant ein Kunstbuch sein kann, wenn es sich eben nicht auf einen Bilderkatalog reduziert.
Galerie
Verweise
- Bezugsquelle: Atari: Kunst und Design der Videospiele (Gameplan)
- Interview mit Winnie Forster über die Entstehung von “Atari: Kunst und Design der Videospiele”
- Software-Shopping und Arcade-Thrills: Meine englischen Sommerferien von Winnie Forster
- Geschichte spielend erzählt – Interview mit Winnie Forster
- Winnie Forster bei Wikipedia
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