Als Spectrum-User in einer bayerischen Kleinstadt und umgeben von C64-Kameraden, mutierte man Anfang der 1980er Jahre zwangsläufig zum UK-Fan. London und die Südküste Englands wurden die ersten Ziele, die ich in den Ferien ohne meine Eltern besuchte; zwischen 1984 und 1988 reiste ich als Schüler dreimal in die Heimat meines Sinclair-Computers und erlebte dort die frühe Spiele-Industrie im Aufwind.
1981, kurz vor dem Durchbruch der 8-Bit-Heimcomputer, war ich mit meinen Eltern erstmals im Vereinigten Königreich. 12-jährig quengelte ich solange, bis ich nach obligatorischem Tower-Rundgang auch in den makaberen „London Dungeon“ durfte (einem Gruselkabinett für Geschichtsfreaks) und mein Vater auf dem Weg nach Schottland einen Schlenker über Oxford machte, damit der Sohn dort Tolkiens Grab besuchen und anschließend in der Uni-Bibliothek Narnia-Landkarten einsehen konnte.
Als Kind war ich verrückt nach Fantasy und SciFi auf Papier: In Edinburgh erwarb ich 10 Kilo Bücher, darunter Peter Nicholls fabelhafte „Encyclopedia of Science Fiction“ und Peter Hainings „Terror! Horror Illustrations from the Pulp Magazines“ – zwei medienwissenschaftliche Werke, die mir Jahrzehnte später den Gameplan-Weg wiesen.
Spiele-News von der Insel
Die elternlosen Reisen als Schüler, mit Jugendgruppe, dann Klassenkamerad, schließlich Freundin, standen bereits unter einem anderen Stern. Ab 1983 war ich stolzer Heimcomputer-Besitzer und hing Tag und Nacht über einem Sinclair ZX Spectrum – es war die Zeit, als Mitschüler zu Programmierern, Software-Dealern und Jungunternehmern wurden. Als Spectrum-Besitzer am bayerischen Gymnasium war ich ziemlich isoliert unter lauter Commodore-Usern. Weil keiner den gleichen Rechner hatte, konnte ich mich nicht darauf verlassen, in der großen Pause frische „Sicherheitskopien“ zu erhalten, sondern musste mir Software, Infos und Support auf eigene Faust besorgen.
Am Bahnhof entdeckte ich das britische „Your Computer“-Magazin (YC), das auf 100, 200, bald 300 Seiten auch Spiele-Artikel brachte, dazu eine Masse Anzeigen, schreiend bunt zwischen den Schwarz-auf-Weiß-Listings, die Space Invasion, Defenda oder Munchman in 1 K versprachen. Während es in Deutschland nur eine Handvoll Spiel-Labels (meist Importeure) gab, warfen in England ungezählte Start-Ups wie Artic, Alligata und Elite, Bug Byte, Bubble Bus, Softek, Salamander, Quicksilva, Martech, Microdeal, Micromania und Micromega jeden Monat 100 neue Spiele auf den Markt!
Noch besser als YC gefiel mir „Computer & Video Games“ (C&VG): Das erste reine Game-Heft Englands war nicht in meiner Kleinstadt, sondern nur in der „Internationalen Presse“ am Münchner Hauptbahnhof erhältlich. 1984 unterschrieben meine Eltern für mich ein Import-Abo für die Newsfield-Publikation „Crash“, einem Single-Format-Heft, von der ersten bis zur letzten Seite Speccy-Spielen gewidmet!
Zu fremden Ufern
Weil Freunde mit Software nicht weiterhelfen konnten und auch der einzige „Sinclair Shop“ in München bald einging, vollzogen sich meine Ferienreisen über den Kanal wie Business-Trips, anhand englischer Fachliteratur minutiös geplant und nach genauen Budget- und Zeittabellen durchgezogen. Die Wunschzettel von zwei, drei Brieffreunden, ZX-Leidgenossen, die wie ich in Deutschland auf dem Trockenen saßen, hatte ich dabei, ebenso Lagepläne der wichtigsten Geschäfte und aller größeren Spielhallen.
In den Straßen von London
„Shekhana Computer Services“ in der Oxford Street war als Software-Händler mit dem aktuellsten Angebot und den besten Preisen (sechs, sieben Pfund, statt der üblichen 9,99) identifiziert – dorthin gingen meine ersten London-Schritte. Das „Marbles Shopping Center“ entpuppte sich als Bazar-ähnlicher Großraum im oberen Stockwerk eines Altbaus, „Shekhana“ war eine Nische zwischen zig anderen Elektronik-Händlern. Die wichtigste Software – Steve Turners Dragontorc of Avalon, Doomdark’s Revenge, Julian Gollops Chaos – hatte ich nach zehn Minuten in der Tasche und setzte meinen Weg durch die City fort, in der Computer- und Software-Läden damals boomten.
Der englische Markt war Mitte der 80er-Jahre ein Paradies für Computerspieler mit einer verwirrenden Menge verschiedener Heimcomputer: Neben den Ataris, TIs und Commodores, die es auch bei uns gab, wurden exotische Rechner von Memotech (MTX), Tatung (Einstein), Camputers (Lynx), CGL (M5), Jupiter (Ace), Acorn, Dragon und Oric verkauft; im WH Smith stand ich 1986 staunend vor einem Sinclair-QL-Setup, das Neueste vom Neuen, ganz in schwarz – aber leider ohne Spiele. Auf dem Weg zur PCW (einer frühen Computermesse, zu der auch Kids Zutritt hatten) überrollte mich beinahe ein weißes Sinclair-C5-Elektroauto, das nahe Olympia summend um die Ecke bog.
Kurz: In England brach die Computerzeit ein paar Jahre früher an als in Deutschland. Und viel kreativer und euphorischer.
An jedem Kiosk gab es ein Dutzend verschiedener Computer- und Spiele-Hefte, für jede Plattform und jeden Geschmack, z. B. den kurzlebigen „micro Adventurer“ exklusiv für Abenteuer- und Rollenspiele, dazu wegweisende Periodika wie „White Dwarf“, das Hausmagazin des RPG-Herstellers Games Workshop, die „Fighting Fantasy“-Taschenbücher der Workshop-Gründer Ian Livingstone und Steve Jackson und dünne „2000AD“-Comichefte, mit Judge Dredd, Strontium Dog oder Slaine auf dem Cover. Egal ob in der Tottenham Court Road oder einer schmalen Gasse wie der Denmark Street – in jedem Winkel von London fand man Spiele, Comics und Bücher, Fantasy und Science Fiction, die es zuhause noch nicht gab.
Arcade-Paradies am Strand
Während der Reisen wohnte ich nicht in London, sondern in Städten an der Südküste und pendelte zweimal in der Woche in die Hauptstadt. Der Rest der Zeit ließ sich in Bournemouth oder Brighton gut herumbringen, denn auch hier gab’s Computer- und Buchgeschäfte (jeder englische Supermarkt war in Bezug auf Medien überreich bestückt!), zwar keinen Forbidden Planet oder Games Workshop, dafür aber bessere Arcade-Hallen als in London.
Abends schlenderte ich mit dem 10p-Kleingeld, das von meinen Pfundscheinen noch übrig war, in der Tasche, vom Seebad-Wohnviertel an den Strand hinunter, wo mächtige Pier-Stege in den Kanal wachsen, nachts von Lichtern und Feuerwerk beleuchtet. In England war die Spielhalle für die ganze Familie gemacht und geöffnet, ein fröhlicher und lichter Platz, an dem sich Kinder, Teens und Alte gleichermaßen tummeln. Kein Vergleich zu den schmutzigen und düsteren, Sexkino-nahen Kaschemmen im Münchner Bahnhofsviertel, in die man als Schüler weder reinwollte noch -durfte.
Nachdem ich in London britische 48K-Spiele auf Kassette erwarb, fand ich in den Ferienorten der Kanalküste die besten Arcade-Games aus Japan und den USA, meilenweit entfernt von allem, was auf Atari-Konsolen oder Heimcomputern möglich war. Für 20p nahm man auf dem Ledersitz des hydraulischen Hang On-Motorrads Platz oder im X-WingCockpit von Ataris Vektor-Wunder Star Wars. Das heute wohl seltenste aller amerikanischen Arcade-Spiele, das Laser-Disc-Rennen Star Rider von Williams, stand in der Saison 1985 gleich mehrfach und in Full-Scale-Austattung in englischen Seebädern und seitdem nie wieder.
Mein Kumpel und ich hatten Glück. Die Münzautomatik war defekt, sodass wir uns ein paar Sommertage umsonst mit dem galaktischen Rennspiel vergnügen konnten. Ein anderes Spiel, dessen Existenz später selbst von Fachleuten bestritten wurde (bis das Internet es wieder ins Spielerbewustsein zurückholte) war Gaplus, der völlig verrückte und unspielbar schwere Namco-Nachfolger zu Galaga. 10p für ein paar Sekunden furiosen Spielspaß.
UK revisited
1988 machte ich Abitur und war nach dem Zivildienst ab 1990 als Powerplay-Reporter regelmäßig beruflich in UK unterwegs. Ich traf Jez San, Andrew Braybrook und andere Helden meiner Jugend. Dann wandten sich mein Interesse und mein Job Kalifornien und Tokio zu. Nach England kehrte ich im 21. Jahrhundert nur einmal zurück, um, at last, auch das Studio der Rare-Brüdern Tim und Chris Stamper zu besuchen.
Vergessen habe ich den Sound der britischen 80er- und 8-Bit-Jahre nie: Wenn ich heute in den Meersalz-verkrusteten Seiten der „Popular Computing Weekly“ blättere, höre ich noch immer das Dröhnen der Hang On-Motoren, das Klimpern der Münzen, die Baller-, Mampf- und Explosionsgeräusche von Moon Cresta und Lady Bug. Und über allem die majestätische Stimme des Dragon’s Lair-Ansagers, der Dirk the Daring ins Zeichentrickschloss lädt und auch Klein-Winnie den Weg in die interaktive Zukunft wies: „Lead on, adventurer. Your quest awaits!“
Buchtipps aus Winnies Verlag Gameplan.de
Spielkonsolen und Heimcomputer 1972 bis 2015
„Diorama vor dem geistigen Auge.“
– gamona.de
„Ein gedrucktes Juwel“
– c’t
„Pflichtlektüre“
– PlayZone
Die stark erweiterte und aktualisierte Neuauflage des beliebten Fachbuchs zu Videospiel-Hardware zeigt alle Konsolen, Handhelds und Computer aus Amerika, Japan und Europa, präsentiert klassische Software in authentischen Pixeln, nennt Hintergründe und historische Facts. 500 Traumgeräte, Millionenseller vom Commodore 64 zum iPhone, Entgleisungen und exotische Varianten präsentiert Spielkonsolen und Heimcomputer in durchgehend farbigen Kapiteln und ausführlichen Anhängen – für Alle, die ihr Leben lang spielen, sammeln und wissen wollen.
Vierte, erweiterte Auflage: 264 Seiten mit 750 Abbildungen, ausführlichen Technik-, Spiele- und Geräte-Indices, fadengebunden, komplett in Farbe.
ISBN: 978-3-00-048142-0
Die Geschichte des Computer-Pioniers Commodore – erzählt von den Insidern, die C64, Amiga und andere Hardware-Meilensteine schufen: Volkscomputer ist eine abenteuerliche Reise in die Zeit, als die Großen der Branche ihre ersten Schritte wagen und mit Commodore-Gründer Jack Tramiel und seinen Ingenieuren die Waffen kreuzen. Partner und Gegner sind der junge Bill Gates, der Ende der 70er-Jahre MS BASIC vermarktet, Apple-Visionär Steve Jobs, Ataris Nolan Bushnell und andere Macher, auf dem Weg ins 21. Jahrhundert.
Von Brian Bagnall. Verbesserte und erweiterte dt. Auflage von Boris Kretzinger und Winnie Forster: 368 Seiten mit technischen Tabellen, ausführlichen Indices und Farbfoto-Gallerie der Commodore-Geräte von 1965 bis 1994.
ISBN: 978-3-00-023848-2
Lexikon der Computer- und Video-Spielmacher
Spielmacher: Das Lexikon der Video- und Computerspielprogrammierer, Designer und Produzenten, Teams und Firmen.
Nur drei Jahrzehnte benötigten Pong & Co. um sich neben Literatur, Film und Musik als Massenmedium und Kunstform zu etablieren.
Hinter dem Siegeszug der interaktiven Pixel stehen begabte Techniker und Kreative, innovative Studios und visionäre Firmen. Spielmacher stellt die Menschen, Teams und Unternehmen hinter 30 Jahren Computer- und Videospielen geordnet und ausführlich vor.
Erste Auflage: 400 Seiten, mit Tabellen, ausführlichen Indices, über 100 Fotos und Abbildungen.
ISBN: 978-3-00-021584-1
Joysticks: Eine illustrierte Geschichte der Game-Controller 1972 – 2004
Der Joystick ist die Schnittstelle zwischen Mensch und Bildschirm-Action, zwischen Realität und Phantasie.
Seit 30 Jahren drehen und drücken ihn Millionen Spielerhände.
Joysticks, das zweite Werk aus dem Hause Gameplan, ist das Buch zum schönsten Zubehör der Welt, Lexikon und illustrierte Geschichte der Eingabegeräte.
Erste Auflage: Fadengebunden, 144 Seiten komplett in Farbe. Mit ausführlichen Anhängen und Geräte-Verzeichnis.
ISBN: 3-00-012183-8
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